Ich bin ein Mensch, holt mich hier raus!

von Martin Krumbholz

Köln, 8. Juni 2018. Die staunenswert lebensechte, vergrößerte Nachbildung des Schauspielers Bruno Cathomas, die da am Boden des Depots liegt, schläft nicht. Sie blickt uns an. Die beiden Schauspieler, die auf der Figur liegen, Kate Strong und Bruno Cathomas, schlafen. Sie wirken winzig auf dem massigen Leib der Cathomas-Figur, wie Zwerge oder Püppchen. Der Riese sieht uns den ganzen Abend aus großen Augen an, und man wartet eigentlich darauf, dass er aufsteht und mitspielt. Denn ehrlich gesagt, zuzutrauen wäre so etwas dem Wunderkind Ersan Mondtag ohne weiteres. Beweis: Wenn man ganz genau hinschaut, wird man gegen Ende der Vorstellung bemerken, dass eine der blond-weißen Skulpturen in ihrer Vitrine hinten auf der Bühne sich kurz bewegt und ihre Position verändert, bevor sie wieder erstarrt. Im Mondtag-Theater ist alles möglich, das Tote lebt und das Lebende ist, naja, scheintot.

Die Maschinen schlagen zu

Der Regisseur hat Sibylle Bergs dystopisches Szenario über den Triumph der künstlichen Intelligenz und die Unterwerfung der biologischen Existenz aus Fleisch und Blut in ein Museum verlegt. Wo normalerweise das Alte aufbewahrt und der Erinnerung der Menschheit anvertraut wird zeigt uns nun eine schaurige Zukunft ihr grässliches Haupt. Die "Person unklaren Geschlechts" – Mondtag macht ein Paar daraus – sieht sich einem Chor von Robotern ausgesetzt, die mit abgezirkelten Bewegungen und falschen Betonungen die Person beziehungsweise das Paar in einen regulierten Alltag zwingen, bestehend aus Pillenschlucken, gymnastischen Übungen und einem sinnlosen Konkurrenzkampf der Wettbewerber in diesem Dschungelcamp der Zukunft.

wonderland1 560 Birgit Hupfeld uSchöne neue Welt © Birgit Hupfeld

Mondtags Bühne ist grandios und weit interessanter als noch das düsterste Detail aus Bergs Menschenpark-Fantasie. An der Stirnfront der Saalflucht blickt uns eine Burkaträgerin entgegen. An den Wänden hängen prominente, leicht verfremdete Exponate der Kunstgeschichte, Cranachs Adam und Eva, ein Vermeer, ein Munch, ein Höllensturz, auf vielen Bildern erscheint wiederum das Abbild Cathomas‘, kurz: man erblickt Adam und Eva in vielen Varianten, so auch in den beiden überlebensgroßen Skulpturen in der Mitte des Saals, deren eine daliegt wie eine Duane-Hanson-Figur, während die andere, die weibliche, mit verhülltem Kopf auf einem Podest steht. Viel ist hier zu sehen und zu enträtseln.

Kein Spannungsbogen

Zur überreichen optischen Ausstattung des Abends zählen auch die fantastischen Kostüme von Josa Marx, von den irrwitzigen, gar nicht uniformen Verkleidungen der Roboter bis hin zu Cathomas’ dandyhaftem Outfit mit Rüsche und Rosette – jedes Detail ist klug durchdacht und mit witzigen Applikationen versehen. Allem Anschein nach will die Regie mit enormem Einsatz und Aufwand die Ödnis der Textwüste aufpeppen, denn Bergs Werk ist weniger eine brauchbare Vorlage fürs Theater als ein gesinnungsethischer Diskurs für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Seine Dramaturgie ist vollkommen statisch, entbehrt eines Spannungsbogens, und gemessen daran ist dieser Abend ein Wurf. Besonders auch deswegen, weil die fünf Roboter, darunter Sophia Burtscher, ihre eigentlich austauschbaren Rollen großartig spielen, im Wechsel aus diktatorischer Geste, verführerischen Ansagen und einem hochmütig-ironischen Lächeln, das mehr erzählt als viele Worte.

wonderland2 560 Birgit Hupfeld uAllein unter Robotern © Birgit Hupfeld

Strong und Cathomas, die gegen die (meist) sanfte Diktatur den Aufstand proben, zwischen zähneknirschender Unterwerfung und zwecklosem Protest, haben es dagegen schwer. Im Schweiße ihres Angesichts schleppen sie den zähen Text voran, Cathomas sucht öfters die Anschlüsse, Strong gestikuliert wie ein Teufel, was die Regie der tapferen Frau offenbar nicht austreiben konnte oder wollte – ein Schauspielerregisseur ist Ersan Mondtag definitiv nicht. Die – allerdings auch deutlich zur Schau getragene – Brillanz des Settings, seine sich nie erschöpfende Ausdrucks- und Überwältigungslust, sozusagen das Gesamtkunstwerk als solches ist weniger an Themen oder an lebenden Menschen interessiert als an der Überwältigung des Zuschauers durch die Vielfalt der Reize. Womöglich ist dieser selbsternannte Meister aller Klassen auch deswegen der perfekte Regisseur für Roboter. Sie fügen sich, sind hübsch anzuschauen und bedürfen keiner Seelen. So konzentriert man sich aufs Wesentliche, das Detail im Detail im Detail. Das ist, an diesem Abend jedenfalls, gar nicht so wenig.

Wonderland Ave.
von Sibylle Berg
Uraufführung.
Regie/Bühne: Ersan Mondtag, Kostüme: Josa Marx, Musik: Beni Brachtel, Licht: Rainer Casper/Michael Frank, Dramaturgie: Sibylle Dudek.
Mit: Bruno Cathomas, Kate Strong, Sophia Burtscher, Jonas Grundner-Culemann, Elias Reichert, Sylvana Seddig, Nikolay Sidorenko, Statisterie.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielkoeln.de

 

Kritikenrundschau

Wi­der­stand ist al­so kaum zu er­war­ten, wenn die Künst­li­che In­tel­li­genz den Pla­ne­ten über­nimmt, das zu­min­dest pro­phe­zeit Si­byl­le Berg in ih­rem neu­en dys­to­pi­schen Thea­ter­stück, schreibt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (11.6.2018). Berg sei be­rüch­tigt für er­schla­gen­de Zeit- und Mensch­heits­dia­gno­sen, der Re­gis­seur Er­san Mond­tag für ei­ne eben­sol­che Bild­spra­che. "Klingt nach ei­ner hoch span­nen­den Kom­bi­na­ti­on. Doch Bergs Spra­che und Mond­tags In­sze­nie­rung fin­den am Schau­spiel Köln eher sel­ten zu­sam­men." Jäm­mer­li­che Mensch­lein, "red­se­lig und er­schre­ckend un­re­flek­tiert" bei Berg, "Er­san Mond­tags blas­se KI-Ge­stal­ten mit der ho­hen Stirn wir­ken al­ler­dings we­der be­son­ders per­fi­de, noch hoch ent­wi­ckelt." Sie spre­chen fehl­be­tont ru­cke­lig, "das geht auf Kos­ten des aus­ge­feil­ten Tex­tes". "Das Büh­nen­bild ist da­ge­gen ein Voll­tref­fer. Mond­tag hat es als Mu­se­um ei­ner ab­ge­häng­ten Spe­zi­es kon­zi­piert."

"Wonderland Ave." komme zu un­heim­li­cher Wir­kung dank dem Mu­se­ums­büh­nen­bild von Er­san Mond­tag, so auch Patrick Bahners in der FAZ (11.6.2018). Die dys­to­pi­schen Wen­dun­gen seien selbst sehr na­he­lie­gend "und dar­um funk­tio­niert das Stück. Der Ein­druck des Un­heim­li­chen stellt sich eben­des­halb ein, weil schau­er­ro­man­ti­sches Fin­gie­ren un­vor­stell­ba­rer Fort­schrit­te der Tech­nik ent­behr­lich ist."

Cathomas und Strong werden von den Maschinen – sie betonen die Worte so falsch wie das Navi Straßennamen – wie exotische Subjekte in einer Völkerschau gehalten, die Wonderland Avenue ist ein Museum, an den Wänden hängen Kunst-Reproduktionen, schreibt Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (11.6.2018). "Wo es an Wahnsinn fehlt, kippt Ersan Mondtags installativer Ansatz schon mal in Langweile um", werden gute Schauspieler zu Textabsonderungsmaschinen degradiert, "Kurz: Berg und Mondtag bilden eine Mesalliance, allerdings immerhin eine, die viele eindrückliche Bilder hervorbringt."

Cathomas und Strong werden von den Maschinen – sie betonen die Worte so falsch wie das Navi Straßennamen – wie exotische Subjekte in einer Völkerschau gehalten, die Wonderland Avenue ist ein Museum, an den Wänden hängen Kunst-Reproduktionen, von Cranachs „Adam und Eva“ bis zu Fotografien einer Vanessa-Beecroft-Installation nackter Frauen, man kann noch Munchs, Picassos und Frida Kahlos entdecken, in viele Bildnisse haben sich die Familienähnlichkeiten Cathomas und Strong eingeschlichen. – Quelle: https://www.ksta.de/30596766 ©2018

"Der Text ist, wie man Sibylle Berg kennt: sarkastisch, trocken, witzig und gemein. Man liest das Stück mit Vergnügen", so Ulrike Gondorf auf Deutschlandfunk Kultur (8.6.2018). Leider gebe es wenig Synergie-Effekte mit dem Theater von Ersan Mondtag. Dessen gewichte Kunstanstrengungen lasse Sibylle Bergs boulevardeskes Parlando ins Leere, wenn nicht ins Lächerliche laufen. "Und Mondtags Desinteresse an der Sprache schwächt das Stück auf seiner stärksten Seite."

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