16. Juni 2018

Augen und Ohren der Massen werden

von Heba El-Sherif

Letzte Woche kam ich aus dem etwas eigentümlichen und unpassenden Eingangsbereich des Großen Hauses am Staatstheater Braunschweig, wo derzeit 1.000 Fragen zu "race" an drei nebeneinander liegenden Wänden hängen. Anhand dieser bestimmten Fragen ruft die Installation – die aktuelle Version von Selina Thompson's Race Cards – zu Rückfragen auf; Rückfragen, die an der Schnittstelle liegen zwischen dem Ansatz der Künstlerin – besonders als Kunstwerk mit Bezug zu Archivierung – und der Richtung kritischen afrikanischen Kulturjournalismus‘, einer kastrierten Unterart des Journalismus.

In Gedanken rang ich mit den Stärken und Schwächen von Thompson's sich ständig verändernder Installation und war voller Fragen zur Kraft künstlerischer und kultureller Produktion und der Rolle, die Kulturjournalisten beim Freisetzen dieser angenommenen Kraft spielen, soweit Worte die Grenzen wie z. B. die Sichtbarkeit ansprechen können: wo die Arbeit ausgestellt wird und wer sie schließlich überhaupt sehen wird.

Das Projekt

An über einem Dutzend Orten hat Thompson das Publikum aufgefordert, an einer kollektiven Erforschung von ethnischen Spannungen, ihren Ursprüngen und heutigen Erscheinungsformen teilzunehmen. Dabei legt sie ihre eigenen Erfahrungen als Schwarze Frau in einer Welt zugrunde, in der – wie die Künstlerin sagt - Weißsein der Standard ist. Die interaktive Installation besteht aus 1.000 Fragen, die Thomas in drei Sitzungen über 24 Stunden in Edinburgh zusammengestellt hat. Seitdem hat sie Besucher von Cornwall über Texas bis Toronto und jetzt in Braunschweig gebeten, "Zeit mit den Fragen zu verbringen" und wenigstens eine Antwort zu einer Frage ihrer Wahl beizusteuern. Alle Beiträge, auch ihre eigenen, fließen in ein größeres Projekt der Künstlerin ein.

01 RaceCards SelinaThompson Foto ManuelDARC.media 15Selina Thompson  © Manuel@DARC.media Thomas befragt ihr Publikum zum Konzept der "Ausnahmeneger“, danach wieso Programme zur Partnersuche ethnische Präferenzen zulassen und ob aus weißem Schuldbewusstsein jemals etwas Gutes entstehen wird. Sie drängt ihre Zuschauer, über die Ursachen der steigenden Militarisierung nachzudenken und sich zu fragen, ob gewaltfreier Widerstand einen Sinn hat.

Die Abfolge der Fragen ist wohlüberlegt und manchmal rhythmisch, was es leicht macht, sie in einem Besuch zu erfassen. Zwei aufeinander folgende Fragen über Verlust von Wissen haben mich zu diesem Text geführt: "Wieso wird die Arbeit von PoCs so häufig gelöscht? Wie verhindere ich, dass das mit meiner eigenen Arbeit geschieht?“

Fragen

Beim Verlassen des für "Race Cards" zur Verfügung gestellten knappen Raums fragte ich mich: Wieso werde ich gebeten, mir in einer "Galerie“ über die Gefahren von Rassismus Gedanken zu machen? Wie können wir die Ideen einfangen, die unformuliert aus diesen Mauern sickern? Was ist mit unserem Schweigen? Wie können wir das dokumentieren? Worüber können wir nicht schreiben? Wie lassen sich körperliche Reaktionen archivieren? Ist dies eine Performance? Soll es nur dazu dienen, sich etwas vom Leib zu schaffen, ein Ort also für emotionale Erleichterung? Kann der Vorgang des Erinnerens eine Art und Weise der Heilung sein? Und wenn, wie können wir diese therapeutische Wirkung des Erinnerns aufzeichnen? Wieso gab es in dem Raum nur einen Stuhl?

Welchen Einfluss hat Kunst auf unsere unmittelbare Umwelt? Kann Kunst den Lauf der Welt verändern? Welche Beziehung besteht zwischen Kunst und globalen Machtstrukturen? Wie kann Kunst, die in vieler Hinsicht den Ungleichheiten, mit denen wir es heute zu tun haben, verhaftet ist, in sich verändernden Machtparadigma mitwirken, wenn sie deren Inhalte ganz grundsätzlich ablehnt? Wie kann Kunst neue Narrative erschaffen? Hat die Interaktion mit "Race Cards" aktuelle, praktische Konsequenzen auf das Erbe der Dekolonisierung? Wie kann Thompson in einem Land wie Deutschland, in dem die Kolonialgeschichte kein Pflichtstoff in der Schule ist, eine Generation erreichen, die ihre gegenwärtigen Probleme unmöglich auf einen beträchtlichen Teil ihrer Vergangenheit zurückführen kann? Wer hat beim Neuschreiben der Geschichte die Macht? Brauchen wir radikal andere Techniken, um zu verändern, wie über Rassismus gedacht wird? Und wie kann die Gesellschaft einen Raum für all diese Empfindungen finden, der weit über die Dauer einer einzelnen Ausstellung hinausreicht?

Heraus aus den Galerien!

Eine Möglichkeit wäre vielleicht, die Auseinandersetzung aus den hermetischen Galerien heraus zu verlagern. Das ist auch die Verantwortung von Kulturjournalisten. Kunst, mit ihren beabsichtigten und unbeabsichtigten Folgen, öffnet einen Interpretationsraum, der zu verschiedenen Geschichten über ein bestimmtes Thema, Land oder einen Kontinent führt. Es mag hilfreich sein, guten Kulturjournalismus anhand der Qualität von Kritiken, Essays und Debattenbeiträgen zu definieren. Letzlich aber gehört es auch zur Rolle eines Kulturjournalisten, soziale und politische Kräfte aufzuzeigen, aus denen sich ein bestimmtes Kunstwerk herleitet.

02 RaceCards SelinaThompson Foto AndreasGreinerNapp 5"Race Cards"  © Andreas Greiner Napp

Journalisten definieren ihre eigene Lesart und werden so zu Vermittlern zwischen Kunstwerk und Publikum. Sie werden auch die Augen und Ohren der Massen, die es nicht in die Ausstellungsräumen schaffen, was in den meisten Ländern Afrikas vom seit Jahrzehnten grassierenden Verfall der Infrastruktur des Wissensaustauschs und der Verbreitung von Kultur zeugt.

Inspirierende Texte über Kultur finden kaum ihren Platz. Manch einer hat sogar von der Notwendigkeit gesprochen, die kulturjournalistische Praxis zu institutionalisieren, um seine wichtigsten Träger zu stärken: die Autor*innen.

Meine Fragen zu "Race cards“ entstammen einem wachsenden Interesse daran, mit Archiven zu arbeiten; ein Interesse, das durch die Diskussionen mit den anderen afrikanischen Autor*innen im "Watch & Write“-Programm genährt wird. Einige von uns schreiben, um eine Kultur zu bewahren, andere treibt die Absicht an, Falschdarstellungen zu korrigieren oder zu über etwas berichten, das gewaltsam zum Schweigen gebracht wurde. Für mich ist Schreiben über Kunst immer noch eine eigenartige Mischung aus persönlicher Entwicklung und Verantwortung: eine nie endende Suche nach neue Inspirationsquellen, gefasst von dem Vorsatz, Geschichten zu erzählen, die sonst womöglich keinen Erzähler finden.

 

Aus dem Englischen von Bochert Translations (Henning Bochert)

 

Heba El Sherif 80Heba El-Sherif arbeitet als Autorin und Kulturarbeiterin in Kairo. Sie arbeitet in wechselnden Rollen für die Medienplattform Mada Masr.


 

Das englische Original des Textes findet sich hier.

Hier berichtet Milisuthando Bongela über die Lage des Kulturjournalismus auf dem afrikanischen Kontinent. Yvon Edoumou fragt, ob Kunst im kongolesischen Kinshasa für "arme" Leute zugänglich ist. Stéphanie Dongmo porträtiert den Theaterregisseur Martin Ambara aus Kamerun. Ismael Fayed schreibt über die Inszenierung "Saigon" von Caroline Guiela Nguyen und Les Hommes Approximatifs. Enos Nyamor berichtet über das Theater in Kenia, Aboubacar Demba Cissokho über Theater im Senegal und Carla Lever über Theater in Kapstadt, die die faktische Apartheid in Südafrikas Kulturbetrieb überwinden. Sérgio Raimundo beschreibt, wie das Theater in Mosambik zum sozialen Wandel beiträgt. Ayodeji Rotinwa schreibt einen Brief über Milo Raus "Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs".

 

Der Text ist im Rahmen des Journalist*innen-Projekts "Watch & Write" des Festivals Theaterformen entstanden und wird im Rahmen einer Medienkooperation auf nachtkritik.de veröffentlicht. Er ist nicht Teil des redaktionellen Programms von nachtkritik.de.