Unter Brechts Tarnkappe

von Sascha Westphal

Recklinghausen, 13. Juni 2018. "Es gibt Künstler, die zusammengehören. Die Zeit der Vereinzelung ist vorbei." Diese beiden Feststellungen stammen aus einem Text, den der Theaterkritiker Herbert Ihering 1929 über Bertolt Brecht geschrieben hat. Iherings Gedanken und Ideen kreisen um ein unvollendetes, ein verlorenes Werk, das "Ruhrepos", ein Projekt, an dem der Dramatiker 1927/28 im Auftrag der Stadt Essen und deren Operndirektor Rudolf Schulz-Dornburg gemeinsam mit Kurt Weill und dem Filmemacher Carl Koch gearbeitet hat. Das "Ruhrepos" sollte ein musiktheatralisches Gesamtkunstwerk über das Ruhrgebiet und den Bergbau, die Ausbeutung der Erde und der Menschen werden, in dem Texte und Kompositionen, Filmbilder und Spiel perfekt ineinandergreifen und so eine neue, multimediale Form begründen. Brecht, Weill und Koch wollten gleichberechtigt miteinander arbeiten und so den Kollektivgedanken fest in der modernen Bühnenkunst verankern. Aber der Vertrag mit der Stadt ist nie zustande gekommen. Nachdem die Nachricht, dass Bertolt Brecht und Kurt Weill eine Opernrevue für die Essener Bühnen schreiben sollten, an die Öffentlichkeit gedrungen ist, kam es zu einem medialen Aufschrei, und die Essener Kulturpolitik zog sich zurück.

Das Stück geht verloren, bevor es überhaupt existiert

Die beiden Sätze Iherings haben knapp neunzig Jahre später nichts von ihrer Gültigkeit verloren. Nur beschreiben sie nun die Zusammenarbeit des Dichters und Dramatikers Albert Ostermaier mit dem Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson und dessen Ensemble. Entgegen der ursprünglichen Ankündigung der Ruhrfestspiele Recklinghausen ist diese Koproduktion mit dem Staatsschauspiel Hannover keineswegs die Uraufführung eines neuen Stücks von Albert Ostermaier. Wenn es dieses Stück, in dem sich Ostermaier der abgebrochenen Geschichte des "Ruhrepos" annimmt und damit quasi in die Fußstapfen Bertolt-Brechts tritt, tatsächlich gibt, dann ist davon in "Die verlorene Oper. Ruhrepos" nicht mehr viel zu sehen und zu hören.

Die verlorene Oper1 560 Katrin Ribbe uTheaterglanz und Kohlendreck: "Die verlorene Oper" © Katrin Ribbe

In den gut zwei Stunden vor der Pause kann sich das Publikum nicht einmal sicher sein, wie viele von den Sätzen, die auf der Bühne erklingen, überhaupt von Albert Ostermaier stammen. Dass sich Jakob Benkhofer irgendwann eine schwarze Lederjacke anzieht und so zum mit sich selbst ringenden Autor des Stücks wird, macht es auch nicht einfacher. Benkhofer und Aljoscha Stadelmann, der zuvor schon Bertolt Brecht als genialischen Unhold porträtiert hat, beschwören in ihrer Performance das Bild des scheiternden, an seiner Blockade langsam irrewerdenden Autors herauf. Der maliziös grinsende und später die Axt schwingende Jack Torrance aus Stanley Kubricks "Shining" erweist sich dabei als Benkhofers und Stadelmanns Ahnherr. Wie er bringt auch Stadelmanns Ostermaier nur einen einzigen Satz zu Papier. Das Stück geht schon verloren, bevor es überhaupt existiert. Aber auch das ist natürlich eine Fiktion, ein Mythos unter vielen.

Unter der Schiebermützen-Tarnkappe

Als "Projekt von Thorleifur Örn Arnarsson und Albert Ostermaier", an dem auch das gesamte Ensemble praktisch gleichberechtigt beteiligt ist, irritiert "Die verlorene Oper. Ruhrepos" erst einmal mit ihrer kreisenden Struktur. Es gibt weder einen klaren Anfang noch ein definitives Ende. An ihre Stelle treten Umkreisungen eines für unterschiedlichste Einflüsse offenen Themas, das im weitesten Sinne mit der Idee des Verlorengehens verknüpft ist. 1928 ist das "Ruhrepos" verlorengegangen, 2018 wird, wenn die letzte Zeche schließt, das Ruhrgebiet selbst zumindest metaphorisch verlorengehen. Davon erzählt im weitaus elegischeren zweiten Teil des Abends in Videoaufnahmen der Bergarbeiter Uwe Reichelt.

Die verlorene Oper3 560 Katrin Ribbe uBrechts Erben beim Lampen-Test © Katrin Ribbe

Aber nicht nur den Kumpels aus dem Revier kommt ihre Arbeit abhanden. Auch Albert Ostermaier schreibt in einem im Programmbuch veröffentlichten Text über das Verschwinden seiner Arbeit als Dramatiker. Das Stück wird zum Kollektivtext, in dem sich einzelne Autoren nicht mehr ausmachen lassen. Und dieses Kollektiv aus Dramatiker und Regisseur, Spielerinnen und Spielern kennt keinerlei Maß mehr. Vor allem im ersten Teil vor der Pause strapaziert das Ensemble die Geduld des Publikums. Gleich zu Beginn verliert sich Aljoscha Stadelmann in einer endlosen stummen Slapsticknummer, in der er einen aussichtslosen Kampf mit einem defekten Drehstuhl führt. Später wird Jakob Benkhofer einen anderen Gag ähnlich konsequent bis an die Schmerzgrenze auswalzen. Als Albert Ostermaier hat er die Schiebermütze Brechts bekommen. Immer, wenn er sie aufsetzt, wird er für die anderen unsichtbar. Diesen Vorgang wiederholt er gefühlt mindestens zwanzigmal und geht dabei auch noch von der Bühne in den Saal und wieder zurück auf die Bühne.

Ein Totaltheater für das 21. Jahrhundert

Brechts Mütze als Alberichs Tarnkappe, das ist allerdings weit mehr als nur ein Gag. Je länger das absurde Spiel mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit währt, desto mehr Assoziationsräume öffnen sich. Zum einen beschreibt dieser nicht enden wollende Witz durchaus Albert Ostermaiers Situation. Muss ein Autor, der ein Werk eines anderen vollenden soll, nicht sich selbst verlieren, also unsichtbar werden? Zum anderen weckt die Verknüpfung des "Ruhrepos" mit Wagners "Ring" Theatererinnerungen an Patrice Chéreau wie an Johan Simons. Aus diesem fortwährenden Spiel mit Erinnerungen und Assoziationen, mit Zitaten und Anspielungen erwächst nach und nach ein Totaltheater für das 21. Jahrhundert. Das große Gesamtkunstwerk als endloses Trümmerfeld. Alles zerfällt. Was bleibt sind Bruchstücke und Splitter.

Natürlich passen die im Rahmen der "Ruhrepos"-Recherchen entstandenen Gedichte Albert Ostermaiers, die den zweiten Teil des Abends prägen, kaum zu den Schubert-Liedern, die Hubert Wild so verführerisch sehnsuchtsvoll interpretiert. Und die von den Verlierern und den Gewinnern des 21. Jahrhundert, also von Europäern und Chinesen, erzählenden Filmbilder stehen in einem schroffen Kontrast zu dem als Comedy-Nummer beginnenden Vortrag über die mehr als 500-jährige Geschichte des Kohleabbaus in der Region, der in eine pathetische, von Wagner-Klängen begleitete Feier des verlorenen Ruhrgebiets übergeht. Aber am Ende sind es gerade diese Dissonanzen und Stimmungsschwankungen, dieses ständige Zuviel, das zugleich auch ein Zuwenig ist, die diese widerspenstige Kollektivanstrengung zu einem Ereignis machen.

 

Die verlorene Oper. Ruhrepos (UA)
Ein Projekt von Thorleifur Örn Arnarsson und Albert Ostermaier
Koproduktion der Ruhrfestspiele Recklinghausen mit dem Staatsschauspiel Hannover
Regie: Thorleifur Örn Arnarsson, Bühne: Ilmur Stefánsdóttir, Kostüm: Sunneva Ása Weisshappel, Komposition und musikalische Leitung: Arno Waschk, Videodesign: Voxi Bärenklau, Dramaturgie: Judith Gerstenberg, Live-Video: Tobias Haupt.
Mit: Jakob Benkhofer, Katja Gaudard, Maximilian Grünewald, Mathias Max Herrmann, Bettina Lamprecht, Aljoscha Stadelmann, Hubert Wild, Arno Waschk (Live-Musik).
Dauer: 4 Stunden, eine Pause

www.ruhrfestspiele.de
www.staatstheater-hannover.de/schauspiel

 

Kritikenrundschau

"Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson inszeniert hektische Vergeblichkeit", schreibt Achim Lettmann im Westfälischen Anzeiger (14.6.2018). "Was Albert Ostermaier geschrieben hat, ist nicht auszumachen." Die Inszenierung kolportiere sich durchs Material. "Immer wieder werfen die Darsteller beide Arme hoch, heben sie an zum V, zu Brechts Verfremdungseffekt. Mehr als Theater-Kalauer sind das nicht. Es ist langweilig, letztlich blöd." Das sei "kein schönes Ende für die Hoffmann-Ära".

Pure Theater-Nabelschau stehe im Zentrum des Abends, schreibt Harald Suerland von den Westfälischen Nachrichten (14.6.2018). Selbstironie sei auf Dauer nicht witzig. "Dass Details ebenso schlecht auszumachen waren wie mancher Text im Zusammenklang von Klaviermusik, Einblendungen und akustischer Tücken – es machte diesen Abend zum Dokument eines Scheiterns einst und jetzt. Das Ruhr-Epos und eine Ruhr-Oper gar stehen weiterhin aus."

"Die Schauspieler finden keinen Fokus, spielen herum, brüllen viel, produzieren Nümmerchen und nehmen jede Kritik selbstironisch vorweg", so Stefan Keim vom Deutschlandfunk (14.6.2018). Manche Formulierungen Ostermeiers funkelten und berührten, andere seien klischeehaft. "Der zweite Teil vermittelt immerhin die Ahnung von einem heutigen Ruhrepos." Und weiter: "Wie oft in letzter Zeit verlieren sich die Theatermacher in Kantinenscherzen und Nabelschau. Sie scheinen sich viel mehr für sich selbst als für das verhandelte Thema zu interessieren."

"Die erste Stunde: ein mit platten Clownsnummern gepimpter VHS-Kurs zur Vita Brechts – ein notgeiler Stinker demnach. Im Anschluss: Autor vor Spiegel, nicht endenwollende Nabelschau übers krampfhafte Textgebären, beschreibt Lars von der Gönna den Abend in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (14.6.2018). "Das Recklinghäuser Werben mit zwei Ikonen des Welttheaters blieb die reine Mogelpackung."

Einen "bizarren Abend" hat Martin Krumbholz erlebt, "der die Intendanz Frank Hoffmanns denkwürdig beschließt", schreibt Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (19.6.2018): In der interessantesten Passage des Abends werde "die – sei's größenwahnsinnige, sei's auch selbstironische – Brecht-Mimikry eines Autors, nämlich Albert Ostermaier, durch einen humorbegabten Regisseur, nämlich Thorleifur Örn Arnarsson, erbarmungslos nach Strich und Faden dekonstruiert." Ein solches Team wie den begabten Anarcho-Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson und den Dichter Albert Ostermaier habe es am Theater noch nicht oft gegeben.

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