Braunschweig, 7. Juni 2018

Wo die Deutungshoheit herkommt

von Milisuthando Bongela

Warum gehört meine Kultur einem Museum und nicht mir? Diese Frage durchzieht alle meine Arbeiten. Egal ob ich schreibe, herausgebe, lese, höre, Filme mache, auf die ein oder andere Art Kultur rezipiere oder produziere, immer kehre ich zu ihr zurück. Sie ist eine Art Saudade, eine Sehnsucht, um die sich mein Interesse dreht, wenn ich Dinge archiviere und dokumentiere. Ohne meinen Status quo zu hinterfragen, als Afrikanerin, als Schwarze, als feministische Cis-Frau, als Arbeiterin, als Englischsprechende in postkolonialen und post-Apartheids-Verhältnissen, kann ich mich in dieser Unzahl von Realitäten, die das heutige Afrika ausmachen, unmöglich zurechtfinden. Anders gesagt, ich kann meinen Job nicht machen.

Meine gesamte Lesart der sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Zustände heute und früher wurzelt nämlich in Leerstellen (von Geschichten, Land, Wissen, Kulturen), was wiederum meine Arbeit als Kulturjournalistin prägt. Niemand hat mir Kulturjournalismus beigebracht. Ich habe ihn in zehn Jahren Berufspraxis gelernt, ohne Anleitung, ohne Finanzierung und ohne Scheuklappen.

Darin besteht die größte Schwierigkeit in der Ausübung von Kulturjournalismus in Afrika: Das Fach wird nirgendwo gelehrt. Bis zum November 2017 hatte ich den Begriff "Kulturjournalismus" noch nie gehört, geschweige denn benutzt, obwohl ich einen Abschluss in Journalismus an der führenden Journalistenschule Südafrikas (Rhodes University) habe. Warum? Verglichen damit, mit welch hohen Summen Journalismus in den Bereichen Investigatives, Nachrichten, Wirtschaft, Politik und Gesundheit finanziert wird und welchen Rang sie in der Öffentlichkeit haben, musste ich lernen, dass Kulturjournalismus viel weniger institutionalisiert ist – nicht nur in Afrika, sondern weltweit.

Kunst heißt oft Promi-News

Es gibt in Afrika unzählige Programme, in denen das Schreiben von Fiction und Non-Fiction unterrichtet wird. Es bestehen sogar einige Film-, Mode- und Kunsthochschulen. Aber es gibt keine etablierte Institutionen, die Schriftsteller und Journalisten gezielt zu Kulturjournalisten ausbilden. In den Medienhäusern, in denen junge Journalisten die praktische Arbeit lernen, wird Kunst und Kultur in weiten Teilen auf lifestylige "Unterhaltung" reduziert, also auf Promi-Nachrichten und Skandale zur Auflagensteigerung. Es gibt so gut wie keine Orte, an denen Journalisten, Geschichtenerzähler und Kulturarbeiter lernen können, Kritiken, Kolumnen, Glossen oder Essays zu schreiben, über Themen wie Musik, Fotografie, Film, Malerei, Ernährung, Esoterik und Reisen. Nimmt man Recherchekompetenz und das Durchdringen von Förderstrukturen und Vergaberichtlinien hinzu – schon hat man ein mögliches Curriculum grob umrissen.

Theaterformen WatchWriteRedaktion 560 Ayodeji RotinwaVersuch eines panafrikanischen Netzwerks: die "Watch & Write"-Redaktion bei den
Theaterformen 2018 in Braunschweig © Ayodeji Rotinwa

Das zweite Problem von afrikanischem Kulturjournalismus ist das Fehlen von verbindlichen Richtlinien, Standards und Vorbildern, die als Grundlage zur journalistischen Arbeit ausformuliert, angewandt und verbreitet werden. Kulturjournalismus ist eine durchlässige Form des Journalismus. Fast jeder, der eine Meinung hat, kann sich daran versuchen und schnell zu einem Experten werden. Denn es gibt keinen verbindlichen Kriterienkatalog. In meiner jahrenlangen Arbeit (bei der ich oft gekämpft habe, "gut" zu sein, weil es eben keine Anleitung und Ausbildung gibt) musste ich mir nie die Frage stellen, welche Rolle Kulturjournalismus spielt – im Feld des Journalismus, aber auch in einer Demokratie. Obwohl ich Kulturjournalismus immer außerhalb jeder offiziellen Rahmenstruktur betrieben habe, denke ich, seit ich mit dem Begriff vertraut bin, über diese Bezeichnung nach – und darüber, welche Fragen wir stellen müssen, um die Professionalisierung dieses Bereichs voranzutreiben.

Eine dieser Fragen ist: Wer hat in Afrika das Recht, über Kultur zu berichten? Wer setzt die Standards dafür, wie über Kultur in Afrika berichtet werden sollte? Es gibt einige Nachrichtenportale und Zeitschriften in amerikanischem und europäischem Besitz, die auch über Kunst in Afrika berichten, und die gegenwärtig die Hauptquelle für Nachrichten zu afrikanischer Kunst und Kultur sind. Es handelt sich um Websites wie OkayAfrica, Arts.Black, C& und Nataal, sowie zu einem gewissen Grad um Magazine wie i-D. Gemessen an globalen Standards sind das hinsichtlich des Inhalts, der Themenauswahl und des Stils hochqualitative Websites. Doch sind sie weder in Afrika gegründet, noch sind sie in Afrika angesiedelt, noch werden sie aus afrikanischen Mitteln finanziert. Sie bieten Raum für wichtige Besprechungen und Reportagen über verschiedene Schauplätze auf dem Kontinent, aber privilegieren Journalisten von außerhalb. Sie sind dann die "ersten" Stimmen und haben so Deutungshoheit über Ereignisse in Afrika. Oder ortsansässige Autoren werden engagiert, um für die Websites in Übersee zu schreiben oder um als Mittelsmänner den Journalisten in Übersee von Vorkommnissen zu berichten. Wie kann unter diesen Bedingungen eine Subkultur, Community, Bewegung oder Nation ihre eigenen Geschichten erzählen? Und welche Auswirkungen hat das auf die Professionalisierung des Kulturjournalismus auf dem Kontinent?

Kulturjournalismus dient auch als Archiv

Neben solchen Fragen zur journalistischen Praxis ist auch zu überlegen, was der unterentwickelte Zustand des Kulturjournalismus für die Bewahrung, Wertschätzung und Rolle der Kunst in einer Gesellschaft bedeutet. Die vielleicht größte Herausforderung für die Künste in Afrika besteht nicht darin, dass wir nicht genügend finanzielle Unterstützung haben, um sie zu entwickeln. Sondern darin, dass wir es nicht geschafft haben, die wertvollen Kulturleistungen von Jahrhunderten zu archivieren, die im Bereich Musik, Malerei, Skulptur, Literatur, Architektur, Fotografie, Mode, Schönheitspflege, Ernährung und Film erbracht worden sind. Wir haben den Künsten einfach keinen Wert beigemessen, selbst für uns Afrikaner. Die meisten wertvollen Sammlungen afrikanischer Kunst befinden sich in Museen und Privatsammlungen auf anderen Erdteilen – und schaffen so dauerhafte Lücken zwischen den Menschen auf dem afrikanischen Kontinent (und in der Diaspora) und ihrem Erbe und ihren Geschichten. Wenn wir Menschen dazu ermächtigen, vom Kontinent aus über den Kontinent zu berichten, und zwar für ein Publikum auf dem Kontinent, dann helfen wir damit, diese Lücken für zukünftige Generationen zu schließen.

Schließlich komme ich zurück zu der eingangs gestellten Frage "Warum gehört meine Kultur einem Museum und nicht mir?". Ist es nicht Aufgabe des Kulturjournalismus, subalterne Erfahrungen aus post-kolonialen und post-Apartheids-Verhältnissen zu dekonstruieren? Oder sollten wir einfach nur berichten und rezensieren? Wie können wir den Menschen helfen, sich und ihre Lebensumstände besser zu verstehen? Ist das unsere Rolle als Kulturjournalisten? Und beinhaltet das auch die Modalitäten zur Erhaltung von Kultur? In einer sich schnell globalisierenden Welt verschwinden die alten indigenen Kulturen in alarmierender Geschwindigkeit; einerseits weil die Menschen mit bestimmtem kulturellen Wissen sterben, zum anderen weil der Kulturimperialismus im Rahmen des neoliberalen Kapitalismus erfolgreich voranschreitet und weil die Menschen sich einfach nicht mehr für die indigenen Kulturen interessieren. Spielt der Kulturjournalismus eine Rolle, wenn es darum geht, Räume für Kulturen zu schaffen, damit sie überleben?

Als ich überlegte, was ich über den Kulturjournalismus in Afrika schreiben könnte, hatte ich gehofft, Ideen dafür zusammenzustellen, wie sich Netzwerke für Kulturjournalismus auf dem Kontinent entwickeln lassen. Doch glaube ich, dass es wichtiger ist, erstmal zu erklären, warum es solche Netzwerke braucht. Wie bei jeder guten Idee, die sich entwickelt, macht es mir Spaß, über diese Frage laut nachzudenken, so wie wir es bei "Watch & Write" gemeinsam tun. Egal welche Ziele wir uns setzen, um Richtlinien für den Kulturjournalismus in Afrika zu entwickeln: Erstmal müssen wir uns fragen, wo der Kulturjournalismus heute steht und wohin wir ihn in Zukunft bringen wollen.

 

Milisuthando Bongela 80Milisuthando Bongela (Südafrika) arbeitet als Kulturredakteurin für die Zeitung Mail & Guardian und hat für ihre Arbeit mehrere Preise erhalten. Derzeit arbeitet sie an einem Dokumentarfilm über schwarze Identität in Südafrika.


 

Here you can read the English original of this article. Deutsche Übersetzung: Bochert Translations (Andreas Jandl).


Der Text ist im Rahmen des Journalist*innen-Projekts "Watch & Write" des Festivals Theaterformen entstanden und wird im Rahmen einer Medienkooperation auf nachtkritik.de veröffentlicht. Er ist nicht Teil des redaktionellen Programms von nachtkritik.de.

Kommentare  
Watch and Write, Deutungshoheit: Übersetzung
Wer hat denn die Übersetzung gemacht? - Das "is" im Eingangszitat der Autorin MUSS nicht mit "gehört" übersetzt werden, was eindeutiger auf "Besitz" in der präferierten Auslegung der Bedeutung rekurriert. Als zum Beispiel "ist", was eher auf Verinnerlichung und Vorhandensein eines kulturellen Bewusstsein hinweisen würde...
Abgesehen davon, dass "Kultur" ein Abstraktum ist und daher gar niemandem gehört. Weder einem Museum noch einer Person.
Watch and Write, Deutungshoheit: Übersetzungsidee?
Richtig analysiert - aber was schlägst du vor für die Übersetzung der englischsprachigen Frage "Why is my culture in a museum and not on me"?
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