Die Perspektive verschieben

von Jan Fischer

15. Juni 2018. Am beeindruckendsten ist am zweiten Freitag der Theaterformen die Inszenierung, die auf der Bühne den geringsten Aufwand betreibt: "Fractured Memories". Ogutu Muraya steht alleine auf der Bühne und erzählt. Murayas Geschichten beginnen mit dem ersten "Congrès des écrivains et artistes noirs" im Jahr 1956. Die Versammlung Afrointellektueller in Paris befasste sich mit Kolonialismus, Sklaverei und der kolonialkritischen Denkströmung, die sich unter dem Begriff "Négritude" seit den 30ern etabliert hatte. James Baldwin hielt den Kongress in einer essayartigen Reportage fest – das ist die Quelle, aus der Muraya sich bedient. Gegen Ende der Vorstellung ruft er eine große Projektion des Schriftstellers um Hilfe und Rat an.

Der Kongress – und die vier Tage, die er dauerte – dienen Muraya als Struktur und Bindeglied. Angereichert wird die Erzählung mit Murayas eigenen Erinnerungen, etwa an die Ausschreitungen während der Wahlen in Kenia 1996, aber auch mit Geschichten aus dem Buch "Living Memories" von Al Kag, das Erinnerungen von Menschen, die zwischen 1930 und 1950 in Kenia geboren sind, dokumentiert. Das wiederum wird unterstützt von Projektionen, mal sind es Bilder des Kongresses, mal von Muraya, der Text zerschneidet und neu zusammensetzt.

FracturedMemory1 560 OgutuMuraya u"Fractured Memories" von Ogutu Muraya © Ogutu Muraya

Aus dieser Fülle an Material entsteht auf eine fast beiläufige Weise ein fragmentierter, sprachlich versierter, mal persönlicher, mal historischer Essay der Geschichte der Kolonialisierung, speziell Kenias, und ihrer bis heute spürbaren Folgen. Beeindruckend sind diese Geschichten und die Geschichte, zu der sie zusammengesetzt werden, weil das alles sehr ruhig herübergebracht wird, sehr zurückgenommen, aber eine langsam brennende Wucht entfaltet. Hauptsächlich durch die klug zusammengeschnittenen Perspektiven, die historische Verflechtungen über fast hundert Jahre nachzeichnen – und die Folgen der Kolonialisierung für die Kultur der kolonialisierten Ländern bis heute verdeutlichen.

Ein Traum in Strick

Leise – mit dem Adjektiv ließe sich, wenn man wollte, auch "Jungfrau", eine Inszenierung der vielfach ausgezeichneten südafrikanischen Regisseurin Jade Bowers, beschreiben. Sie adaptiert eine Erzählung der Schriftstellerin Mary Watson in einem Traum aus Strick. Das Publikum sitzt zu drei Seiten der Bühne, die ausgelegt ist mit Strick- und Häkelware, im Hintergrund hängt ein Fischernetz herab. Selbst die Kostüme des Live-Musikers, des einen Darstellers und der drei Darstellerinnen sind gestrickt – Hosen, Röcke, Pullover, die Unterwäsche. Dass es hier um Verstrickungen gegen soll, wird auf den ersten Blick klar.

Voll verschlungener Metaphorik erzählt "Jungfrau" von einer abwesenden Mutter und einer anwesenden Ersatzmutter. Es ist eine Geschichte unerfüllter Sehnsüchte, die sich vor dem Hintergrund von Apartheid und Vorurteilen gegen Arme abspielt, berichtet aus der Perspektive der Tochter der Familie, Evelyn. Eine häusliche Idylle, die Stück für Stück über Katastrophen bis hin zu metaphorisch angedeutetem Inzest webgröckelt.

Jungfrau 560 Andreas Greiner Napp u"Jungfrau", Regie: Jade Bowers © Andreas Greiner-Napp

Der Musiker bastelt per Loopstation Beats mit Metallbechern und einem Kochtopf zusammen und sorgt mit einer Gitarre für Harmonien (und Disharmonien). Dazu wird, zwischen kurzen Dialogpassagen, getanzt und manchmal auch gesungen – alle vier Figuren sind ständig in Bewegung, wälzen sich miteinander über die Bühne, wiederholen ihre Bewegungen, übernehmen motivisch Bewegungen der jeweils anderen. Die Musik dazu baut sich in harmonischen und rhythmischen Varianten von sich selbst auf. Regisseurin Jade Bowers arbeitet mit kleinen Stückchen, die wie selbstähnliche Fraktale aneinandergekettet und in kleinsten Variationen weitergereicht werden. Das macht "Jungfrau" zu einer motivisch sehr dichten Arbeit, die mit Watsons Sprache auch passenden Text gefunden hat – allerdings auch zu einer über die anderthalb Stunden etwas ermüdenden, die zur Mitte hin mehr einer literarisch-musikalisch-tänzerischen Meditation ähnelt als einer auserzählten Geschichte, dabei aber dennoch – Strick sei Dank – mit schönen Bildern aufwartet.

Drei Uraufführungen

Eine Neuerung der diesjährigen Theaterformen besteht darin, dass zwei Künstlerinnen und ein Künstler in Kooperation mit dem mosambikanischen Festival Kinani Maputo und dem südafrikanischen National Arts Festival für Residencies eingeladen wurden. Zusammen mit Gästen entwickelten Janeth Mulapha aus Mosambik, Kamogelo Molobye aus Südafrika und Tito Aderemi-Ibitola drei jeweils halbstündige Inszenierungen, die sie in Braunschweig fertig stellten. Präsentiert werden die drei Uraufführungen unter dem Label "3x30". Allen drei Produktionen sind im weitesten Sinne Tanztheater.

Mulapha erzählt in "Let‘s talk (I won‘t complain)" die Geschichte der mosambikanischen Feministin Josina Machel. Umgeben von Kuben aus zusammengepresster Kleidung tanzt sie sich langsam den Weg aus einem auf den Boden projizierten Gitternetz frei – zunächst noch wenig selbstbewusst, dann mit den Gittern und den Zwischenräumen spielend, und am Ende kämpferisch.

Molobye und seine Tanzpartnerin Nomcebisi Moyikwa befassen sich mit dem Kinderspiel "Mokoko" – einer südafrikanischen Variante des Versteckspielens – und dröseln, vor dem Hintergrund von rosa Tutus, die Geschlechterrollen auf, die sich schon in diesem Kinderspiel manifestieren, um sie dann zumindest versuchsweise aufzubrechen.

3x30 560 Foto AndreasGreinerNapp 5 Kamogelo Molobye in "Mokoko" © Andreas Greiner-Napp

Den Abschluss macht "Ù lo jí" der Tänzerin Tito Aderemi-Ibitola und des Musikers Bola Fagbenle. Das Publikum wird hier geteilt – die eine Hälfte erlebt live die Entstehung einer Soundinstallation von Fagbenle, der mit einer Loopstation Gesangsharmonien kreiert, in die er Interviews mit dem Publikum mischt. Im zweiten Teil tanzt Aderemi-Ibitola, angetan mit reichlich Lametta, dazu – immer wieder vom gottgleich groß auf eine Leinwand projizierten Fagbenle angeleitet und zurechtgeweisen, der seine Soundinstallation ständig erweitert. "Ù lo jí" etnwickelt sich in den 30 Minuten zu einer Inszenierung über Leben und Tod, über Gott- und Hexenglauben – und zu einer Metaerzählung, in der Fagbenle immer wieder betont, dass hier nur ein Skript abgearbeitet werde.

Andere Länder, andere Blicke

Gemein ist dabei allen Inszenierungen, dass sie so nur vor dem spezifischen Hintergrund bestimmter Länder funktionieren – weder "Fractured Memories" noch "Jungfrau" oder die "3x30"-Ergebnisse ließen sich ohne die spezielle Expertise und die spezielle Perspektive ihrer Macherinnen und Macher erzählen. Das ist zwar eine banale Erkenntnis – dennoch aber eine, die im Kern eines Festivals wie der Theaterformen liegt, das ja gerade andere Perspektiven zeigen will. So ergeben sich aus den Stimmen, die weder die üblichen Verdächtigen sind, noch in Europa oft gehört werden, wie automatisch selten gesehene Bilder, selten gehörte Geschichten, die sich stellenweise auch mit den gewohnten westlichen Mechanismen und dem gewohnten westlichen Wissen gar nicht entschlüsseln lassen – und auch gar nicht entschlüsseln lassen wollen. Das macht sie zwar manchmal anstrengend – aber eben auch interessant, so dass Kategorien wie "gelungen" oder "misslungen" mehr oder weniger zweitrangig werden.

 

Fractured Memories
Konzept und Performance: Ogutu Muraya, Dramaturgie- und Regieassistenz: Esther Mugambi, Noah Voelker, Recherche: Nele Beinborn, Beratung: Nicola Unger, Andrea Božić, Video und Videobearbeitung: CitéNOIR, Produktion; DAS Theatre.

Dauer: 1 Stunde, keine Pause

 

Jungfrau
von Mary Watson
Regie: Jade Bowers, Textadaption: Ameera Patel.
Mit: Tracey-lee Oliver, Carla Classen, Ameera Patel, Jaques De Silva.
Koproduktion: National Arts Festival Grahamstown, Festival Theaterformen

Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

 

3x30
"Let‘s Talk (I won‘t complain)"
von und mit: Janeth Mulpha, Ben Muthemba
"Mokoko"
Choreographie und Performance: Kamogelo Molobye, Performance: Nomcebisi Moyikwa, Kostüm: Katlego Michael Dikutle,, Musik: Ciko Sidzumo
"Ù lo jí"
Von und mit: Tito Aderemi-Ibitola, Bola Fagbenle
Dramaturgie: Elisa Liepsch, Koproduktion: Kinani Festival Maputo, National Arts Festival Grahamstown, Festival Theaterformen
Dauer: 2 Stunden, drei Pausen

www.theaterformen.de

 

Mehr zum Festival Theaterformen 2018: Jan Fischer berichtete bereits über die Inszenierungen Independent Living und  £¥€$.

Kommentare  
Theaterformen, Braunschweig: Fractured Memories
Ich kann nur unterstreichen, was für ein spannender, ungewöhnlicher und poetisch sowie historisch durchgearbeiteter Abend "Fractured Memories" gewesen ist. Genauso wie die die "Theaterformen" afrikanische Künstler selbstverständlich einbeziehen, genauso sollten diese Künstler in deutsche Stadttheaterkonzepte eingebunden werden: eine wertvolle Bereicherung und heilsame Perspektivverschiebung. Ich kann nur empfehlen nach Braunschweig zu fahren... sehr spannendes Programm.
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