Liliom - Thomas Jonigk erzählt mit Molnárs Klassiker in Wiesbaden mit James-Dean-Flair von männlichen Selbstdarstellungen
Die Story vom toxischen Sonnyboy
von Shirin Sojitrawalla
Wiesbaden, 15. Juni 2018. Liliom einen Hallodri zu nennen, hieße ihn zu verharmlosen beziehungsweise ihm auf den Leim zu gehen. Bei Ferenc Molnár nämlich bezeichnet sich der Karussell-Ausrufer Liliom am Ende selbst als Hallodri. Nicht so in Wiesbaden, in der Fassung von Thomas Jonigk. Der besetzt den Liliom lieber gleich mit einem jungen hübschen Mann, der in James-Dean-Manier auf die Bühne schlenzt: Tobias Lutze. Smarter Kerl, weicher Blick, offenes Hemd. Schwiegermuttis Darling. Klassische Gegen-den-Strich-Besetzung, ist doch Liliom üblicherweise Paraderolle für die kerligen Mannsbilder im Ensemble.
Im Gegenzug ist dann auch Julie, Lilioms Frau, in Wiesbaden kein zartes ätherisches Wesen, das sich nicht wehren könnte gegen den prügelnden Ehemann, sondern bei Kruna Savić vielmehr eine kernig robuste Frau, die wie stocksteif agiert, wächserne Blicke ins Nirgendwo richtet und mit teigiger Stimme Nein sagt. Eine beschädigte Figur. Dabei scheint sich die Inszenierung weniger für Julie zu interessieren als für die im Stück produzierten Männlichkeitsbilder.
Theaterhistorisches kurz und knapp
Auch der Gauner Ficsur kommt in Wiesbaden in Gestalt von Ulrich Rechenbach bloß als dummer Junge daher, der mit Liliom das große Ding drehen will. Zwei Kindsköpfe, welche die Kostüm- und Bühnenbildnerin Lisa Däßler in Straßenkleidung steckt, was ihre Normalität noch unterstreicht. Allein die fast alle Figuren zierenden linkisch gesetzten Tattoos, die wirken, als seien sie mit dem Füller gestochen, vermitteln ein bisschen Rauheit.
Die karge Bühne von Lisa Däßler zitiert das Stadtwäldchen mit dem Rummelplatz in einem akkuraten Bretterverschlag. Später werden verschiedene Prospekte mit dramatischen Himmelsansichten herabsteigen. Requisiten sonst so gut wie keine. Außer den Genannten treten noch Evelyn M. Faber als hinreißend schnippische und im Gossenton parlierende Marie und Benjamin Krämer-Jenster als schön polierter Spießer Wolf und Antipode Lilioms in Erscheinung sowie Coco Brell als Lilioms schüchterne Tochter. In schlanken 100 Minuten erzählt Jonigk die alte Geschichte von Liliom – der kriminell werdende Kirmes-Ausrufer, der die Anstellung beim Vergnügungsgeschäft seiner Gönnerin verliert und Julie heiratet. Konzentriert, dicht und zuweilen unheimlich statisch ist die Inszenierung, wobei sich Jonigk weder für die sozialen Implikationen noch für das Verhältnis der Geschlechter besonders zu interessieren scheint.
Ebenso kurz wie die Wiesbadener Version war auch eine der maßgeblichen Liliom-Interpretationen überhaupt, Michael Thalheimers so drastische wie naturalistische Version am Thalia Theater Hamburg im Jahr 2000 mit Peter Kurth und Fritzi Haberlandt in den Hauptrollen. Theatergeschichte geschrieben hat damals auch der Zwischenruf des ehemaligen Hamburger Bürgermeisters, Klaus von Dohnanyi: "Das ist doch ein anständiges Stück, das muss man doch nicht so spielen!" Lustig, ist doch gerade die Unanständigkeit das ureigene Thema des Stücks: Klassenfrage, Geschlechterverhältnis, Männlichkeitsideale.
Merkwürdigste Ideen von Liebe
Das hält Thomas Jonigk aber nicht davon ab, das Stück immer wieder auf die leichte Schulter zu nehmen. Dazu erfindet er zwei Erzähler, die ausgesprochenen Spaßmacher Paul Simon und Atef Vogel, die den Abend pantomimisch eröffnen, die Regieanweisungen vortragen und in unterschiedlichen Rollen zu sehen sind. Zwei Jahrmarktsgestalten, die ins Budapester Stadtwäldchen oder in den Wiener Prater passen und die Drehorgel anschmeißen wie eine Jukebox. Kein Wunder, dass sich die Orgelei zum Y.M.C.A.-Hit "Young Man" formt. Wie gesagt: Hier geht's um junge Männer.
Das geht in Ordnung, erzählt das Stück doch von solchen, ihrer Sturheit, ihrem Überschwang, ihrer Dummheit und Brutalität. Bei Molnár kommt das auch einer poetischen Verkitschung von dem, was heute unter toxischer Männlichkeit firmiert, gleich. Der letzte Satz, in dem Julie versichert, es sei möglich, geschlagen zu werden, ohne dass es einem weh tue, versucht man besser nicht mit Frauenfeindlichkeit und häuslicher Gewalt zusammen zu bringen. Naja, auch im so genannten richtigen Leben gibt es Frauen, die sich die merkwürdigsten Dinge als Liebe vormachen.
Der Gefahr der Vekitschung männlicher Selbstdarstellungen entgeht der Abend in Wiesbaden aber wohltuend und tut dabei fast ein bisschen weh. Denn dass man Jonigks Liliom, diesem wie frisch gewaschen wirkenden und sich immer auch irgendwie cool wegduckenden Sonnyboy, den Schläger nicht abkaufen möchte, ist natürlich Teil des Problems. So bleibt Liliom in Wiesbaden die schillernde Figur, die er womöglich schon immer war. Und niemand käme auf die Idee, hier irgend etwas dazwischen zu rufen. Kurz: ein anständiger Abend.
Liliom
von Ferenc Molnár
Deutsch von Alfred Polgar
Regie: Thomas Jonigk, Ausstattung: Lisa Däßler, Dramaturgie: Wolfgang Behrens.
Mit: Tobias Lutze, Kruna Savić, Evelyn M. Faber, Ulrich Rechenbach, Benjamin Krämer-Jenster, Paul Simon, Atef Vogel, Coco Brell
Dauer: 1 Stunde und 40 Minuten, keine Pause
www.staatstheater-wiesbaden.de
Mit seinem "geschwinden, luftig zarten 'Liliom'" zeige Jonigk in "100 nicht allzu schmerzlichen, aber bezaubernden Minuten" "ein Spiel, in dem die Inszeniertheit im Mittelpunkt steht und zwei Clowns sich weitgehend erfolglos, aber engagiert als Stichwortgeber und Strippenzieher betätigen", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (18.6.2018). Es gehe gewiss nicht um die Ächtung häuslicher Gewalt und die notwendige Emanzipation der Frau, sondern um die Geheimnisse der Liebe.
"Hier treffen sie alle aufeinander: Ein Panoptikum an Figuren, jeder auf seine Weise 'gezeichnet' – über aufgemalte Tattoos", schreibt Birgitta Lamparth im Wiesbadener Kurier (18.6.2018). Tobias Lutzes Liliom sei kein brutaler Macho, "sondern ein wankelmütiger Weiberheld, störrisch, unsicher, einer, der sich lieber die Jacke über den Kopf zieht, als Verantwortung zu tragen". Kruna Savic als Julie sei das krasse Gegenteil: "Auf eine barsche und spröde Weise leblos – diese Figur versteht man ebenso wenig wie die 'herzliche Liebe' zwischen beiden. Da bleibt die Regie von Thomas Jonigk Antworten schuldig."
Jonigk gelinge es "durchaus, die schillernde Welt des Jahrmarkts, der Buden, der leichten Mädchen und sogenannten kleinen Leute auf die Bühne zu bringen", so Matthias Bischhof in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (19.6.2018). Auf dem rohen Bretterboden reihten sich ganz ohne Psychologie die Szenen übergangslos aneinander. "Alles wird erklärungslos hingestellt, aber der Blick auf das Personal bleibt interesselos, und dieses Desinteresse überträgt sich lähmend auf die ganze Inszenierung." Das Skandalon des Satzes "Es ist möglich, mein Kind, dass einen jemand schlägt, und es tut gar nicht weh" hätte sich "als Dreh- und Angelpunkt einer intensiven Befragung des Stücks geeignet, das fern aller politischen Korrektheit das nie so ganz zu ergründende Rätsel der Liebe, die widersprüchlichen Abgründe der Mann-Frau-Beziehungen umkreist".
Es falle nicht leicht, die Distanz zu den Figuren abzubauen, heißt es bei Katja Sturm in der Frankfurter Neuen Presse (19.6.2018). "Trotz Bezügen zur Realität ist in diesem Fall alles nur ein ganz unterhaltsames Spiel."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 28. März 2024 Berliner Theatertreffen: 3sat-Preis für Jenaer Arbeit
- 28. März 2024 Berlin/Bremen: Geschäftsführer Michael Helmbold verstorben
- 28. März 2024 Neues Präsidium für Deutsche Akademie der Darstellenden Künste
- 26. März 2024 Günther-Rühle-Preise vergeben
- 26. März 2024 Mülheimer Theatertage: Preisjurys berufen
- 26. März 2024 Theatertreffen der Jugend 2024: Auswahl steht fest
- 26. März 2024 Schauspieldirektor Maik Priebe verlässt Neustrelitz
- 25. März 2024 Dramatikerpreis für Correctiv-Autor:innen L. Lax und J. Peters
neueste kommentare >