Das Gewicht der Worte

von Sabine Leucht

München, 22. Juni 2018. Ein Meter 85 groß, 74 Kilo schwer, geboren am 9. 3. 1988. Das sind die ersten Daten, die man einem Geflüchteten bei seiner Ankunft in Deutschland abnimmt. Und dann kommt seine Geschichte. Raaed Al Khour ist seit 2014 hier, der erste Abschiebebescheid ist abgewendet, sein Aufenthaltsstatus weiter ungewiss; seit 1620 Tagen ist er beschäftigt mit Warten. Nun steht er auf der Bühne der Münchner Kammerspiele. Ein ernster Mann, den Lola Arias seine Geschichte noch einmal erzählen lässt. Vom Leben in Daraa, wo die syrische Revolution begann. Vom Foltertod seines Cousins, den Belagerungen und der Flucht, nachdem ein Scharfschütze nachts auf ihn schoss. Alles, was wahr ist. Oder alles, was hilft?

Lola Arias, die Meisterin der Doku-Fiktion

Die argentinische Regisseurin weiß, wie man die Schicksale von Epochen, Völkern und Einzelnen auffächert, ohne mit dem Finger auf "Opfer" und "Täter" zu zeigen. Ob es um die Militärdiktatur in ihrer Heimat oder um sechs Falklandkrieg-Veteranen geht. Nun also hat sich die Meisterin der Doku-Fiktion die europäische Flüchtlingsmisere vorgenommen und ist damit brandaktuell! Denn Raaed Al Khours Fall ist genau so einer, den Horst Seehofer gerne gleich an der Grenze zurückweisen würde, weil Al Khour auf dem Weg nach Deutschland in Bulgarien aufgegriffen und registriert worden ist. Also müsste er nach der Dublin-Verordnung auch wieder dorthin geschickt werden. "Dublin", das ist so ein Wort, das sich querlegt in den Verhören, dessen Bedeutung die Verhörten ebenso googeln müssten wie die Verhörenden die Schreibweise der Orte, aus denen die Menschen kommen.

What they want to hear 2 560 ThomasAurin uIm Setzkasten deutscher Asyl-Bürokratie: Raaed Al Kour. Hinten: Hassan Akkouch und Michaela Steiger © Thomas Aurin

"What They Want to Hear" wiegt das Gewicht von Worten, indem es den Fall Raaed Al Khour rekonstruiert. Alles, was er in deutschen Amtsstuben gesagt hat, nachdem zum ersten Mal ein deutscher Zollstock an ihm Maß nahm. Eine dieser Stuben hat Dominic Huber auf die Bühne der Kammer 1 gebaut: Einen nüchterner Raum zum Klein-Beigeben, wenn auch in ganz anderer Weise als die Fotos von Lagern und anderen Notunterkünften, die Al Khour dabei hat, um auf der Bühne und im Asylverfahren seine Glaubwürdigkeit zu untermauern. Da muss man als Zuschauer jetzt durch. Durch beide Anhörungen im Münchner BAMF, jede Frage, jedes Nachdenken, jedes Déjà-vu des Verhörten. Und durch die Gespräche mit seiner Anwältin und anderen Entscheidern, die alle Michaela Steiger spielt. Mit kleinen Nuancenverschiebungen (hier ein größeres Quäntchen Geschäftigkeit oder Routine, dort ein Hauch Überforderung oder mehr Zuwendung zur Zimmerpflanze), aber nie zynisch.

Hassan Akkouch ist der Übersetzer, der allein beurteilen kann, inwieweit das, was am Ende in den Dokumenten steht, sich mit den Aussagen des Verhörten deckt. Der korrekt wiedergeben muss, wie Al Khour zum Beweis seiner Herkunft die kleinste syrische Banknote beschreibt und dessen Unverständnis über die Frage nach Kindern ("Ich habe doch gesagt, dass ich nicht verheiratet bin") mit einem hilfreichen Nein übersetzt.

Der Irrsin des Standard-Asylverfahrens

Es gibt ein paar solcher witzigen Sprünge über interkulturelle Hürden an diesem behutsamen und leisen Abend, der keine seiner Figuren denunziert. Was sich dagegen wie von selbst zu zerlegen scheint, ist das System: der Albtraum der deutschen Bürokratie; der Irrsinn, den unterschiedlichsten Menschen ein derart standardisiertes Verfahren überzustülpen, das ihr Leben über Jahre hinweg lahmlegt und letztlich niemandes Bedürfnissen gerecht wird. Al Khour zum Beispiel, der in Damaskus seinen Bachelor in Archäologie gemacht hat, hätte an der Münchner LMU weiterstudieren dürfen, war schon eingeschrieben, muss aber dort wohnen bleiben, wo er gemeldet ist.

What they want to hear 3 560 ThomasAurin uHaben widersprüchliche Tipps fürs Asyl-Verfahren: Kinan Hmeidan, Kamel Najma und Jamal Choucair aus dem Open Border Ensemble der Münchner Kammerspiele © Thomas Aurin

Arias tut gar nicht erst so, als sei dieser Fall spektakulärer als viele andere. Und Raaed Al Khour selbst macht auch nicht viel Gewese um sich, spricht sachlich, ruhig und konzentriert. Und um aus den Spielszenen heraus das Publikum zu adressieren, genügt ihm eine kleine Drehung des Kopfes. Doch Arias flicht in ihre Inszenierung, die zugleich die zweite mit dem Open Border Ensemble der Kammerspiele ist, auch die Geschichten der syrischen Schauspieler ein, die diesem Ensemble angehören. Und Jamal Chkair, Kinan Hmeidan und Kamel Najma haben Spaß am Spiel und auch daran, sich selbst auf den Arm zu nehmen. In der Black Box über dem Allzweck-Verhörraum stellen sie Szenen eines Propagandafilms über das tapfere syrische Regime nach oder geben sich widersprechende Besserwisser-Tipps für Asylbewerber.

Hier operiert der Abend oft mit Video-Projektionen, durch die die Spielszenen schimmern, mit mehrfachen visuellen Überlagerungen, die oft ein wenig überambitioniert wirken im Vergleich zum kargen, aber wirkungsvollen Rest. Dann wieder überrascht einen der Abend damit, dass der am linken Bühnenrand sitzende Techniker von seiner Fluchtgeschichte aus Afghanistan erzählt. Und ja: Man kann mit solchen Geschichten auch anders in Berührung kommen, und doch sei "What I Want to Hear" unbedingt jeder Münchner Schulklasse empfohlen. Den bayerischen Ministerpräsidenten und seinen Vorgänger dagegen sollte man dauerverpflichten und gar nicht mehr rauslassen aus dem Theater. Damit wären auch gleich viele Probleme auf einmal gelöst.

 

What They Want to Hear
Ein Projekt von Lola Arias mit dem Open Border Ensemble
Regie: Lola Arias, Bühne: Dominic Huber, Kostüme: Lena Mody, Video: Mikko Gaestel, Musik: Jens Friebe, Licht: Charlotte Marr, Stagehand: Sajad Hosayni, Übersetzung: Rabelle Erian, Dramaturgie: Katinka Deecke, Krystel Khoury.
Mit: Hassan Akkouch, Raaed Al Khour, Jamal Choucair, Kinan Hmeidan, Kamel Najma, Michaela Steiger.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

"'What They Want to Hear' (…) hätte vor zwei, drei Jahren herauskommen können und hätte vermutlich auch noch in ebensovielen Jahren die gleiche Gültigkeit wie heute", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (25.6.2018). Es gebe wenig, was an diesem Abend nicht passe, "was aber noch lange nicht bedeutet, einer fesselnden Theateraufführung beizuwohnen", so Tholl: "Alles bleibt so kühl wie korrekt. Die drei Darsteller aus Syrien (…) bleiben Erfüllungsgehilfen der Geschichte." Für das Kammerspiel-Publikum habe die Aufführung Selbstbestätigungscharakter. "Eigentlich müssten sie alle AfD-Wähler anschauen, um die Realität zu begreifen. Aber die gehen leider nichts ins Theater."

Die Performance sei "eine klare, eindeutige Anklage gegen die Zumutungen der Verfahren, die jeder Asylbewerber durchleben muss und deren Verschärfung im verstärkt heimattümelnden CSU-Bayern droht", schreibt Michael Stadler in der Abendzeitung (25.6.2018). Es fehlten zwar Stimmen der Gegenseite, "was wohl daran liegt, dass das BAMF sie nach einem längeren Telefongespräch nicht weiter bei der Recherche unterstützen wollte". Das "Langzeitprojekt der Kammerspiele, die Situation Geflüchteter nahe zu bringen", gehe aber in dieser Produktion "mitreißend auf".

Lola Arias werfe "ein behutsames Schlaglicht auf Menschenleben, diesmal auf jene, die zu Spielbällen bürokratischer Verfahren werden", sagt Sven Ricklefs im Deutschlandfunk (24.6.2018). Der Abend sei  ein "eindringlicher und ruhiger, theatraler Kommentar zur gerade jetzt wieder hochgepeitschten Flüchtlingsdebatte".

Kommentare  
What They Want to Hear, München: unspektakuläre Nüchternheit
Metaebene und Unterhaltung, Vorführung des Asylgesuchs als performativen Akt und dessen ironische Brechung: Lola Arias nimmt des Ausgangspunkt des Re-Enactment, wie man es etwa von Milo Rau kennt, lädt es dokumentarisch auf – immer wieder gibt es Erfahrungsberichte, der syrischen Schauspieler (Jamal Chkair, Kinan Hmeidan, Kamel Najma) etwa oder einmal des auf die prekäre Lage afghanischer Geflüchteter hinweisenden Bühnentechnikers (Sajad Hosayni) und Kroesinger-hafte Momente des Dozierens von Fach- und Wikipediawissen – und überlagert es mit der Theatersituation, die zweierlei Aufgabe hat: Sie macht das Unsichtbare sichtbar, das Ungehörte hörbar, übersetzt das bürokratische Dokument in eine Repräsentation gelebten Lebens. Und gleichzeitig betont die Theatralität, die Künstlichkeit, die auf den Effekt ausgerichtete Natur des dargestellten Prozesses.

Manchmal ein bisschen zu gut: Wiederholt ertappt sich der Zuschauer dabei , gebannt der Geschichte zu folgen, mit ihren effektvollen spielerischen Verkörperlichungen, den visuellen und narrativen Überlagerungen, der virtuosen Beherrschung erzählerischer Mittel. Je mehr der Abend die Mechaniken der zielführenden Narration ausprobiert, desto weniger werden sie als solche sichtbar, desto schwächer wird der Eindruck der Gemachtheit dieser Geschichtenproduktion. Zumal alles an Al Kours Erzählung glaubhaft ist, der Abend sich klar auf seine Seite schlägt und damit der systemische Zwang zur Manipulation, zum Ausmalen und Weglassen, zur auf die Wirkung bedachten Adaption der Geschichte in eine passende Fiktion von Beginn an ein wenig im Hintergrund bleibt.

Die unspektakuläre Nüchternheit des Abends, die seine größte Stärke ist, gerät auch zu seinem einzigen Fehler. Der nicht schwer wiegt. Denn was bleibt, ist die zynische Effizienz einer gewollt unpersönlichen Bürokratie, die das Individuum auf Beweisbares reduziert und es sich so einfacher macht, es um sein Leben zu bringen. Die entsetzlich ist, weil sie es nicht ist. weil sie Regeln befolgt, streng, sachlich, ohne Emotion. Die tötet, weil sie kalt ist, jedes Lebens beraubt. Vierstellig ist am Ende die eingeblendete Zahl der tage, die das Verfahren bereits dauert. Raeed Al Kour steht vor dem Entscheidertheater, außen vor, neben seinem Leben und erzählt, ernsthaft, ruhig, resigniert vom Warten. Ohne die Wut, die ihn sicher erfüllt, und die doch alles, das hat er längst gelernt, viel schlimmer machen würde. Steht in einer Realität, in der sein Wunsch, weiter zu studieren platzt, weil das System eine solche Situation und die Notwendigkeit, hierfür den Wohnort zu wechseln nicht vorsieht. „Dann geht es halt nicht“, sagt die Mitarbeiterin des Landratsamt (erneut Steiger), lapidar. So einfach ist das. So wirkungsvoll. So entsetzlich.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/07/17/dann-gehts-halt-nicht/
What they want to hear, München: Eigentor
Immer, immer, immer gibt es irgendwelche Zugangsvoraussetzungen. Selbst in die Kammerspiele komm’ ich nur rein, wenn ich meinen Obolus hinterlege; und sogar beim Bäcker eine Brezl erstehe ich nur, wenn ich brav meinen Spruch aufsage und ich erinnere mich gut an alles, was ich nicht durfte, weil ich noch keine 18 war. Der Mensch liebt es, sich unter seinesgleichen abzuzirkeln und nur seinesgleichen reinzulassen: Was gab es da früher für Szenen vor dem P1! Auch der hiesige Ortsverein der Grünen, ansonsten weltoffen, akzeptiert keine CSU-Mitglieder zum Parteieintritt: Man muss zuerst dem Alten abschwören, um die neuen Segnungen des ‚a-dabei‘ zu erlangen. Und erst recht die Calvinisten!

Dieser Abend heute, dieses Stück soll wohl eine Anklage gegen die Absurditäten einer bundesdeutschen Asylpolitik sein, hat aber bei mir das Gegenteil bewirkt: Ich habe plötzlich Hochachtung bekommen vor der Meisterleistung deutscher Behörden, die nicht nur logistisch die Betreuung und Unterbringung einer Million Migranten bewerkstelligt hat, sondern dies auch noch auf menschliche Art und Weise, nämlich mit Einzelfallprüfung und unter persönlicher Anhörung eines jeden Betroffenen.

Insofern halte ich diese Inszenierung für ein Eigentor.
Statt Solidarität mit dem ungeklärten Status von Asylbewerbern zu erzeugen, denke ich mir nun, dass eine Asyl-Migrations-Politik, ganz pragmatisch gesehen, zwischen ‚Ihr Kinderlein kommet all‘ und ‚Das Boot ist voll‘ irgendeinen Mittelweg finden muss, irgendein Prozedere und gemäß dieser Aufführung heute tut sie das.
Ich finde, das ist die Gefahr beim politischen Theater: Der unbedarfte, ja, neutrale Zuschauer erkennt plötzlich Verhältnisse, die preiszugeben von der Regie gar nicht beabsichtigt waren: ‚Der undankbare Deserteur‘; so hätte man das auch betiteln können.

Ich habe, trotz dieser - Laienaufführung, nicht wahr? - nachgedacht, ob es irgendeinen Bereich gibt, irgend ein Areal, eine Institution, ein Gegenüber, das mich vorbehaltlos akzeptiert, ohne dass ich mit Herkunft, Einkommen, Bildung, Wissen und Beruf dafür zu bezahlen hätte und ohne mich beweisen zu müssen in einem, als nur den die anderen bereit sind in mir anzuerkennen. Wäre das ‚Liebe‘?
Auch an der Falkenberg-Schule bewerben sich jedes Jahr 700 junge Aspiranten. Wieviele werden reingelassen? Ein Prozent.

An die eigentliche Frage hat sich diese Inszenierung nicht herangetraut: Fördert die Aufnahmebereitschaft der Aufnahmeländer die Ursprungsgewalt der Aussendeländer? Fördern Demokratien damit Diktaturen?

Die Oper war heute ausverkauft, das Resi auch, sogar am Gärtnerplatz bekam man nur noch letzte Reihe. Kammerspiele aber geht immer. Unter der Voraussetzung persönlicher Liquidität bekommt man da immer Karten. D.h., das Haus löst ein, was es auf der Bühne verspricht. Finde ich gut.
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