Wenn die Krise schillert

von Thomas Rothschild

Konstanz, 2. Juni 2018. Die Righteous Brothers singen ihre "Unchained Melody", und Karl der Siebente, König von Frankreich, zieht eine Clownerie ab, die an Charlie Chaplin erinnert oder auch an Richard Widmark, der in einer der vielen Verfilmungen des Jeanne d'Arc-Stoffes den Dauphin als ziemlichen Trottel spielt. In Konstanz ist Johanna Link der König, ihr erfolgloser Kampf mit dem Mikrophon, über das sie, zusammenklappend, in alle Richtungen umfallend, eine Ansprache halten soll, bildet den Höhepunkt des Abends, und die Schauspielerin wird mit ihren ständigen Verrenkungen und ihrer ausgeprägten Körpersprache zum Zentrum der Aufführung. Als infantiler König spricht sie wie jemand, der in einem Wienerisch, das er nicht beherrscht, versucht, einen Wiener zu imitieren, der versucht, Hochdeutsch zu sprechen, das er nicht beherrscht.

Gezeigt wird in der Spiegelhalle des Theaters Konstanz "Die Jungfrau von Orleans" – nein, nicht von Friedrich Schiller (das war gestern oder vorgestern), sondern frei, sehr frei nach Schiller. Auf dem Weg von Schiller in die Freiheit ist die fünfaktige "Romantische Tragödie" auf 105 Minuten und das umfangreiche Ensemble auf drei Darstellerinnen und zwei Darsteller geschrumpft. Geblieben ist ein Extrakt, ein Konzentrat. Maggiwürfel statt Rindsuppe.

Moden statt Wunder

Gespielt wird vor und hinter einem blau oder hell angeleuchteten Kettenvorhang, auf dem in großen glitzernden Buchstaben das Wort "KRISE" zu lesen ist. Dessen Bedeutung wird freilich in der Version der "Jungfrau" von Johanna Wehner ebenso wenig erkennbar wie das angeblich aktuelle Motiv der Erschöpfung, auf das die Dramaturgin im Programmheft abhebt. Stattdessen nimmt sich die Inszenierung aus wie eine Travestie, wie die parodistische Abänderung des Stils unter Beibehaltung eines Stoffes. Was Nestroy mit Hebbel gemacht hat, tut Johanna Wehner mit Schiller. Auch der leitmotivisch wiederholte Satz "Es geschehen keine Wunder mehr" – bei Schiller wird er gleich im Prolog von dem Landmann Bertrand geäußert – reicht nicht aus für die Einlösung einer Konzeption.

Jungfrau 3 560 Bjorn Jansen uWelche Krise? Johanna Link, Sylvana Schneider © Bjørn Jansen

Wehner bricht Schillers Verse auf und lässt sie, ergänzt um hinzugedichtete Dialoge, im Tonfall einer Alltagsunterhaltung sprechen. Ausnahmsweise steigert sich das zu einer Sprachkomik, die Schiller in die Nachbarschaft von Karl Valentin oder des Dadaismus rückt, etwa wenn sich die Rede vom "engelländischen Lager" in Wiederholungen überstürzt. Dazwischen dürfen die fünf Mehrfachrollenträger zu Rock'n'Roll-Rhythmen umherhopsen. Spätestens aber wenn Fatboy Slim – zugegeben, mitreißend – "I have to praise you like I should" singt und die Damen und Herren auf der Bühne dilettantisch mittelmäßige Choreographien zelebrieren, kommt der Verdacht eines Zugeständnisses an eine Mode auf, das keinerlei Funktion erfüllt.

Johannas fremde Ernsthaftigkeit

Vier Darsteller beschmieren sich mit Blut und sterben schrecklich komisch vor der starren und herzlosen Jungfrau von Orleans. Die einzige Figur, die ernst genommen wird, ist diese Johanna, und gerade deshalb wirkt auch sie im etablierten Kontext unfreiwillig komisch. Gegen Ende ist Johanna nicht mehr als eine Phrasendrescherin, eine Maulhure von männlichem Ausmaß. Nicht allein der Helm deutet darauf hin, dass "ein männlich Herz" Johannas Brust verschließt. Nichts dagegen deutet auf den Standesunterschied zwischen Johanna und dem König mitsamt seiner Entourage hin. Das Bühnenpersonal trägt über weite Strecken moderne Kleidung. Die sozialen Implikationen der Fabel werden wegretuschiert.

Jungfrau 1 560 Bjorn Jansen u... sehr frei nach Schiller. Sylvana Schneider, Jörg Dathe © Bjorn Jansen

Karl der Siebente verabschiedet Jeanne d'Arc, die ihm militärische Siege eingebracht hat. "War das alles nur ein langer Traum?" fragt sich Johanna. Die Illusion, in der sie gelebt hat, scheint zu weichen, als dem untreuen König Karl dem Siebten zugejubelt wird. Aber das Ensemble enthält seinem Publikum "das schöne Ende" nicht vor. Bei Schiller steht der Satz im 3. Akt, ziemlich genau in der Mitte des Dramas: "Mir soll der Mut nicht weichen." Dass Johanna Wehner ihn ans Ende stellt – ist es Überzeugung oder Ironie? Vom Widerstand gegen die Erschöpfung bis zum Selbstbetrug ist es nur ein kleiner Schritt.

Es hat wohl seine Gründe, dass der Stoff aus dem 15. Jahrhundert auch nach Schiller immer wieder bearbeitet wurde, im Film ebenso wie auf der Bühne. Er lässt vielfältige Deutungen zu, weist verschiedenartige Aspekte auf, vom Patriotismus über den Heldenmut bis zur Macht des Glaubens und dem Festhalten an der Wahrheit unter dem Druck von Verfolgung und Folter. Johanna Wehner fügt den Sichtweisen in Konstanz keine neue hinzu. Bleibt ein immerhin in Teilen unterhaltsames Spiel mit den Versatzstücken einer mehr oder weniger bekannten Fabel. Es erspart einem jungen Publikum weitgehend die Mühen von Schillers Text. Ob das mehr Gewinn als Verlust bedeutet, ist eine Frage des Ermessens.

Die Jungfrau von Orleans
frei nach Friedrich Schiller
Regie und Bühne: Johanna Wehner, Kostüme: Miriam Draxl, Dramaturgie: Laura Ellersdorfer, Licht: Shara Werschke.
Mit: Johanna Link, Sylvana Schneider, Katrin Huke, Julian Härtner, Jörg Dathe.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.theaterkonstanz.de

 

Kritikenrundschau

"Schillers romantische Tragödie 'Jungfrau von Orleans' erhält in der Spiegelhalle des Konstanzer Stadttheaters einen heutigen Spass-Anstrich", schreibt Maria Schorpp im St. Gallener Tageblatt (4. 6. 2018), wo sie die Inszenierung als "weithin treffsicher" lobt. Regisseurin Johanna Wehner lässt aus ihrer Sicht "die Schauspieler diese Auftritte ausführlich und mit lustvollem Spass am Untergang zelebrieren." Besonders wie Johanna Link König Karl als Oberhampelmann zeigt, erfreut diese Kritikerin.

 

Kommentare  
Jungfrau von Orleans, Konstanz: erstaunlich
Das ist erstaunlich, das dem Schiller konzeptionell nicht hinzugefügt wurde, und das sich die "Krise", auf dem Vorhang die ganze Spielzeit sichtbar, nicht einlöste. Und auch dass Sie, lieber Thomas, nichts von der Müdigkeit und Erschöpfung mitbekommen haben, wobei die Gruppe die da am Anfang rauskam, mit den ersten gesprochenen Sätzen nicht mehr weiter wußte und sofort wieder gehen wollte. Die Bedeutung von Krise und Müdigkeit erschien ihnen im Kontext von Johanna, der einzigen Person, die ungebrochen etwas versucht, die für etwas kämpfen will und kämpft, während alle anderen rumlavieren, nichts tun können oder wollen, nicht erkennbar? Dabei haben Sie das ganz nett beschrieben, diejenige die ernsthaft etwas versucht, die sich nicht rechtfertigt sondern handelt, wirkt lächerlich. Vielleicht haben Sie mehr erkannt, als Sie dachten, aber ich habe die Befürchtung, da Sie die Inszenierung offensichtlich nicht mochten, dass Sie gar nicht mitbekommen haben, wieviel Sie verstanden haben. Wie dem auch sei, es gibt auch sehr gute Maggisuppen, und diese Johanna in Konstanz ist so eine - was für eine tolle Inszenierung, was für ein leichter, komischer und trotzdem ernsthafter Versuch, diesem Stoff etwas unpathetisches, heutiges abzugewinnen, und besonders - was für großartige Schauspieler, allesamt und eben auch die die tolle Sylvana Schneider, deren Darstellung der Johanna alles andere als lächerlich ist, sondern berührend und groß.
Und jetzt meine Kritik zu ihrer Kritik - die unzynische Darstellung einer zynischen Welt wird leider verwechselt mit Konteptionslosigkeit, Beliebigkeit und Travestie, obwohl ich Ihnen die Travestie gebe, die ist doch ein legitimes theatralisches Mittel, doch sie beschränken die Inszenierung auf diesen Teil, und die ist eben so viel mehr. Lustig, traurig, berührend, seltsam und null beliebig. " Vom Widerstand gegen die Erschöpfung bis zum Selbstbetrug ist es nur ein kleiner Schritt." Ihre Beschreibung ist so schön, sie haben nur nicht gemerkt das genau diese Frage die Inszenierung stellte, für mich wenigstens. Einen Dank für ihre Beschreibung, ich widerspreche allerdings großteils ihren Schlussfolgerungen. Schönen Sonntag.
Jungfrau von Orleans, Konstanz: toll?
Eine Anmerkung zum Grundsätzlichen: Meine Frau hat eine fast dreijährige Enkelin. Kürzlich sagte eine Bekannte zu ihr: "Du bist aber groß!" Worauf die große Kleine erwiderte: "Der Papa ist groß, nicht ich." Beide hatten recht. Die Erwachsene hat das Kind in Relation zu Gleichaltrigen gesetzt, das Kind sich selbst in Relation zum Vater. Es hat seine Berechtigung, wenn Zuschauerinnen und Zuschauer am Ort ihre Schauspieler "allesamt" als "großartig" oder "toll" bezeichnen. Wie aber soll die nachtkritik damit umgehen, die das (deutschsprachige) Theater in seiner Gesamtheit im Blick hat? Welche Attribute sollen ihre Kritiker - sagen wir: - für das Ensemble von Thorsten Lensing wählen, wenn "großartig" und "toll" bereits verbraucht sind? Vielleicht sollten wir uns einigen, ob auf nachtkritik mehr oder weniger verbindliche Maßstäbe gelten, oder ob sie als relative zu verstehen sind, je nachdem, um welchen Ort, um welches Theater es sich handelt. Dann wäre die Enkelin tatsächlich groß, größer vielleicht sogar als der Papa. Es ist ja wahr: für die Schauspielerinnen und Schauspieler und für jene, die ihnen, als Kritiker oder als "normale" Zuschauer, in die Augen sehen müssen, sind lobende Superlative angenehmer als zurückhaltende Qualifizierungen. Wahr ist aber auch, dass ihre inflationäre Verwendung sie am Ende wertlos macht. Wo alles großartig ist, ist nichts mehr großartig. Die Enkelin hat begriffen, dass, was als Bewunderung gemeint war, die Unterschiede verwischt. Was aber, wenn nicht Unterscheidung, wäre Kritik?
Die Jungfrau von Orleans, Konstanz: Größe
Aber lieber Herr Rothschild, das würde ja bedeuten, es gäbe irgendwo einen („mehr oder weniger verbindlichen“)Kanon der Maßstäbe! Das wäre ja mal wirklich und voll verbindlich großartig!
Ich sehe immer schon an großen Häusern viele Schauspieler, die ich verehre und ein paar wenige, die Ihr Diplom scheinbar ausm Kaugummiautomaten gezogen haben. Genauso sehe ich dort Inszenierungen, die nachhaltig beeindrucken, beglücken, verändern und ab und an Abende, die meinem Anspruch absolut nicht genügen.
Und genauso ist das an kleineren Häusern. Vielleicht ist die Quote ein wenig anders, aber es gibt auch an kleinen Theatern großartige Schauspieler (weil die Lebensumstände es so wollten...weil der Charakter zu stark war....weil eh 90% Glück sind und der kleine Rest nur Talent...)und großartige Inszenierungen.
Und, zurück zu den verbindlichen Maßstäben: Ich gehe in einen Theaterabend und sehe etwas völlig Anderes als Sie! Und als Ihre Frau oder Ihr Mann oder meine Frau oder mein Mann! Da kann es gar keine verbindlichen Maßstäbe geben, weil es so viel mit dem eigenen Wesen zutun hat. Sonst würden die Schauspielschulen ja auch homogener ausbilden können.
Sie müssen in Ihre Kritik natürlich bitte auch Ihre Meinung einfließen lassen, sonst schlafe ich vor dem fünften Satz ein! Ich hinterfrage nur Ihren Kommentar.
Kommentar schreiben