Die Einsamkeit der Sirenen

von Sascha Westphal

Recklinghausen, 1. Juni 2018. Vor vier Jahren schickte der Dramatiker Fink Kleidheu in "Island One Way" ein an sich und der Welt verzweifelndes Paar auf einen absurd-komischen Horrortrip nach Reykjavik. Zu den Songs des isländischen Musikers Svavar Knútur, der zugleich noch in zahlreichen Rollen auftrat, stolperten die beiden Kreativen von einem Dilemma in die nächste Katastrophe und mussten hilflos mit ansehen, wie ihre Lebensentwürfe mehr und mehr auseinanderbrachen. Zwei Jahre später erzählte Kleidheu mit Der letzte Cowboy (Solitary Man) von einem Mann, der verführt von den Mythen der Popkultur aus der Enge der ostwestfälischen Provinz ausbricht und schließlich alles verliert. Und wieder war es Svavar Knútur, der mit seinen Versionen berühmter englischer und amerikanischer Popsongs dem grotesken Geschehen eine überraschende emotionale Tiefe gab.

Ruhig fließt der Rhein

Nun, noch einmal zwei Jahre später, hat Fink Kleidheu, der mit bürgerlichem Namen Christian Schäfer heißt und zusammen mit Karin Sporer das Theater Gütersloh leitet, seine "den unsteten Sinnsuchenden unserer Zeit" gewidmete Trilogie vollendet. Wie in seinen beiden Vorgängern, die auch im Rahmen der Ruhrfestspiele als Koproduktionen des Festivals mit dem Gütersloher Theater uraufgeführt wurden, vermischt sich in "Loreley (Sinking Ships)" Alltägliches mit Surrealen. Kurze Spielszenen gehen ansatzlos in musikalische Intermezzi über. Dabei kommt den von Svavar Knútur komponierten Liedern, zu denen der Romanautor Tilman Rammstedt die Texte geschrieben hat, allerdings eine größere Bedeutung zu.

Sie begleiten nicht nur die immer verrückteren Ereignisse. Sie etablieren eine zweite Ebene. Rammstedt und Schäfer zitieren gleich mehrere deutsche Theater-, Literatur- und Musiktraditionen, um sie sofort wieder ironisch zu brechen. Aus dem lockeren Szenenreigen, der von einer überstürzten Flucht entlang des Rheins erzählt, wird so ein "tragikomisches Singspiel", das die romantische Melancholie Heinrich Heines wieder aufleben lässt und Richard Wagners Pathos leichthändig karikiert.

Loreley2 560 Kai Uwe Oesterhelweg uAusbruch in die Musik. Hinten: Lucie Mackert, Fabian Baumgarten, vorne: Svavar Knútur
© Kai Uwe Oesterhelweg

Wie der "letzte Cowboy" will auch die 21-jährige Lily Herrgott, die direkt an der deutsch-französischen Grenze im Schatten eines Atomkraftwerks aufgewachsen ist, aus engen kleinbürgerlichen Verhältnissen ausbrechen. Nur träumt sie zugleich noch davon, die Welt zu verändern. Gemeinsam mit ihrer Jugendliebe Luc, einem französischen Nerd und Hacker, will sie die Atomindustrie zur Strecke bringen. Als die beiden während einer großen Demonstration einen Cyberangriff gegen das veraltete Atomkraftwerk starten und einen Störfall simulieren, kommt es zu einem tragischen Zwischenfall. Da sie befürchten, die Behörden könnten die Ereignisse zu ihnen zurückverfolgen, brechen sie Hals über Kopf in Richtung Norden auf.

Wahn und Wirklichkeit

Auf seiner Reise flussabwärts begegnet das von Lucie Mackert und Fabian Baumgarten gespielte Paar einer ganzen Reihe skurriler Gestalten, die alle von Christine Diensberg und dem Musiker Svavar Knútur verkörpert werden, und löst teils zufällig, teils gezielt weitere Zwischenfälle und Katastrophen aus. Je länger sie unterwegs sind, desto unschärfer wird die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit. Der mythische Fluss zieht sie in eine Welt, in der alles möglich ist.

Der Anführer einer Rockerbande zwingt die französische Politik in die Knie und erwirkt, wovon Umweltaktivisten wie Lily und Luc bisher nur träumen konnten. Bei einem Rockfestival hoch über dem Rhein verwandelt sich der Auftritt eines an Bands wie Rammstein erinnernden Düsterlings zu einem modernen Hexensabbat. Nur wenig später begegnen die beiden Flüchtigen einem echten Fabelwesen, das sich schließlich als lebensmüder Fährmann entpuppt.

Loreley3 560 Kai Uwe Oesterhelweg uRebellen: Fabian Baumgarten, Lucie Mackert © Kai Uwe Oesterhelweg

Christian Schäfer setzt all diese wunderlichen Szenen mit einer komödiantischen Leichtigkeit um, deren bitterböser Witz einem oft erst im Nachhinein bewusst wird. In einem Moment lacht man noch über Fabian Baumgartens clowneskes Porträt eines furchtsamen Computerfreaks mit überzogenem französischen Akzent. Im nächsten erschrickt man angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der Lily die Grenze zwischen Idealismus und Terrorismus überschreitet. Von all den "unsteten Sinnsuchern", die Fink Kleidheu alias Christian Schäfer in seiner Trilogie auf tragikomische Irrfahrten durch die Fährnisse unserer unübersichtlichen Zeiten schickt, ist sie die komplexeste.

Lucie Mackert gelingt ein grandioser Balanceakt zwischen Kaltblütigkeit und Unschuld, Komik und Gefühl. Sie, diese moderne Loreley, die alle manipuliert und nichts an sich heran lässt, wirkt am Ende plötzlich hilflos und zerbrechlich. In einem magischen Moment, in dem Christian Schäfer Heines schwermütiger Sehnsucht ganz nahekommt, realisiert Lily zu Svavar Knúturs "Lady Winter", was sie zerstört und verloren hat. Die Sirene, die, wie es in dem scherzhaft traurigen Song heißt, unsere Herzen zerrissen hat, bleibt einsam zurück.

 

Loreley (Sinking Ships)
Uraufführung
von Fink Kleidheu, Tilman Rammstedt (Liedtexte) und Svavar Knútur (Musik)
Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen mit dem Theater Gütersloh
Regie: Christian Schäfer; Bühne: Jörg Zysik; Kostüme: Anna Sun Barthold-Torpai; Musikalische Leitung: Svavar Knútur
Mit: Christine Diensberg, Lucie Mackert, Fabian Baumgarten, Svavar Knútur
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause

www.ruhrfestspiele.de
www.theater-gt.de

 

Kritikenrundschau

Auf WDR 3 (2.6.2018) ist Stefan Keim "richtig begeistert", von einem tollen Ensemble mit Spielwut, einer "schrägen Produktion" mit dem Überraschungseffekt eines melancholischen Schlusses nach anderthalb Stunden Pointenfeuerwerk, "unglaublich witzig, ohne blöd zu sein".

In der Recklinghäuser Zeitung (4.6.2018) zollt Ina Fischer vier "mit Herzblut und bitterböser Zunge hervorragend agierenden Darstellern" Tribut, in einer "brüllend komischen" Produktion, die dennoch eine klare Botschaft habe.

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