Echtwelt trifft Multioptionswirklichkeit

von Petra Kohse 

Berlin, 7. Mai 2007. Der Regisseur Nicolas Stemann hat sich in seiner Inszenierung von Elfriede Jelineks RAF-Stück Ulrike Maria Stuart nicht um historische Authentizität gekümmert. Auch zeitgenössische Authentizität war ihm egal, und als ihn die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz während der Proben anrief und ihm ankündigte, ihn zu verklagen, weil sie in dieser Inszenierung als sprechende Vagina vorkomme, fiel er aus allen Wolken.

"Aber damit sind ja nicht Sie als Person gemeint", habe er bestürzt gerufen, und sie hätte geantwortet; "Aber wer soll denn das sonst sein?!" Genau diese Freiheit des Wer-soll-denn-das-sonst-sein sei es jedoch, die er in der Kunst beanspruche. Die Freiheit, das Zeichen von der Bezeichneten zu lösen.

An dieser Stelle des Podiumsgesprächs im Haus der Berliner Festspiele am Montagabend waren noch keine Fragen vorgesehen, und so blieb offen, wie sich Nicolas Stemann die Lage von jemandem vorstellt, dem zugemutet wird, die Deutungshoheit über seine eigene Zeichenhaftigkeit abzugeben. Vermutlich hätte er gesagt, dass das der Gang der Dinge sei. Wie er sowieso nicht gewillt war, sich irgend etwas vorzuwerfen von seiner Inszenierung, die sowohl die Heroisierung als auch die Dämonisierung der RAF unterminiere und damit, das sagte er natürlich nicht so direkt, das definitiv letzte Wort zum Thema sei.

Stemann: softer Superstar

Tatsächlich erfuhr Stemann von den Mitdiskutierenden eifrige Hochschätzung. Von dem Rechtswissenschaftler und RAF-Beobachter Uwe Wesel, der verblüfft war, wie genau Stemann die hektische Hemmungslosigkeit der Protagonisten ("Das waren Desperados!") intuitiv getroffen habe. Von dem moderierenden Theaterkritiker Peter von Becker, der von Stemann in genuschelten Halbsätzen eines Verrisses verdächtigt wurde und sich dann in zahlreichen Hauptsätzen bemühte, die zugrundeliegende Verwechslung aufzuklären.

Und sogar von seinem Regie-Kollegen Andreas Kriegenburg, der mehrfach zum Fachgespräch anhob – etwa über den Umstand, dass einem als Theatermacher dramaturgische Emotionalisierungen oft als politische Kommentare ausgelegt werden –, damit aber nicht durchdrang. Vielleicht, weil das vom RAF-Thema weggeführt hätte. Nicolas Stemann: softer Superstar an diesem Abend, an dem die "Diskussion I" des Theatertreffens zu "Freund- und Feindbildern zwischen Ästhetik und Realität" stattfand. Als zweiter Mann der Realitäts-Fraktion war der Berliner Innensenator Erhart Körting aufs Podium gekommen. Aber der hatte "Ulrike Maria Stuart" nicht gesehen und geht ohnehin lieber in die Oper.

Bolschewistische Splittergruppen und so

Ästhetik und Realität. Die sind nicht leicht zu trennen. Zumal für Leute, deren Realität die Ästhetik ist. Kriegenburg, dessen Hamburger Sartre-Inszenierung Die schmutzigen Hände vom heutigen Dienstag an im Haus der Berliner Festspiele gastiert, wurde von Becker gefragt (sinngemäß), was ihn denn daran gereizt habe, diese Mottenkiste politischer Grabenkämpfe aufzuklappen. Worauf der Regisseur emphatisch davon sprach, dass das Stück doch geradezu brisant sei in einer Zeit, in der die Große Koalition das Zentrum befriedet habe und sich an den Rändern wieder "bolschewistische Splittergruppen" bildeten. Überhaupt würde "das Politische spürbar an den Küchentisch zurückkehren".

Die Echtweltmänner nickten erst. Als Stemann aber erstaunt sagte, er selbst hätte von einer Radikalisierung noch gar nichts mitbekommen, ruderten sie rasch wieder zurück ("letztlich nicht messbar"), und bei genauerer Befragung stellte sich heraus, dass es nur eine einzige bolschewistische Gruppe war, von der Kriegenburg von einem Hospitanten gehört hat und deren Namen ihm nicht mehr einfiel.

Fluchtpunkt Kittelschürze

Was künstlerisch nichts zur Sache tut. Die Tendenz mag stimmen und die Arbeit kann allemal von der Sehnsucht nach dem Verhandelten handeln. Auch blieb die Veranstaltung selbst in der notorischen Bemühung, nach Haltungen zur RAF zu schürfen, nicht ganz ohne Anekdoten. Kriegenburg etwa, 1963 in Magdeburg geboren, erzählte, dass es ihn mit "vergnügtem Mitleid" erfüllt hätte, nach der Wende von den in der DDR untergetauchten RAF-Mitgliedern zu erfahren. "All diese gewesene Radikalität, die dann, genau wie wir, jeden Morgen in der Kittelschürze antreten musste..."

Schön auch, wie Körting, vom Moderator vorwurfsvoll nach seiner Theaterbesuchsfrequenz befragt, zurückfragte, wie es denn um das tagespolitische Engagement der Regisseure bestellt sei und Stemann etwas von studentischer Mitverwaltung murmelte.

Es ist schon so: In der arbeitsteiligen Multioptionswirklichkeit spiegelt Theater-Ästhetik manchmal Befindlichkeiten, und das ist dann immer schon viel. Realität, wenn man sie nicht als wiederum nur zu vermittelnde Summe von Fakten versteht, sondern als Erfahrung, ist scheuer. Sie lässt sich nicht als Verweisebene ans Theater engagieren. Aber sie stellt sich manchmal plötzlich selber her an einem Abend für einen Moment. Das ist dann das, wofür es sich lohnt.

 

www.berlinerfestspiele.de/theatertreffen

Kommentare  
tt-Diskussion 1
Die Realität ist scheuer? Das verstehe ich nicht, obwohl es irgendwie gut klingt. Scheuer? Wovor scheut sie zurück? Und wurde bei dieser Diskussion gar nicht diskutiert? Auch lauter scheue Wesen am Tisch da?
tt-Diskussion 2
Ja, ich gebe im letzten absatz Frau Kohse völlig recht.Wegen genau dieser Momente verwandelt sich das Theater doch ain eine Art Jägersausguck, auf dem der Zuschauer dem schüchternen Rehkitz REALITÄT beim ersten Grasen zuschaut!
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