Mensch, Mensch, Mensch

von Petra Hallmayer

München, 28. Mai 2018. Im Vorfeld der Uraufführung von Marta Górnickas neuem Chorstück echauffierte sich eine Münchner Zeitung über dessen Titel. Die leichtfertige Verwendung der antiken Losung für Verteilungsgerechtigkeit "Jedem das Seine", die die Nazis mit grenzenlosem Zynismus auf das Tor des KZ Buchenwald schrieben, hat schon mehrfach heftige Diskussionen ausgelöst. Einen gedankenlosen Umgang mit der Geschichte jedoch kann man der Regisseurin, die sich in "Hymne an die Liebe" mit der Rolle Polens im Holocaust und dem Antisemitismus in ihrem Heimatland auseinandersetzte, gewiss nicht vorwerfen.

Eine Gesellschaft, in der jeder "alles von jedem sehen" will

"Ein Manifest" nennt Górnicka ihr Regiedebüt an den Kammerspielen mit Ensemblemitgliedern, Gästen und Münchner Bürgerinnen und Bürgern. Als vielköpfiger Chor tragen sie ein Libretto aus collagierten Zitaten, feministischen Schriften, vom "Manifest der futuristischen Frau" über Valerie Solanas "SCUM Manifesto" bis zum New Yorker "Me Too Manifesto" und Texten der Schweizer Dramatikerin Katja Brunner vor. In Bodies, Kleidern und Hosen, barfuß und in Schnürstiefeln marschieren die von ein paar Männern unterstützten Frauen vor und zurück und skandieren einen radikalen, zornigen Aufschrei gegen den Sexismus, rattern in atemberaubendem Tempo Sätze und Parolen herunter wie: "Der Reichtum des Volkes stammt von der Arbeit der Vaginen, nicht der Hände." Sie schreien, flüstern, raunen, klagen und zischen, spucken Worte aus und bellen sie rhythmisch in langen Wiederholungsschleifen.

JedemDasSeine 1 560 DavidBaltzer uFrauen aller Länder, vereinigt euch! © David Baltzer

Sie preisen einen Sex-Roboter als True Love Machine an, quieksen "Willst du ficken, komm her und nimm mich von hinten." Einige trippeln nach vorn, streichen sich über Schenkel und Hüften und werfen sich mit puppenhaftem Lächeln in Pin-up-Posen. "Fleisch, Fleisch, Fleisch", schallt es von der Bühne und schließlich: "Mensch, Mensch, Mensch." Eindringlich demonstriert "Jedem das Seine" die Dehumanisierung und maschinenhafte Abrichtung weiblicher Körper, ihre Verwandlung in sexuelle Gebrauchswaren, den Ausverkauf der Liebe und die Pornographisierung einer Gesellschaft, in der jeder "alles von jedem sehen" will.

Trumps hechelnde Anhänger

Wie perfekt Marta Górnicka, die aus den Zuschauerreihen heraus das Ensemble aus Laien und Profis dirigiert, die Form beherrscht, die sie für ihre Theaterarbeit erfunden hat, führt dieser ungemein präzise choreographierte Abend erneut vor. Inhaltlich allerdings kann er nicht immer rundum überzeugen. Mit einer Affenpuppe mit Klappmaul, der Gro Swantje Kohlhof ihre Stimme leiht, verknüpft die Aufführung die Körperbilder und die sexuelle Gewalt gegen Frauen im modernen Kapitalismus mit dem Hitlerfaschismus, erinnert an das KZ Dachau als "eines der produktivsten Lagerbordelle in Europa". Da liegt der Gedanke an Klaus Theweleit und seine "Männerphantasien" nahe, auf die Górnicka sich auch tatsächlich in einem Interview vorab berief. Der aber brauchte zwei Bände für seine Thesen über männliche Körperpanzer und den Siegeszug des Faschismus. Der eingeschobene KZ-Verweis in den Kammerspielen dagegen erhellt nichts wirklich und wirkt forciert.

JedemDasSeine 3 560 DavidBaltzer uAnna Ratte-Polle und der Chor © David Baltzer

Als gruselig groteske Symbolfigur für die Renaissance der Rechten und den antifeministischen Backlash tobt Trump über die Bühne. Barbusig und mit blonder Perückentolle mimt Anne Ratte-Polle mit Spielwitz einen Donald-Clown zwischen hündisch hechelnden Anhängern, der sich selbst zum Gott erhebt, ehe Stacyian Jackson das Publikum zu seinen Gesinnungsgenossen erklärt. Letztlich jedoch erzählt uns die grelle Trump-Persiflage, in deren Zentrum dessen Pussy-Grapscher-Spruch steht, nichts Neues, bleibt zu vordergründig und pseudoprovokativ.

Lob der Verunsicherung

Am stärksten ist Górnickas "Manifest" dann, wenn es sich der Eindeutigkeit widersetzt, uns mit Irritationen und Verunsicherungsmomenten konfrontiert. "Wir Frauen sind Fremde", hören wir wieder und wieder in einem anschwellenden Gewirr von Stimmen, aus dem sich einzelne herauslösen und hinzufügen: "Die Fremden sind immer die größte Gefahr für die Frauen. Diese anderen Fremden!" Zunehmend mutiert der weibliche Protestchor zur bedrohlichen Meute, die uns mit fratzenhaft verzerrten Gesichtern das Wort "Fremde!" entgegenschreit. Es sind Passagen wie diese, in denen die Inszenierung beklemmende Verstörungskraft gewinnt.
Am Ende stimmen alle die Anfangszeilen aus Bachs Kantate Nr. 163 an. "Nur jedem das Seine!", ertönt es im Kanon. "Muss Obrigkeit haben..." Inmitten des glockenhellen Gesangs aber beginnt ein Mädchen zu kichern und verkünden Zwischenrufe den Abschied vom alten weißen Mann.

 

Jedem das Seine. Ein Manifest.
Chorstück von Marta Górnicka
Regie und Dirigat: Marta Górnicka, Bühne: Robert Rumas, Kostüme: Sophia May, Licht: Charlotte Marr, Dramaturgie: Johanna Höhmann, Dramaturgische Beratung: Agata Adamiecka-Sitek, Komposition und Einstudierung: Polina Lapkovskaja, Choreographie: Anna Godowska, Übersetzung: Andreas Volk.
Mit: Liliana Barros, Yasin Boynuince, Serena Buchner, Caroline Corves, Leonard Dick, Carmen Engel, Dana Greiner, Maya Haddad, Thekla Hartmann, Antonia Hoffmann, Marion Hollerung, Stacyian Jackson, Gro Swantje Kohlhof, Laura Kupzog, Kim Nguyen, Moritz Ostruschnjak, Gina Penzkofer, Susanne Popp, Melanie Pöschl, Corinna Quaas, Anne Ratte-Polle, Theresa Schlichtherle, Samantha Schote-Ritzinger, Zoë von Weitershausen, Gülbin Ünlü, Christophe Vetter.
Dauer: 50 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Einen fulminaten Chor schicke Marta Górnicka auf die Bühne, so Cora Knoblauch im Info-Radio (27.10.2019) anlässlich des Gastspiel von "Jedem das Seine" beim Herbstsalon am Berliner Maxim-Gorki-Theater. Eine "raffiniert komponierte Bühnenrede" werde performt. Zitate über sexuelle Ausbeutung und sexualisierte Gewalt gegen Frauen seien beeindruckend verdichtet.

Der Chor sei wogende Masse, alles sei handwerklich stupend gearbeitet. Egbert Tholl zeigt sich in der Süddeutschen Zeitung (29.5.2018) beeindruckt. Jedoch: 'Jedem das Seine'? "Ein alter Satz, viel älter als sein Missbrauch, doch man kann ihn nicht aus dem deutschen Gedächtnis lösen, er bleibt am Gitter des Konzentrationslagers Buchenwald hängen. Gehen da Marta Górnicka die Gäule ihres Furors durch - Dachau kommt auch vor, als 'eines der produktivsten Lagerbordelle in Europa'? Legitimiert eine sicherlich ehrlich empfundene Wut jede Verstiegenheit?“ Vergewaltigungen, männlicher Terror gegen weibliche Körper, das stimme ja alles, grausamerweise. "Zusammengerührt mit 'Beckenbodengymnastik', dem 'Männerideal' der 'Mainstream-Popkultur' und Kapitalismus würde daraus eine ganz harte Nummer, höbe die Virtuosität der Darbietung die Schärfe des Textes nicht größtenteils auf."

Marta Górnicka zeichne mit ihrer Textcollage ein eher düsteres Bild vom Zustand dieser Welt, in der der Satz 'Jedem das Seine' durchaus wieder in zynischem Sinne zu lesen sei, so Sven Ricklefs auf Deutschlandfunk Kultur (28.5.2018). "Dabei chargiert ihr Chor zwischen Rebellion und roboterhafter Unterwerfung hin und her, rottet sich aber auch immer mal wieder aggressiv zusammen, um jenem anderen Teil der Gesellschaft eine Stimme zu verleihen, der einem fast schon wieder salonfähigen Faschismus in die Fänge geht." Der Abend sei eine eine kurze schmerzvolle Zustandsbeschreibung, die einem in ihrer optischen und akustischen Eigenwilligkeit im Gedächtnis bleiben werde.

Kommentare  
Jedem das seine, München: zäh
Einen so überambitionierten und humorlosen Theaterabend hab ich lange nicht gesehen! Es wird viel gejammert und gebrüllt, aber inhaltlich treten die 50min zäh auf der Stelle. Eigentlich eine unverschämtheit!
Jedem das seine, München: hilflos
Und wieder bleibt die hilflose Frage: Gibt es noch irgendwo Theater mit Inhalt?
Jedem das seine, München: Gulasch
Mal wieder ein Zeitgeist Gulasch, Sexismus, Nazigrusel und ein Schuss Trumpsauce, das MUSS sich ja in Fachkreisen herumsprechen.
Jedem das seine, München: Totalitarismus
Dass man im Theater mit Bezug zur griechischen Antike chorisch arbeiten kann, wissen wir seit den 1990er Jahren, man denke nur an Einar Schleef. Dass man seine SchauspielerInnen oder PerformerInnen in der Aufführung selbst dirigieren kann, kennen wir von Kantor, bemerken wir etwas abgeschwächter bei Stemann. Nur: Kaum jemand lässt so lustvoll die SchauspielerInnen quasimilitärisch tanzen, gibt Einsätze für Selbstverständliches, winkt erwachsene Künstler in und befördert sie mit Handbewegung aus dem Spiel wie Marta Gornicka. Das wirkt nicht nur totalitär, sondern ist es gegenüber den DarstellerInnen auch tatsächlich. Kaum jemand im Publikum und unter den KritikerInnen scheint bemerkt zu haben, dass die Darstellenden wie unmündige Kinder behandelt wurden (es gab, so wird berichtet, deshalb auch einigen Widerstand in den Proben). Auf der einen Seite für Freiheit zu sein, zugleich aber auf der anderen Seite abhängige Künstler so totalitär zu behandeln, ist zumindest für mich (auch vor dem Hintergrund der Ästhetik der Avantgarde) auf der ethischen Ebene nicht zu akzeptieren.
Jedem das Seine, München: undifferenziert
Hauptangriffspunkte der neuen Arbeit „Jedem das Seine. Ein Manifest“ sind der Sexismus und die Degradierung von Frauen zu Sexobjekten. Dafür hat sie Slogans aus Politik und Werbung gesampelt, was oft bewusst trashig wirkt. Gleich zum Einstieg wird das Publikum allerdings auch mit kraftvoll gezischten Schnipseln aus Klassikern der feministischen Literatur wie dem „SCUM“-Manifesto von Valerie Solanas beballert, das auch für Nicolas Stemanns „Der Vater“-Inszenierung eine zentrale Referenz war. Fast zwangsläufig landet der assoziative Abend immer wieder bei Donald Trump, den Anne Ratte-Polle mit hässlicher Perücke, nacktem Oberkörper und zahlreichen Zitaten á la „Grab the pussy“ karikiert.

Schon der provozierende Titel, ein Zitat des menschenverachtenden Spruchs über dem Eingang zum KZ Buchenwald, mit dem die Nazis den alt-römischen Rechtsgrundsatz „Suum cuique“ zynisch pervertierten, deutet an, dass es Górnicka hier um noch mehr geht: um eine Generalabrechnung mit faschistischen Tendenzen. So fügt sich auch eine längere Passage über das KZ Dachau wenige Kilometer vor den Toren Münchens, die Gro Swantje Kohlhof mit einer Affen-Puppe spielt, in die nur 50 Minuten kurze, hochkonzentriert vorgetragene Wut-Suada ein.

Das Problem dieses energiegeladenen Abends ist, dass er zu einem undifferenzierten Rundumschlag ausholt. Pauschal wettert Górnicka gegen faschistische Tendenzen des Patriarchats, das nicht nur Frauen, sondern alle Fremden ausgrenze. Sperrfeuer statt Florett ist das Stilprinzip dieses Abends. Stärker als bei Górnicka üblich zerfällt der Chor immer wieder in ohnmächtige Einzelkämpfer*innen, die sich in ihrer Wut überschlagen, gegenseitig zu übertönen versuchen und somit nur noch ein disharmonisches, ratloses Stimmengewirr erzeugen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/01/03/jedem-das-seine-ein-manifest/
Jedem das Seine, Berlin: schlimmer Verdacht
Die Führerin fuchtelt mit den Armen, und 25 lebende Puppen gehorchen. Leider handeln die Texte von der Befreiung von Faschismus. Wäre lustig, wenn das nicht so traurig wäre. Ein Stück für Intendanten ab 5.
Jedem das Seine, Berlin: Position bezogen
Die Passage zu Dachau wurde anscheinend in Berlin gestrichen. Das assoziative Sperrfeuer fügt sich thematisch bruchlos in die Herbstsalon-Ausstellung ein, die sich mit dezidiert feministischem Blick, mal sehr ernsthaft und anklagend, mal leichtfüßiger und ironisch, der sich mit Nationalismus und Krieg auseinandersetzt.

Der Berlin-Premiere von "Jedem das Seine" wurde aus aktuellem Anlass noch kurze eine szenische Intervention von Hito Steyerl und drei Mitstreiterinnen vorgeschaltet, die gegen den völkerrechtswidrigen Angriff der Türkei auf die Kurden-Gebiete im Norden Syriens mit kurzen Texten klar Position bezogen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/10/27/4-gorki-herbstsalon-kritik/
Jedem das Seine, München/Berlin: Thema + Form
Hier ist die elementare Kraft von Górnickas Chor-Theater spürbar, geht es tief unter die Haut, verunsichert, ja, verstört es. Das gelingt ihm immer wieder in den monoton stampfenden Rhythmen, den mechanistischen Formationen der Sex-Roboter-Armee, den ständig wechselnden Aufstellungen, die mal präzise einstudiert, dann zufällig wirken, die zwanghaften Drill und vermeintliche Freiheit vorgaukeln und doch immer wieder in maschinenhaftem Einklang enden. Die Stimmen driften auseinander, vereinzeln sich, der Chor wird zum Kanon, dann zur Kakophonie individueller Rede und ballt sich am Ende doch immer wieder zur Einstimmigkeit zusammen. Freiheit, Gleichstellung und Freizügigkeit – sie bleiben Illusionen in einen festen Rahmen, der nicht gesprengt werden woill. Hier finden Thema und Form zusammen, nähert sich die patriarchale Gleichschaltung der Rollenzuweisungen und Körperbilder, die Górnicka zeigt und von der ihr Abend spricht, irritierend an die eigene Arbeitsweise, an das Grundprinzip ihres genau getakteten, mechanistischen Chor-Theaters an, eine Spannung generierend, die spürbar ist, eine verstörende Kumpanei von Ausdruck und Thematisiertem. Dieses Theater funktioniert nach ähnlichen Prinzipien wie das, von dem sie spricht. Das macht es so wirkungsvoll – und es selbst zum Problem. Eine weitere Uneindeutigkeit, ein innerer Widerstreit, eine Auflösung des Klaren. Auch und gerade davon lebt die Kunst der Marta Górnicka.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/10/29/wider-die-eindeutigkeit-2/
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