Publikumsrezension, eine Mimesis

von Steffen Becker

Stuttgart, 26. Mai 2018. Wer Handkes "Publikumsbeschimpfung" noch nicht kannte, wird bei der Premiere in der Stuttgarter Spielstätte Nord überrascht sein. Man wird erst mal gar nicht beschimpft (und später auch nur über Bande). Stattdessen machen die SchauspielerInnen sich selbst und ihre Kunst klein. Sie sagen, dass sie nicht spielen, dass sie nur sprechen, dass die Bühne nichts bedeutet: "Das Licht, das uns beleuchtet, hat nichts zu bedeuten. Auch die Kleidung, die wir tragen, hat nichts zu bedeuten." Wir lassen dahingestellt, ob Nachtkleider aus dem Transvestiten-Jahrzehnt der 70er wirklich nur dem Erzeugen von Stolperfallen dienen ("wenn wir hier stolpern, stolpern wir absichtslos"). Wir glauben einfach, dass Regisseur Martin Laberenz den Autor Handke in diesem Punkt ernst nimmt. Daher - um im Duktus des Stückes zu bleiben: Sie werden hier nichts über die schauspielerische Leistung lesen, nicht zu Schauspielern.

Sollten Sie nicht ohne Beschreibung leben können, geben Sie die Namen des Ensembles in die nachtkritik-Suchfunktion ein und lassen sich den Schauspiel-Typus der Beteiligten schildern. In der Publikumsbeschimpfung spielen sie zwar nicht (sagen sie), man erkennt ihre Art zu spielen aber dennoch wieder. Vielleicht bezieht sich auf diesen Umstand die mehrmals wiederholte Frage "Haben Sie die Dialektik des Stücks verstanden?"

Wir, im Mittelpunkt des Interesses

Wenden wir uns stattdessen dem Wesentlichen zu. "Sie sind das Thema. Sie sind im Mittelpunkt des Interesses. Sie sind der Mittelpunkt." Gemeint ist das Publikum, das Handke eigentlich gar nicht beschimpfen, sondern verändern will. Schauen wir also, was wir aus dem Abend so machen.

Publikumsbeschimpfung 2 560 JulianMarbach uSchimpftirade? Auch das, aber deutlich gekürzt © Julian Marbach

Regisseur Laberenz konfrontiert uns anfangs mit dem Mangel. Keine Stühle. Wir arrangieren uns auf dem Boden, aber ordentlich gereiht. Als die Stühle nachgeliefert werden, stellen wir uns gar nicht so doof an. Erst mal nach hinten durchreichen – ohne Chaos. Schauen wir uns später auf kleinen Bildschirmen am Bühnenrand an. Doch, den Test haben wir bestanden. Später zeigen allerdings sowohl die Bildschirme als auch Projektionen auf der Folie des Bühnenaufbaus die Aufnahme der ersten Handke-Inszenierung 1966. Und den Vergleich verlieren wir. Damals war mehr Rumoren. Nun saßen damals aber auch Menschen im Publikum, die bei "ihr Schlächter", "ihr Genickschussspezialisten", etc. mehr Betroffenheit zeigen konnten.

Historisierung oder Nicht-Historisierung

Die Historisierung der Publikumsbeschimpfung lässt uns befreit von Erwartungen aufspielen. Wir bewegen uns gekonnt auf der Meta-Ebene. Laberenz hat die Beleidigungstirade deutlich gekürzt. Sie richtet sich auch nicht an uns. Peter Lüdicke hält sie in einem Monolog über die Verhandlung mit einer Sparkassen-Angestellten. Scheint aber keine Sparkassen-Angestellte da zu sein. Wir genießen daher das Vergnügen der unterhaltsamen, nicht übergriffigen Beschäftigung. Wir trinken Wodka (nur wer will). Wir greifen verheißungsvoll in dunkle Kästen, spüren aber trotz Aufforderung (Natali Seelig am Megafon!) unsere Geschlechtsorgane nicht - was ein Kompliment ist, die meisten Menschen denken an Sex, wenn sie sich langweilen).

Publikumsbeschimpfung 1 560 JulianMarbach uMinikonzert inklusive: "Publikumsbeschimpfung" in Stuttgart © Julian Marbach

Wir merken erst nach der x-ten Wiederholung, dass das Ensemble nicht nur ein Minikonzert gibt, sondern das darin verpackte "Atmen Sie ein, Atmen Sie aus" auch eine Regieanweisung ist. Wir kriegen das mit dem Rhythmus aber nicht hin. Tja, auch 2018 haben wir selten Gelegenheit, bei Theater mitzumachen. Man sieht uns die mangelnde Routine an. Wir können uns für keine Rolle entscheiden. Ja, wir sind wie vom Text verlangt "die Naiven, die Sentimentalen, die Salondamen". Aber wir sind es nicht miteinander, unser Spiel ist uneinheitlich und nicht aufeinander abgestimmt. Wir irrlichtern auf unserer Bühne.

Wir irrlichtern

Da gibt es auch die zahlreichen Menschen aus dem Theaterumfeld. Sie lachen, wenn der Schauspieler Lüdicke ein Müsli isst. In einer Art, wie man nur lachen kann, wenn man zu Mann und Müsli Insiderwissen hat. Da gibt es die Abonnenten, die sich hinter verschränkten Armen verschanzen und mitlachen, weil alle lachen. Und die Charakterdarstellerinnen wie die sehr alte Dame in Reihe 1 (die mit der roten Handtasche). Die allen Grund hat, die Stirn in Falten zu legen, als Witze über die Verschwendung von Lebenszeit gemacht werden. Die gerne dazwischen ruft (alte Damen dürfen das). Die sich auf einen Zettel Notizen macht. Die sich offenbar gut unterhalten fühlt, kurz vor Schluss aber trotzdem als einzige geht. Wahrscheinlich war der Stuhl unbequem. Und das Stück zwar unterhaltsam, aber zu harmlos, um die Fahrt mit der rausgesuchten Wunschverbindung des ÖPNV zu riskieren.

 

Publikumsbeschimpfung
von Peter Handke
Regie: Martin Laberenz, Bühne: Volker Hintermeier, Kostüme: Aino Laberenz, Musik: Leo Schmidthals, Licht: Gregor Roth, Volker Hintermeier, Dramaturgie: Jan Hein, Katrin Spira.
Mit: Manolo Bertling, Peter René Lüdicke, Jeremy Mockridge, Natali Seelig, Birgit Unterweger, Live-Musik: Leo Schmidthals, Live-Kamera: Daniel Keller.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause  
Koproduktion des Schauspiel Stuttgart mit dem Deutschen Theater Berlin

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

Martin Laberenz beschäftige sich seine Version der 'Publikumsbeschimpfung' mit der Frage, was das einst so revolutionäre Stück heute noch zu sagen habe. "Dass die Tabus von damals keine mehr sind, hat man hier längst verstanden. Laberenz nutzt den legendären Text clever als Grundlage für eine neue Auseinandersetzung", schreibt Sabine Fischer von der Stuttgarter Zeitung (27.5.2018). Gekonnt führe Laberenz das Dilemma des Stücks ad absurdum: Gerade die Forderung nach Unmittelbarkeit und Nähe sei es, die hier zur doppelbödigen Unmöglichkeit mutiere. Die Darsteller kämpften in immer absurderen Szenarien mit dem Problem der Unmittelbarkeit. "Die Erkenntnis: So sehr das System sich seit Handke auch weiterentwickelt hat, eine große Lüge bleibt bestehen – die Illusion nämlich, in einer durch und durch künstlichen Situation jemandem wirklich nahe sein zu können."

Bernd Noack von Spiegel Online (27.05.2018) fand den Abend "hoffnungslos albern" und "erschreckend unoriginell". Laberenz versuche angestrengt und sich selbst wichtiger als die Vorlage nehmend "die Dekonstruktion eines Stücks, das seinerseits doch längst die Demolierung einer (freilich noch immer!) verkrusteten Institution im Sinn hatte". "Kann man noch schieferliegen, noch peinlicher scheitern?", poltert der Kritiker.

Laberenz und sein Team "vollführen einen heiteren, sehr unterhaltsamen, aber auch grandios harmlosen Metaebenen-Diskurstanz, wobei sie sich immer wieder selber in ihren Anti-Illusionsbemühungen verheddern", so Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (1.6.2018). "Die Angst vor diesem Stück und dem, was es mit uns Zuschauern anstellen würde, war letztendlich sehr viel größer als die Schmäh- und Reibungsverlusthöhe in Laberenz' gut gelaunter Retro-Show."

 

Kommentare  
Publikumsbeschimpfung, Stuttgart: Umsetzung
Man habe das Publikum nicht gut umgesetzt, fand er.
Publikumsbeschimpfung, Stuttgart: in den USA undenkbar
ALS Amerikanischer Uebersetzer und erster Regisseur des Stuecked in NY so um 1969 herum

http://handke-drama.blogspot.com/2010/06/1965-75-public-insult-self-accusation.html

waere eine solche Auffuehrung hierzulande unmoeglich da die Leute die hier in Theater gehen immmer noch tief in Illusionen gefangen sind. Interessante deutsche Rezensioen in der Stuttarter und im Spiegel.
Publikumsbeschimpfung, Stuttgart: reaktionär
Das Ärgerliche an dieser Inszenierung ist, dass sie mit Kostümen, Rollenspiel und Klamauk dementiert, was an Handkes Stück vor 50 Jahren revolutionär war und vieles vorwegnahm, was Performance-Ideologen heute für neu halten. Insofern ist Laberenz und seine Revision reaktionär.
Publikumsbeschimpfung, Berlin: mut- und harmlos
Das Berliner Theaterpublikum, das aus den letzten Tagen der Castorf-Ära von Sitzkissen-Landschaften bis zu hartem Asphalt schon einiges an Unbequemlichkeiten durchlitten hat, fasst Regisseur Martin Laberenz bei seiner „Publikumsbeschimpfung“ mit Samthandschuhen an. Bei der Premiere der Ko-Produktion in Stuttgart mussten die Besucher*innen in der Außenspielstätte Nord noch auf dem Boden Platz nehmen. In den Kammerspielen des Deutschen Theaters Berlin blieb die Bestuhlung drin – alles wie gewohnt, das Publikum setzt sich auf die numerierten Plätze, während vorne der Pianist in den Abend einstimmt.

Auch sonst wirkt der Abend mut- und harmlos: Meta-Theater, so langatmig wie langweilig, wird geboten, zwischendurch gratis Wodka ausgegeben. Während die Band ihre Instrumente neu arrangiert, wird vorne frontal ins Publikum deklamiert oder auch mal minutenlang geschwiegen.

Was Laberenz und die beiden koproduzierenden Theater an Peter Handkes Stück interessierte, das unter Claus Peymanns Uraufführungs-Regie 1966 zum legendären Theater-Skandal wurde, bleibt unklar. Ein Abend aus dem verqualmten Theater-Museum. „Erschreckend unoriginell“, wie Bernd Noack auf SPIEGEL Online im Mai in Stuttgart treffend zusammenfasste.

https://daskulturblog.com/2018/10/14/publikumsbeschimpfung-deutsches-theater-berlin-kritik/
Publikumsbeschimpfung, Berlin: kein Ziel
(...)Das Handkesche „Jetzt“ wird auf die Spitze getrieben und so der Lächerlichkeit anheim gegeben.

Wie auch sein Diktum, Theater dürfe nicht versuchen, Zeit zu wieder- oder zurückzuholen. Auch das tut Martin Laberenz, flicht immer wieder Originalaufnahmen von 1966 ein, mal als verschwommene Schemen, mal als Videoaufnahmen, mal auf der Tonspur. Die Vergangenheit wird so nicht präsent, sondern als vergangen entlarvt. Das ist durchaus im Handkeschen Sinne und misslingt doch völlig. Denn im Präsens stellt Laberenz dem Präteritum nichts entgegen. Ein rechteckiges mit allerlei Neonrühren verkleideten Bühnenpodest dreht sich (Bühne: Volker Hintermeier) und bietet das Podium für eine Handke-Show. Es wird Live musiziert, die Texte zunächst chorisch deklamiert, später mal gesungen, mal im Vorsprechmodus vor entsprechend passender Sound-Kulisse von der Rampe gesprochen oder geschrien. Alles ist Spieltechnik, die sich als Spieltechnik entäußert. Wo Handke hinter die Konventionen zurückwollte, feiern sie bei Laberenz frühliche Urständ. Es ginge um uns, erzählt Manolo Bertling immer und immer wieder. Doch dieses „Wir“ ist ein traditionell Passives. Wo bei der Stuttgarter Premiere noch ein paar Interaktions- und Irritationsmomente probiert wurde – so stand der Besucher zunächst vor stuhllosen Reihen und bekam seinen Sitz erst später gereicht – verzichtet die Berliner Version auf solche Späßchen. Das ist ehrlich, negiert er doch sonst den Geist von Handkes Text vollkommen.

Nein, hier wird kein „Wir“ geschaffen und kein Zuschauer*innenkollektiv angesprochen. Hier wird keiner von seinem Sitz verscheucht oder gar angeregt, über seine Position nachzudenken. Dieses Stück zielt an diesem Abend nicht mehr auf eine Veränderung des Publikums, er hat überhaupt kein Ziel. Stattdessen seziert er genüsslich seine Herkunft, breitet seine Einzelteile aus und starrt sie ratlos an. Und wenn ihm nichts mehr einfält, lässt er darüber lachen. Und so kommt es, dass die stärksten Momente dieser aseptischen Handke-Show die historischen Einspieler sind, die für Sekunden erahnen lassen, welche Kraft in diesem ausgepressten Text einmal gesteckt haben mag, welche Wirkung Claus Peymanns konzentrierte Originalinszenierung entwickelt haben könnte. Es ist gerade dieses von Handke so vehement abgelehnte Zurückholen und Spielen von Zeit, das an diesem Abend am stärksten wirkt, weil es die Fallhöhe verdeutlicht zwischen dem Anspruch dieses Stücks und seiner neuerlichen Entsorgung. Dass die „Show“ sich schwer tut, ihr Ende zu finden, mag der Angst geschuldet sein, dass wenn die Illusion versiegt ist, der Zuschauer die Leere umso klarer sieht. Vermeiden lässt sich das nicht.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/10/23/die-grose-bunte-handke-schau/
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