Presseschau vom 31. Mai 2018 – Irene Bazinger wettert im Cicero gegen den Verlust von Sprechstücken und den Trend zu Projekten auf deutschsprachigen Bühnen

Unter Theatergartenzwergen

Unter Theatergartenzwergen

31. Mai 2018. Den Überfluss an Projekten, dokumentarischen Stückentwicklungen und postdramatisch performativen Abenden auf den Gegenwartsbühnen und damit einhergehend den Verlust der klassischen Sprechstücke beklagt Theaterkritikerin Irene Bazinger in der aktuellen Ausgabe des Cicero (6/2018). Die Bühnen würden heute "von hochgeschraubten Thesenträgern und unverbindlichen Sprechblasen bevölkert, von sinnfreien Schreihälsen und sich jeder intellektuellen Blähung anbiedernden Zeitgeistern, von denkfaulen postmodernen Theatergartenzwergen und sich völlig privat gebenden Schwadroneuren und Schwadroneurinnen."

Es fehlt der Mensch

Mit den Sprechstücken verschwänden "die Menschen, jene mal sympathischen, mal abstoßenden Geschöpfe aus Dichters Wort und Dichterins Gedanken, aus Shakespeares Fleisch und Kleists Blut, aus Roland Schimmelpfennigs Herz und Yasmina Rezas Hirn. Es verschwinden 'Du' und 'Ich' von der Bühne und tauchen vielleicht im Kino wieder auf, wohin sich dann auch die Regisseurinnen und Regisseure begeben, die so gern sagen, nein, ins Theater würden sie selten gehen, ja, aber Filme oder Netflix-Serien, die wären toll! Vielleicht, weil sie die Figuren und Geschichten, die sie dem Theater zuvor mit ausgetrieben haben, dort wiederfinden?", schreibt die Kritikerin, die sonst regelmäßig u.a. auch in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über Theater berichtet.

Castorfs Schredder als Sehnsuchtsort

Als Indiz, dass die aktuell im Theater dominanten Formen tatsächlich aber in der Krise stecken, nimmt die Kritikerin den jüngsten Publikumswiderstand gegen das Berliner Volksbühnen-Programm unter Chris Dercon (bei dem installative, performative und dokumentarische Theaterformen im Zentrum standen). Dercons Antipode Frank Castorf (einst selbst als Stückezertrümmerer gescholten), gilt Bazinger dagegen als Wahrer der Sprechtheatertradition. "Natürlich waren die Texte oft wüst geschreddert und die Stücke neu montiert und mit Fremdtexten erweitert, aber sie waren meist gut wiedererkennbar und appellierten an den Geist und das Herz des Publikums, nicht an dessen Ideologie oder Gefühligkeit. Das vortreffliche Schauspielerensemble zauberte Figuren auf die Bühne, die nach allen Regeln der Kunst und der Grenzüberschreitung gestaltet waren."

(chr)

Kommentare  
Theater ohne Sprechstücke: zu pauschal, um richtig zu sein
Das Ärgerliche an solchen teilweise ja durchaus zutreffenden Beobachtungen sind die Pauschalisierungen, die zuletzt auch den richtigen Kern desavouieren. Man mag das angebliche Verschwinden der "klassischen Sprechstücke", was immer das sein mag, bedauern, aber mit dem Verschwinden des Menschen im Theater hat das nichts zu tun. Womit, wenn nicht mit dem Menschen, hätte sich die Pantomime eines Marcel Marceau beschäftigt, und womit das Tanztheater einer Pina Bausch? Andererseits: Schimmelpfennig und Reza, die Bazinger als positive Beispiele anführt, sind ja nicht von der Bühne verschwunden, und wenn ich es recht sehe, werden auch Kleist und Shakespeare noch gespielt. Nicht jede These und erst recht nicht jeder ihrer Träger ist hochgeschraubt, nicht jeder Schreihals und nicht einmal jeder Schrei ist sinnfrei. Wir kämen der Sache näher, wenn, statt zwischen Sprechtheater und performativen und dokumentarischen Theaterformen, zwischen gutem Sprechtheater und performativen und dokumentarischen Theaterformen und schlechtem Sprechtheater und performativen und dokumentarischen Theaterformen unterschieden würde. Dann würde man vielleicht auch Yasmina Rezas Hirn nicht für die ultima ratio des gegenwärtigen Theaters halten.
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