15. Juni 2018

Theater als revolutionäre Praxis

von Sérgio Raimundo

Theater ist eine Kunstform, die wie jede andere eine wichtige gesellschaftliche Rolle spielt, indem es als strukturierendes Element für das kollektive Bewusstsein von Identität und Wandel in der Gesellschaft wirkt.

Bereits die ersten Ausdrucksformen des Theaters in der Menschheitsgeschichte lassen seine gesellschaftliche Rolle erkennen. Der etymologische Ursprung des Wortes Theater, das sich aus dem Lateinischen wie aus dem Griechischen herleitet, verweist selbst auf seine Rolle beim In-Gang-Setzen von Veränderung: Im Lateinischen ist es dem Wort "theatrum" und im Griechischen dem Wort "theatron" entlehnt, was in beiden Sprachen "Schaustätte" bedeutet. Theater war immer der Ort, von dem aus es möglich war, für das, was man sieht, eine Veränderung anzuvisieren, zu beobachten und vor allem anzudenken. Veränderung ist das Ergebnis einer sorgfältigen und gründlichen Betrachtung. Natürlich hat das Theater in jeder historischen Epoche eigene Charakteristika und Umsetzungsformen, seine verändernde Rolle jedoch bleibt bestehen.

Die theatralischen Ausdrucksformen der mit Mentuhotepe I einsetzenden 11. Dynastie im Alten Ägypten galten vor allem der Anbetung der Gottheiten und aller verehrten übernatürlichen Mächte. Die soziale Rolle des Theaters bestand darin, das Heilige, die Verehrung und die Würdigung der Gottheiten zu vermitteln. Es sollte die Ehrfurcht vor dem Göttlichen auf der Erde und in der Welt der Toten wiederherstellen.

Die Wiege des Theaters, wie wir es heute kennen, stand im antiken Griechenland. Die am häufigsten verwendeten dramatischen Formen waren die Tragödie und die Komödie. Die soziale Absicht der Tragödie lag darin, den tugendhaften und edlen Charakter der Polis, des demokratischen Gemeinwesen eines Stadtstaates, zu rühmen und zu stärken. Die Komödie wiederum hatte die Aufgabe, sich über menschliche Exzesse und falsche Tugenden lustig zu machen.

Theater nach Brechts Vorbild

Aus der Geschichte haben wir also gelernt, dass Theater sozialen Wandel befördern kann. Hier in Deutschland, als Teilnehmer des Festivals Theaterformen in Braunschweig, können wir dabei an Bertolt Brecht (1898-1956) denken, den herausragenden deutschen Dramatiker, Dichter und Regisseur des 20. Jahrhunderts. Brecht stellte sich ein Theater vor, das sich an die kritische Haltung des Zuschauers wendet. Brechts Gedanken zur Dramaturgie stärken die Rolle des Theaters als Instrument, um eine Revolution zu realisieren. Revolution ist hierbei als die Veränderung sozialer Haltungen zu begreifen.

matum 560 Teatro Avenida MaputoDas Theater sagt, wo's lang geht © Teatro Avenida (Maputo)

In dieser Tradition steht das Theater in Mosambik, das zum sozialen Wandel im Land beiträgt, oder besser: dazu beitragen kann. Als die portugiesische Kolonialherrschaft 1975 endete, befand sich Mosambik, was seine Identität betraf, in einem tiefen Loch, und das hatte in starkem Maße mit ebendieser Kolonialherrschaft zu tun. Die portugiesischen Interessen hatten die mosambikanische Identität in einen tiefen Schlaf versetzt. Doch dann kam der Moment, wo es nötig wurde, sie aufzuwecken.

Und hierbei leistete das Theater einen Beitrag. Die Theaterstücke aus dieser Zeit handelten von Themen, die mit der Tradition, den Bräuchen, der Folklore und den Gewohnheiten der Mosambikaner zu tun hatten. Das Theater half dabei, portugiesische und mosambikanische Gewohnheiten voneinander zu unterscheiden.

Theater als Instrument des Nation Buildings

Am wichtigsten war dabei, dass im Theater mosambikanische Themenbereiche behandelt wurden, die auch die Kolonialmacht schon thematisiert hatte, diesmal jedoch aus mosambikanischer Sicht. Später dann übernahm das Theater die Aufgabe, die Idee der Nationalen Einheit gegenüber dem Stammesdenken durchzusetzen. Hierfür hat der erste Präsident Samora Machel den passenden Ausdruck gefunden: den Stamm ausmerzen, damit das Vaterland entstehen kann.

Bis heute spielt das Theater in Mosambik eine wichtige Rolle beim sozialen Wandel, denn es versucht, den Zuschauer zum Nachdenken über den Alltag in Mosambik zu bringen. Ein Beispiel dafür ist das Stück A Nova Aragem ("Das neue Pflügen") der Gruppe Lareira Artes, das auf dem Festival Periferias in Portugal aufgeführt wurde. In dem Stück geht es um die Konflikte in Ländern, in denen mineralische Ressourcen gefunden werden. Die Inszenierung bringt uns zum Nachdenken über den politischen und sozialen Kontext in einem Land, das Kohlenwasserstoffe entdeckt und abbaut.

Das Theater gibt Orientierung

Antoine Vitez (1930-1990), die überragende Figur des französischen Theaters, hat gesagt, Ziel und Zweck des Theaters sei es, uns über unsere Situation aufzuklären und uns in der Geschichte und im Leben Orientierung zu geben. Das Theater in Mosambik lässt sich von diesem Gedanken leiten. Es klärt zum Beispiel über politische Missstände auf, hinterfragt problematische kulturelle Praktiken, politische Gewalt, und die Verteilung des Reichtums. Vor allem versucht es, uns die Zusammenhänge klar zu machen, in denen wir leben. Die komplexe Wirklichkeit Mosambiks wird im Theater nachvollziehbar. Daher müssen wir ein weiteres Mal Vitez zustimmen, der gesagt hat, dass Theater die Verwicklungen des Lebens verständlich machen soll.

Teatro Avenida in Maputo Mozambique 560 Teatro Avenida MaputoDas Teatro Avenida in der mosambikanischen Hauptstadt Maputo © Teatro Avenida (Maputo)

Verschiedene zivilgesellschaftliche Bewegungen, die in unterschiedlichen sozialen Bereichen tätig sind, bedienen sich häufig des Theaters, um ihre Ziele zu erreichen. Themenbereiche wie Menschenrechte, chronische Unterernährung, sexueller Missbrauch in Schulen, Korruption in öffentlichen Einrichtungen, Alkoholkonsum in Schulen, häusliche Gewalt, Vetternwirtschaft, Umwelterhalt und bewaffnete Überfälle werden vom Theater auf die Bühne gebracht, um soziale Veränderungen zu bewirken. Theater vermittelt sich über das Visuelle, das Gestische und den Ton und ist damit ein geeigneter Vermittler für gute Sozialpraktiken.

Der Prozess einer sozialen Veränderung mithilfe des Theaters ist noch in vollem Gange, aber man kann sagen, dass er sich auf einem guten Weg befindet. Ein Hindernis dabei ist sicherlich, dass Theater manchmal lediglich bei Gedenkveranstaltungen zum Einsatz kommt und das nur zu Unterhaltungszwecken.

Die Geschichte Mosambiks und seine ethnische und kulturelle Diversität sind weitere Aspekte, die an die Jugend weitergegeben werden, um sie zu toleranten Bürgern zu erziehen, die über das wechselseitige, respektvolle Gespräch ein Zusammenleben in der Vielfalt suchen.

In Mosambik stehen die für eine soziale Veränderung möglichen Waffen im Dienst der Politik. Da wir die Revolution, also die soziale Veränderung, nicht mangels Waffen aufschieben können, haben wir die Hoffnung, dass das Theater die richtige Waffe ist.

 

Aus dem Portugiesischen von Bochert Translations (Niki Graça)

 

Sergio Raimundo 80Sérgio Raimundo ist Kulturjournalist und studierter Philosoph aus Maputo/Mosambik. In der Zeitung O País hatte er eine Kolumne. Er veröffentlicht Kritiken zu Film, Literatur, Tanz und Theater in verschiedenen mosambikanischen Zeitungen.


 

Hier berichtet Milisuthando Bongela über die Lage des Kulturjournalismus auf dem afrikanischen Kontinent. Yvon Edoumou fragt, ob Kunst im kongolesischen Kinshasa für "arme" Leute zugänglich ist. Stéphanie Dongmo porträtiert den Theaterregisseur Martin Ambara aus Kamerun. Ismael Fayed schreibt über die Inszenierung "Saigon" von Caroline Guiela Nguyen und Les Hommes Approximatifs. Enos Nyamor berichtet über das Theater in Kenia, Aboubacar Demba Cissokho über Theater im Senegal. Carla Lever berichtete über Theater in Kapstadt, die die faktische Apartheid in Südafrikas Kulturbetrieb überwinden.

 

Der Text ist im Rahmen des Journalist*innen-Projekts "Watch & Write" des Festivals Theaterformen entstanden und wird im Rahmen einer Medienkooperation auf nachtkritik.de veröffentlicht. Er ist nicht Teil des redaktionellen Programms von nachtkritik.de.

 

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