Betontristesse. Abrisslandschaften

von Georg Kasch 

Halle, 26. Juni 2008. "Komm! Ins Offene" lockt das Theater der Welt-Festival in Halle. Oft geht es hinaus, in den "Stadt(ver)führungen" zum Beispiel, bei denen man im Trabi, in der Kutsche oder zu Fuß denkwürdige Orte verwirrend inszeniert findet. Oder in "Ausflughafensicht", wo man auf halbem Weg Richtung Leipzig, eingezwängt zwischen Start-, Lande- und Autobahn, das fast verlassene, aber noch widerständische Dorf Kursdorf mit seinen erzählenden Orten entdecken kann.

Oder in "X(ics). Grausame Erzählungen der Jugend" der freien Gruppe Motus aus Italien. Die allerdings bringen das Publikum nicht ins echte Halle-Neustadt, eine schrumpfende Plattenbausiedlung, in der ganze Stockwerke leerstehen, sondern nach Halle-Neustadt auf der Bühne des großen Kulturinsel-Saals. Es ist die dritte Station des Projekts nach Cattolica (eine Gegend bei Ravenna) und Valence in Frankreich; auch dort wurden Jugendliche beobachtet, befragt, vor die Kamera geholt und die Ergebnisse mit Momenten aus James Purdys Roman "Malcolm" verschnitten.

Zersplitternder Pandabär 

Das Offene wurde dabei zum ästhetischen Programm. Auch wenn das Projekt nun abgeschlossen ist, vollendet ist es nicht. Auf einer dunklen Wand grinst ein Pandabär aus vielen weißen Punkten. Ein Skater rast dagegen, das Bild zersplittert in einem Feuerregen. Während er vorne in eine Schmerzens-Choreographie verfällt, immer wieder mit seinen schweren Füßen auf den eletronisch verstärkten Boden knallt, gerät das Licht-Raster auf der Wand ins Taumeln, steht schräg. Dazu der Rhythmus, von einem Kapuzentyp ins Mikro gezischt.

Eine SMS leuchtet auf: "Was machst du? – Vielleicht warte ich ;) Hab leider nix besseres zu tun..." Plattenbauten. Hochhäuser. Triste Einkaufspassagen. Im Surround-Sound rasen Autos vorbei, Lichtkegel flitzen über die Bühne, zwei Jungs springen durch die entstehenden Lücken. Dazu eine Akkustikgitarre, sanft und eindringlich, von einer Frau, deren feuerrotes Haar unter dem Motorradhelm hevorquillt. Betontristesse. Abrisslandschaften. Worte auf Italienisch, auf Spanisch.

Was ist Realität, was Fiktion? Sehen wir Halle, Valence, Cattolica? Ist der Skater Mann oder Frau? Maßstäbe geraten ins Wanken, Überforderung wird zum Dauerzustand. Neue Bilder kommen hinzu, Geschichten beginnen sich zu formen, ohne erzählt, ohne beendet zu werden.

Jugend ohne Gott 

Aber Fetzen gibt es. Da ist die junge Frau (oder sind es Frauen?) aus dem Osten, die von der Wende erzählt, davon, dass nun viele verroht sind, dass es früher keine familiären Messerstechereien oder Kinder in Tiefkühltruhen gegeben habe (aber, so ihre überraschende Pointe, vielleicht waren auch die fehlenden Kühltruhen der Grund). Auch sie habe gewusst, dass man nicht alles sagen durfte, dass ein falscher Witz ein Verhaftungsgrund war. Jedoch: "Was nützt die Meinungsfreiheit, wenn man nichts zu sagen hat?", fragt eine Einblendung.

Die Jugend ohne Gott, die sich allmählich aus Skatern, Selbstmördern, Klebe-Schnüfflern, Punkern und einem halbnackten Halbstarken mit lärmender Bassgitarre zusammenfügt, lässt sich auch durch Superman nicht retten. Der Held hängt sein grünes Mäntelchen über die Windmaschine, nachdem er im Video den Selbstmörder wieder und wieder rettet, ihm der Junge in der Realität aber zusammenbricht. Klagend singt ein Trauernder, dazu wird grau verrieselt ein Feuerwerk projiziert. Doch wenig ist an diesem Abend wie es scheint: Das Feuerwerk über den Plattenbauten entpuppt sich als Gefecht.

Zärtlichkeitskitt der kleinen Gesten

Und wieder eine Stimme, eine aus der Vergangenheit: Eine italienische Frau erzählt von ihrer Liebe zu einem Deutschen, die nicht sein durfte, weil ihr Vater im KZ saß und nach seiner Heimkehr die Deutschen hasste. Eine andere Jugend, keine leichtere. Darüber legen sich Bilder und Geräusche vom Abriss.

Tief wird bei "X(ics)" in die Technikkiste gegriffen, werden Videofiktion und Bühnenrealität mal perfekt aufeinander abgestimmt, mal gebrochen. Den drei Frauen und zwei Männern gelingt es, die Brüche durch eine dichte Atmosphäre aus Musik, Lebenskampf und zärtlichen kleinen Gesten zu kitten. Statt einer Geschichte erzeugen sie jenes diffuse, aber überwältigende Gefühl der Ungewissheit zwischen aufbrechender Kraft und einbrechender Schwäche, die die Pubertät ausmacht – unabhängig von den Ursachen der äußeren Probleme, ob Konsumterror oder Systemzusammenbruch, Banlieus oder Wohlstandsopfer, autoritäre Eltern oder Laissez-faire. Am Ende sitzen der Skater, der sich als eine Frau im Gender-Trouble erwiesen hat, und die ergraute Italienerin nebeneinander auf einer Bank und lehnen ihre Köpfe aneinander. Die Generationen sind versöhnt – für diesmal.


X(ics)/ Grausame Erzählungen der Jugend [x.03 Dritte Bewegung] (UA)
vom Ensemble Motus
Buch, Regie, Bühne und Kostüme: Enrico Casagrande, Daniela Nicolò.
Mit: Lidia Aluigi, Silvia Calderoni, Sergio Policicchio, Mario Ponce-Enrile, Ines Quosdorf.

www.theaterderwelt.de/2008 

 

Mehr zum Festival Theater der Welt im Nachtkritik-Archiv? Hier geht es zu unserem Eröffnungsbericht, hier zur Besprechung von Massimo Furlans Fußball-Performance "22. Juni 1974, 21.03".

 

 

Kritikenrundschau 

Andreas Hillger schreibt in der Mitteldeutschen Zeitung (28.6.) über die Produktion "X(ics)" bei "Theater der Welt": "Mit enormer technischer und dramaturgischer Raffinesse" verbinde das italienische Ensemble Motus "vorproduzierte Bild- und Ton-Sequenzen mit Spielszenen – ein düsterer Comic, in dem Details für das Ganze stehen und der Zuschauer das Fehlende ergänzt. Die Helden der Geschichte sind jene Jugendlichen, die sich ihr Selbstbewusstsein auf der Straße verdienen müssen – und die den Kick in harter Musik und in der Gefahr finden." Alles bleibe jedoch "beiläufig wie die unterschwellige Bedrohung und die seltsame Würde, die von diesen Figuren gleichermaßen ausgeht." Nur am Ende, wenn eine italienische alte Frau von ihrer deutschen Jugendliebe erzählt, sei "plötzlich doch viel Pathos im lakonischen Spiel". Und das Publikum sei restlos begeistert gewesen.

Doris Meierhenrich beschreibt Motus' "Neustadt-Recherche! in einem Halle-Zwischenstand-Artikel in der Berliner Zeitung (30.6.08) als "völlig ergebnislos", da die italienische Truppe nur das gefunden habe, "was sie mitbrachte: ihre Sehnsucht nach 'Leere'." Ihr Bühnenfilm zeige bloß "skatende, rockende Jugendliche vor Betonwänden, die überall leben könnten".

     
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