17. Juni 2018

Mitleid um welchen Preis?

von Ayodeji Rotinwa

Liebe Timehin,

Ich schreibe Dir in großer Erschöpfung.

Wie Du weißt, bin ich in Braunschweig bei einem Workshop im Rahmen des großen Festivals Theaterformen. In diesen ich weiß nicht wie vielen Tagen habe ich mehr Theaterstücke gesehen als bisher in meinem ganzen Leben. Es ist eine gute Erfahrung, aber ich werde allmählich derart müde, dass ich es gar nicht mehr genießen kann. Ich tröste mich mit Deinen neuesten Nachrichten auf Instagram. Dir ist offenbar die Liebe begegnet, während ich hier keine Hoffnung finde.

Ich muss dir aber etwas erzählen, was ich gesehen habe und worüber wir sprechen können, wenn ich zurück bin. Ein Stück von dem – zumindest hier – gefeierten Schweizer Theaterregisseur Milo Rau.

Es gibt im Stück einiges, was Mitleid erregt

Auf Englisch hieß es Compassion. The history of the machine gun, also Mitgefühl. Ich habe es irgendwo im Netz mit dem deutschen Titel "Mitleid" gesehen. Anscheinend kann ich den Übersetzungen des deutschen Google Translate nicht trauen. Der zweite Titel gefällt mir besser. Denn in dem Stück gibt es tatsächlich einiges, was Mitleid erregen kann.

Vorher muss ich noch sagen, dass dieses Stück nicht für Dich oder für mich gedacht ist. Aber die Geschichte handelt von Dir und mir, genauer gesagt, von Leuten wie dir und mir. Es erzählt die Geschichte unserer "Nachbarn“ im Kongo, wenn man sie denn so nennen kann, bloß weil sie auch Afrikaner sind, aber es soll ja für europäische Zuschauer sein. Es sollte sie aufwühlen, schockieren, ihr Gewissen anpieksen. Bei mir hat es nichts dergleichen ausgelöst.

Mein Freund Wolfram meinte, solche Stücke würden hier in Deutschland nicht oft gemacht oder gezeigt. Das wundert mich überhaupt nicht. Erst vor kurzem habe ich erfahren, dass Kolonialgeschichte auch an deutschen Schulen kein Lehrstoff ist. Man sollte denken, dass mehr als hundert Jahre voller Eroberungen, Unterdrückung und Herrschaft, die auch das deutsche Geschick dramatisch verändert haben, es wert wären, in den Lehrplan aufgenommen zu werden. Schließlich ist ja die Konferenz von 1884 – mit der alles anfing und durch die Völker, Familien, Kulturen und die Geschichte Afrikas gezeichnet und auseinandergerissen wurden und die Zwietracht und Reibung gesät hat – ein Produkt aus Berlin.

Europäisches Schuldgefühl aus Sicht einer NGO-Mitarbeiterin

Jedenfalls untersucht das Stück die Frage des weißen, europäischen Schuldgefühls und der weißen Beteiligung an Konflikten und deren Folgen im Kongo, in Ruanda und andernorts in Afrika – und zwar aus Sicht einer NGO-Mitarbeiterin, gespielt von Ursina Lardi, und von Consolate Siperius, einer Schauspielerin und Genozidüberlebenden.

Siperius steht auf der Bühne und erzählt auf einem Bildschirm, wie ihre Eltern getötet wurden, wie sie während der Kriege in Burundi lebte und von einem Ehepaar aus Belgien adoptiert (ich möchte fast sagen: erworben) wurde, die von den Nachrichten über unseren angeblich ausschließlich dunklen, armen und exotischen Kontinent berauscht worden waren. Sicher hätten sie ihre Meinung geändert, wenn sie gewusst hätten, dass wir kein Volk sind, dem man helfen, sondern dass man in Ruhe lassen muss. Sie haben bestimmt keine Ahnung, dass einige atemberaubend wertvolle Kunstwerke in europäischen Museen aus Afrika gestohlen wurden. Ebenso wie das Kobalt für ihre iPhones. Wer hilft hier wem? Aber ich verliere mich in Vereinfachungen.

Mitleid 560 DanielSeiffert u © Daniel Seiffert

Das Stück stellt auch die Frage, wieso eine Krise mehr Aufmerksamkeit bekommt als eine andere. Von den vorwiegend weißen Zuschauern wusste wahrscheinlich keiner, ob in den Völkermorden in Ostafrika fünf oder sechs Millionen Menschen gestorben sind. Von Leuten, die so gut sind im Gebäude- und Denkmalschutz, Timehin, könnte man eigentlich mehr erwarten.

Ursina Lardi, die sich offenbar selbst spielt, weiß darüber ganz sicher nichts. Von Aylan Kurdi – dem unfreiwilligen Gesicht der eurasischen Flüchtlingskrise – erfuhr sie erst, weil der Regisseur ihr das Bild seiner Leiche an dem türkischen Strand gezeigt hat.

Humanitäre Hilfe und Waffen

Außerdem stellt das Stück die Frage nach dem weißen Mitgefühl und danach, wie Europäer zu diesen Krisenschwerpunkten strömen, um zu helfen, während sie gleichzeitig immer mehr Waffen hineinstecken und die Menschen wegen des Gewinns aus natürlichen Rohstoffen gegeneinander aufbringen, und um von ihnen zu profitieren. Da steckt der eigentliche Kern des Stücks. Ursina, die blond, blauäugig und im blauem Kleid an die Flagge der Europäischen Union erinnert, geht in den Kongo, um ihn zu retten. Es ist für sie, wie für die meisten jungen Weißen, eine Station beim Erwachsenwerden, eine Mitgefühlspflicht, die man ableisten muss.

Sie beschreibt und objektiviert die Schwarzen Körper dort, indem sie Menschen mit Giacometti-Figuren vergleicht. Sie sagt, sie streichelt dort Schwarze Kinder, wie sie Tiere streicheln würde. Sie erinnert sich an Mord, Vergewaltigungen, Flüchtlingslager, Warlords. Die tropischen Krankheiten hat sie vergessen, glaube ich. Währenddessen steht sie auf der Bühne praktisch im Müll: Kleiderfetzen, Möbelreste, Laub, Maschinengewehre. Ob das eine Metapher für den Kongo sein soll, wurde nicht klar.

Während Ursina am meisten redet, sitzt Consolate auf der Bühne und sieht einen Bildschirm an. Nur am Anfang und am Ende hören wir sie sprechen. Das gehört wohl auch zur Message, schätze ich, dass jemand anders als die Afrikanerin uns eine solche Geschichte im Zeichen des Helfens erzählt. Du weißt ja, Timehin: Wie viele Frauen im Nordosten Nigerias arbeitslos sind und also schnurstracks wirtschaftlich zu retten, das sagt uns das britische Ministerium für Entwicklungshilfe. Wann Kinderlähmung ausbricht oder abebbt, erfahren wir von der Bill and Melinda Gates Foundation.

Der Preis des Stückes ist unerträglich

Die Zielsetzungen des Stücks sind ja eigentlich ganz akzeptabel, aber den Preis dafür finde ich unerträglich. Ich denke jetzt seit ein paar Tagen darüber nach und frage mich, prüfe mich selbst, ob ich überreagiere oder zu sensibel bin. Wenn wir uns wiedersehen, würde ich gern Deine Meinung dazu hören.

Mir kommt es so vor, als ob der Regisseur Rau weiße Neugier, Schuldgefühl und das Ausmaß von Mitgefühl kritisieren will, indem er das afrikanische Leid mit dem gut geölten, gut dokumentierten Mechanismus einer einzelnen Geschichte reproduziert. An den Ausdruck erinnerst Du Dich noch, oder? Den hat unsere Lieblingsautorin Chimamanda Adichie geprägt. Dich muss ich ja nicht daran erinnern, aber die Gefahr einer einzelnen Geschichte liegt darin, dass sie Klischees erzeugt. Wie Adichie schon sagte: "Das Problem bei Klischees ist gar nicht, dass sie nicht stimmen, sondern dass sie unvollständig sind.“ Interessant ist ja auch, dass Rau eine längere Geschichte damit hat.

Braucht man wirklich das kongolesische Leid, um über weißes Schuldgefühl zu sprechen?

Im Jahr 2017 hat er Das Kongo Tribunal gemacht, ein Theaterstück über die Ungerechtigkeiten der Kongo-Kriege, hat ein fiktives Tribunal kreiert, das über diese richten sollte und das er mit "echten“ Darstellern besetzte, die für seine Produktion ihr Leid und ihren Schmerz aus dem Krieg erneut durchmachen sollten. Ich nehme an, damit es authentisch wird. 2011 hat er Hate Radio gemacht, ein Stück und Reenactment zur Rolle eines Radiosenders bei der Aufwiegelung zum Völkermord in Ruanda, bei dem die Schauspieler gelinde gesagt aufrührerische Reden detailgetreu wiederkäuten.

Gibt es wirklich keine andere originelle Möglichkeit, um sich des Themas weißen Schuldgefühls, Komplizenschaft und fragwürdigen Mitgefühls anzunehmen, ohne dafür das kongolesische Leid heranzuziehen? Hast du gewusst, dass einige der Waffen, mit denen die meisten Konflikte in Zentralafrika in Gang gehalten werden, im Tausch gegen Diamanten und Öl direkt aus Europa kommen?

Es hat den Anschein, als ginge es Rau nicht um eine strenge Untersuchung dieser Details, Timehin.

Am Schluss hören wir noch einmal Consolates Stimme. Wieder erzählt sie detailliert und in übertriebener Weise vom Völkermord; ihr Gesicht, ihre Nase und ihre Brauen bewegen sich ebenso aktiv wie ihre Lippen. Genauso gut hätte sie von fliegenden Schweinen sprechen können. Ursina, die problematische weiße Retterin, ist da schon nicht mehr auf der Bühne.

Am Ende des Stücks brechen die Leute, die nun hoffentlich mehr über die Grenzen ihres Mitgefühls wissen, in langatmigen Applaus aus.

In der Tat mitleiderregend.

 

Aus dem Englischen von Bochert Translations (Henning Bochert)

 

Ayodeji Rotinwa 80Ayodeji Rotinwa ist ein Freelance Journalist und Kritiker, der über Kunst und Kultur, soziale Gerechtigkeit und nachhaltige Entwicklung schreibt – und darüber, wie Letzteres zusammenhängt. Er war Teil des Kommunikationsteams von Nigerias erstem Pavillon auf der Art Biennale in Venedig. Er veröffentlicht unter anderem in Financial Times, Art Forum, Roads & Kingdoms.

 

Das englische Original des Textes findet sich hier.

Hier berichtet Milisuthando Bongela über die Lage des Kulturjournalismus auf dem afrikanischen Kontinent. Yvon Edoumou fragt, ob Kunst im kongolesischen Kinshasa für "arme" Leute zugänglich ist. Stéphanie Dongmo porträtiert den Theaterregisseur Martin Ambara aus Kamerun. Ismael Fayed schreibt über die Inszenierung "Saigon" von Caroline Guiela Nguyen und Les Hommes Approximatifs. Enos Nyamor berichtet über das Theater in Kenia, Aboubacar Demba Cissokho über Theater im Senegal und Carla Lever über Theater in Kapstadt, die die faktische Apartheid in Südafrikas Kulturbetrieb überwinden. Sérgio Raimundo beschreibt, wie das Theater in Mosambik zum sozialen Wandel beiträgt. Heba El-Sherif über Selina Thompson's "Race Cards" und die Bedeutung von Kulturjournalismus.

 

Der Text ist im Rahmen des Journalist*innen-Projekts "Watch & Write" des Festivals Theaterformen entstanden und wird im Rahmen einer Medienkooperation auf nachtkritik.de veröffentlicht. Er ist nicht Teil des redaktionellen Programms von nachtkritik.de.

 

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