Braunschweig, 11. Juni 2018

Kolonialismus süß-sauer

von Ismael Fayed

Im Februar 2017 entschuldigte sich der damalige Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron für seine Bemerkungen über den französischen Kolonialismus in Algerien. Er hatte während einer Algerienreise den französischen Kolonialismus als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" bezeichnet – ein Ausdruck, der in Frankreich eine kontroverse Diskussion entfachte. Doch Macron entschuldigte sich weder bei einem algerischen Publikum, noch entschuldigte er sich für die katastrophalen Folgen des französischen Kolonialismus (der 132 Jahre andauerte) für Algerien. Er entschuldigte sich bei der französischen Bevölkerung von Toulon, indem er sagte: "Es tut mir leid, dass ich Sie beleidigt habe, dass ich Sie verletzt habe". Ja, das französische Volk wurde verletzt, indem es mit der blutigen, schrecklichen Kolonialvergangenheit konfrontiert wurde. Vielleicht ist dies die Sensibilität der Kolonisatoren.

Im Juni 2017 zeigte Caroline Guiela Nguyen mit der Theatergruppe Les Hommes Approximatifs die Premiere ihrer Produktion "Saigon" beim Festival Ambivalence(s) in Frankreich, ein wenig nördlich von Toulon. In gewisser Weise eine Fortsetzung ihrer vorherigen Produktion Mon Grand Amour (2016), springt das neue Stück hin und her zwischen Saigon und Paris, vor und zurück in den vier Jahrzehnten zwischen dem Ende der französischen Besatzung Vietnams im Jahr 1956 und dem Jahr 1996, als die vietnamesische Regierung Auslandsvietnamesen, den Viet Kieu, das Recht auf Rückkehr zusprach.

Ein Restaurant als Ort, wo das Private und Öffentliche verschwimmen

In über drei Stunden, drei Teilen (Abschiede, Exil und Rückkehr) und mit einem Dutzend und mehr Figuren bringt Nguyen vielfältige Narrative und Geschichten auf die Bühne. Der Ort der Handlung: ein Restaurant, das nach Pariser Art exotisierend "Saigon" genannt und von der vietnamesischen Emigrantin Marie Antoinette und ihrer Nichte Lam geführt wird. Im Mikrokosmos von Maries Restaurant werden auch die anderen Geschichten der Restaurantgäste erzählt.

Saigon CarolineNguyen 560 JeanLouisFernandezIm Restaurant "Saigon" © Jean-Louis Fernandez

Im hochnaturalistischen, beinah kinematografisch abgebildeten Bühnenbild eines echten Restaurants mit Küche, Küchenutensilien, Tischen und Stühlen und ausgezeichnetem Lichtdesign hören wir die weiche, junge und doch zeitlose Stimme von Lam die Geschichte ihrer Tante erzählen, die sich denen ihrer Restaurantbesucher überschneidet. Nguyen zollt sogar der in Ostasien allgegenwärtigen Karaoke-Kultur Tribut, indem über ein Mikro und ein Keyboard in einer Ecke Musik und Gesang Elemente der audiovisuellen Begleitung des Stücks werden (und dem Stück den Geschmack eines veritablen Melodramas geben – nämlich als "Melodie-Drama").

Durch die Entscheidung, die Handlung in ein Restaurant zu verlegen, erweckt Nguyen den Eindruck von Häuslichkeit und schafft dem Publikum damit einen emotionalen Zugang. Das Öffentliche und das Private verschwimmen, und was wäre häuslicher und intimer als jemand, der kocht und die eigenen Gerichte serviert? Aber das Be-Dienen thematisiert zugleich auch die begrenzten Wahlmöglichkeiten. Man kann sich vorstellen, dass Marie nur wenige der benötigten Fähigkeiten besaß, als sie nach Frankreich kam (sie spricht gebrochen Französisch, ist Analphabetin und war in Vietnam wahrscheinlich Bäuerin), die Franzosen zu "bedienen" und zu bekochen, dürfte eine der wenigen Möglichkeiten gewesen sein, ihr materielles Auskommen zu sichern.

Frauen tragen die Kosten der Kriege

Auf diese Weise gelingt Nguyen (die 2019 mit dem Jürgen Bansemer & Ute Nyssen Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde) etwas Bemerkenswertes: Sie zeigt, dass das Feminine, das Häusliche, nicht unbedingt unsichtbar und irrelevant sein muss, wenn man die Geschichte untersucht. Frauen tragen stets die Kosten katastrophaler Umwälzungen, das heißt der Kriege, und dennoch werden ihre Geschichten nicht oft erzählt. Wenn man an Krieg denkt, denkt man an Waffen, Panzer, Bomben, an Gebietsgewinne und Ressourcenverluste, man denkt aber nie an diejenigen, die überlebt haben und wie ihnen das gelang. Sehr wenig erfahren wir darüber, was geschieht, wenn die Bombardements vorüber sind oder der letzte Soldat abgezogen ist. Nguyen erzählt uns, was Soldaten tun und was sie zurücklassen, wenn sie gehen – eine Spur aus Blut und Tränen.

Saigon4 560 Foto JeanLouisFernandezDie Hochzeit ohne Hochzeitsgäste  © Jean-Louis Fernandez

Apropos Blut und Tränen: Von Letzteren gibt es eine Menge. Nguyen erspart uns keine der grauenvollen Realitäten des Kolonialismus. In von Pathos und Tragik getränkten Autritten bricht irgendwann fast jede der Figuren unter Tränen zusammen. Manche aus Hysterie, manche wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (Edouard, Soldat der französischen Armee), andere wegen ihrer Mitschuld an Plünderungen und der Zerstörung vietnamesischer Dörfer und Vorräte (Frau Gautier, deren Mann junge Vietnamesen "angestellt" hat, die schließlich im Ersten und Zweiten Weltkrieg "vermisst" wurden), bis hin zu den nicht sonderlich überzeugenden Kindern aus gemischten Verbindungen (Antoine, Edouards Sohn, gespielt von einem "weißen" Darsteller, dessen barsche, hartherzige vietnamesische Mutter immer ein paar Knüffe parat hat und deren Andersartigkeit – sowie auch die Entfremdung ihres Sohns von dieser Andersartigkeit – fortwährend für neue Qualen sorgt).

Komplizierte Liebesgeschichten zwischen Kolonisierten und Kolonisierern

Die Liebesgeschichten zwischen vietnamesischen und französischen Frauen und Männern, Kolonisierern und Kolonisierten, stellen sich außerordentlich verwickelt dar. Da ist auf der einen Seite die Liebe der Kolonisierten zu den Kolonisierern, die als Verlangen nach Respekt und Anerkennung verstanden werden kann. Auf der anderen Seite fetischisieren die Kolonisierer die Kolonisierten als Gegenstand ihres eigenen Schuldkomplexes. Das "Saigon" wird zum imaginären Ort, an dem sich diese widersprüchlichen Erzählungen entfalten. Die Dramaturgie der Erinnerung folgt dabei keiner strengen Chronologie: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft können alle in einem Moment ineinanderfließen und eine Erlebnisdichte erzeugen, die vielleicht das perfekte Mittel ist für eine derart widersprüchliche und problematische Erfahrung wie sie der Kolonialismus und seine Geschichte darstellt.

Saigon2 560 Jean Louis Fernandez uDie Traurigkeit des einsamen Karaoke-Sängers  © Jean-Louis Fernandez

Für einen arabischsprachigen Zuschauer, der mit der komplexen und tragischen Geschichte des modernen Vietnam nicht in allen Details vertraut ist – französische Kolonisierung von Vietnam (1887-1954), zwei Bürgerkriege (Erster Indochinakrieg 1946-1954, zweiter Indochinakrieg 1955-1975), amerikanischer Krieg (1954-1975), vietnamesische Besetzung von Laos (1959-1975) und Kambodscha (1975-1989) und so weiter –und der versuchte die französischen, mit Vietnamesisch durchsprenkelten Dialoge mit englischen und deutschen Übertiteln zu entschlüsseln, war die Kakophonie der Sprachebenen bisweilen so erschöpfend wie ablenkend. Sie vermittelte den Eindruck von Unverständlichkeit oder besser davon, was verloren geht, wenn man sich von einer Sprache in eine andere bewegt und noch dazu wenn diese andere Sprache die der Kolonisatoren ist oder der Unterdrücker. Und manchmal sogar die Sprache des Liebhabers. Nguyens dichte Dialoge, ihre – durch Sprache, Gesang und Übertitel – textlastige Inszenierung lässt wenig Zweifel am überwältigenden Verlustgefühl, das man außerhalb der eigenen Muttersprache empfindet. Dazu kommt das generelle Gefühl von Verlorenheit und Entfremdung.

Die Metapher der Küche mit all den speziellen Rezepten und Geschmäckern einer Landesküche wird zur sich self fulfillig prophecy. Als würde dem bitteren Geschmack der Erkenntnis der Gegenwart die fast schon widerliche Süße der Nostalgie und der Melancholie der Erinnerung gegenübergestellt. Vielleicht auch ein wenig vom Salz des Bewusstseins, dass die Zerstörung der Vergangenheit nicht durch noch so viele Liebesgeschichten wiedergutgemacht werden kann. Nicht solange man sich ihr nicht stellt, darüber spricht, sie womöglich sogar, wie Nguyen, inszeniert – dann aber vielleicht mit etwas weniger Zuckerguss.

Aus dem Englischen von Bochert Translations (Henning Bochert)

 

Saigon 
Text: Caroline Guiela Nguyen mit dem gesamten künstlerischen Team, Regie: Caroline
Guiela Nguyen, Künstlerische Mitarbeit: Claire Calvi, Bühne: Alice Duchange, Kostüm: Benjamin Moreau, Lichtdesign: Jérémie Papin, Sound- und Musikdesign: Antoine Richard, Komposition: Teddy Gauliat-Pitois, Dramaturgie und Übertitel: Jérémie Scheidler, Manon Worms, Übersetzung: Duc Duy Nguyen, Thi Thanh Thu Tô, Übertitel: Emily Pollak, David Maß / Panthea, Künstler_innenbetreuung: Trang Vu Hong.
Mit: Caroline Arrouas, Dan Artus, Adeline Guillot, Thi Truc Ly Huynh, Hoang Son Lê, Phu Hau Nguyen, My Chau Nguyen Thi, Pierric Plathier, Thi Thanh Thu Tô, Anh Nghia, Hiep Tran Nghia.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

Produktion: Les Hommes Approximatifs Im Auftrag von La Comédie de Valence, CDN Drôme-Ardèche, Koproduktion: Odéon-Théâtre de l’Europe, MC2:Grenoble, Festival d'Avignon, CDN de Normandie–Rouen. Théâtre National de Strasbourg . CDN de Tours – Théâtre Olympia , Comédie de Reims, CDN, Théâtre National de Bretagne - Centre européen théâtral et chorégraphique, Théâtre du Beauvaisis, scène nationale de l'Oise en préfiguration, Théâtre de La Croix Rousse Lyon.

www.leshommesapproximatifs.com



 

Ismail Fayed c Nurah Farahat 80Ismael Fayed (Ägypten) ist Kritiker und Wissenschaftler, der sich seit 2007 mit zeitgenössischer Kultur im Mittleren Osten beschäftigt. Sein Fokus liegt auf Bildender Kunst und Film. Er schreibt unter anderem für Publikationen des MoMA, für das unabhängige ägyptische Online-Portal Mada Masr, Muftah, Nafas Art Magazine, Aperture und andere.

 

Hier steht die englische Originalfassung dieses Artikels.

Hier berichtet Milisuthando Bongela über die Lage des Kulturjournalismus' auf dem afrikanischen Kontinent. Yvon Edoumou schreibt über die Frage, ob "arme" Leute Kunst genießen können. Stéphanie Dongmo portraitiert den Theaterregisseur Martin Ambara aus Kamerun. Und Enos Nyamor schreibt über das Theater in Kenia heute.

 

This text is a product of "Theaterformen" festival's journalistic project "Watch & Write" and is being published on nachtkritik.de in the context of a media cooperation with the festival. It is not part of the regular programme on nachtkritik.de.

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