Familiäre Feuchtgebiete

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 3. Juni 2018. Heiße Küsse zwischen Bruder und Schwester, ein Mixgetränk namens "Kalte Muschi", die erste Menstruationsblutung unter den Augen des Vaters, ein kurioser Selbstmord in einer Badewanne voller Markensportschuhe: Es sind recht skurrile Details, mit denen Tanja Šljivar in ihrem Stück "Vor solchen wie uns haben uns die Eltern immer gewarnt" zu überraschen weiß. Das Stück hatte jetzt in der Spielstätte Nord des Staatsschauspiels Stuttgart Premiere – im Rahmen einer kleiner Reihe, die sich im Vorfeld des Stuttgarter Theaterfestivals "The Future of Europe" mit dem Thema Europa beschäftigt.

Aber eigentlich hat das Stück nicht wirklich etwas zum Thema Europa beizutragen – außer dass die Autorin 1988 in Banja Luka, heute Bosnien und Herzegowina, geboren wurde. Vielmehr geht es darin um allerlei deprimierendes allgemein Zwischenmenschliches.

VorSolchen1 560 BjoernKuhl uDie 2 von der Raststätte: Manja Kuhl, Ferdinand Lehmann © Björn Kuhl

Das Stück für zwei Personen ist raffiniert gebaut. Eine Frau und ein Mann treffen auf einer Raststättentoilette irgendwo in Bosnien zusammen und erzählen sich traurige Geschichten, wie sie das Leben halt so schreibt: über nicht erfüllte Sehnsüchte, übers Scheitern, übers Erwachsenwerden, über ziemlich peinliche Situationen in der Pubertät. Aber man kann es auch ganz anders sehen: als einen Erinnerungsreigen zweier Personen, die in unterschiedliche Rollen schlüpfen und die Geschichte einer – sagen wir mal – dysfunktionalen Familie nachzeichnen. Eine Art Familienaufstellung in Mini-Besetzung. Dann wäre die öffentliche Toilette – nach einem Sponti-Klospruch ist das Stück ja auch benannt – nur eine Metapher.

Inzestuöses Knutschen

Alles beginnt mit dem Tod des jungen Mannes, der sich die Pulsadern aufgeschnitten hat – mit Hilfe des Geräts, "mit dem sich die Mutter sonst die Achseln rasiert". Dann geht es rückwärts: Da gibt’s inzestuöses Knutschen mit der Schwester, und auch die Beziehung zur alleinerziehenden Mutter, die ihre Sehnsüchte ansonsten vor allem in viel Wodka ertränkt, scheint nicht ganz natürlich.

Und dann ist da die elfjährige Tochter, die erstmals ihren Vater aufsucht, der sich einst aus dem Staub machte. Und just in diesem Augenblick geht es los mit der ersten Menstruationsblutung – womit der Vater erwartungsgemäß noch weniger als nicht zurechtkommt. Schließlich geht's dann auch noch um Sex zwischen einer älteren Frau (45) und einem jüngeren Mann (17). Sie zahlt "55 Mark", inklusive "Anfassen der Brüste und der Klitoris, wenn er sie findet".

VorSolchen2 560 BjoernKuhl uGanz langsam dreht sich ihre Erde: Manja Kuhl, Ferdinand Lehmann © Björn Kuhl

Diese Psycho-Vermischung von Familiengeschichte, Blut, körperlichen Ausscheidungen, Sex, kurz: diese familiären Feuchtgebietserkundungen, könnten schnell peinlich und platt wirken. Aber das verhindern Manja Kuhl und Ferdinand Lehmann, die gekonntes Darstellertheater bieten. Sie wechseln mit Bravour die Charaktere, werfen sich routiniert in Crescendi von leise bis schreiend oder belustigen durch Hüpfakrobatik, wenn es etwa um den Drang der Tochter geht, zwecks Nähe in den Armen des Vaters zu landen.

Staubige Erde

Und Regisseur Péter Sanyó, sonst Regieassistent am Stuttgarter Schauspiel, hat aufs richtige Pferd gesetzt: auf Abstraktion und Zeitlosigkeit. Kein Theaterblut fließt, wenn es um die arg ausgebreitete Menstruationsblutungsszene geht. Und keine Kotze gibt's, wenn "Kalte Muschis" getrunken werden. Nur die Erde staubt, wenn sich die beiden hineinwerfen.

Bühnenbildnerin Daina Kasperowitsch hat das Ganze in ein ödes Nirgendwo verortet und einen Betonpfeiler ins braune Erdreich gerammt. Die Drehbühne rotiert im Schneckentempo einmal um die eigene Achse, bis sie am Ende wieder dort haltmacht, wo sie am Anfang stand. So verändert sich die Szenerie, fast ohne dass man es merkt. Sehr raffiniert ist auch der Soundteppich: eine feine Collage aus Störgeräuschen und Atmosphäre – aus Motorenaufheulen, Metallschlägen, Klingelgeräuschen, tropfendem Wasser, Uhrenticken, Sphärenklängen, Kinderschreien, Vogelzwitschern. Das ist richtig gutes Theater.

 

Vor solchen wie uns haben uns die Eltern immer gewarnt
von Tanja Šljivar
aus dem Serbokroatischen von Mascha Dabić
deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Péter Sanyó, Bühne: Daina Kasperowitsch, Kostüme: Svea Schiemann, Komposition: PC Nackt, Musikprogrammierung: Ben Lauber, Robotic: Daniel Schröteler, Licht: Gregor Roth, Dramaturgie: Carmen Wolfram, Franziska Baur.
Mit: Manja Kuhl, Ferdinand Lehmann.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

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