Oh, wie schön ist La Mancha

von Elisabeth Maier

Tübingen, 22. Juni 2018. Weltliteratur, ins Wohnzimmer eines schrulligen Träumers verpflanzt: Bei Rebekka Kricheldorf, der Meisterin zeitgenössischer Komödienkunst, flüchtet Don Quijote alias Herr Alfons in eine Scheinwelt der Poesie. Die aber öffnet ihm den Weg in reale Abenteuer. Seine Vertreibung aus dem Bücherparadies beflügelt die Ironie der Gegenwartsautorin. Miguel de Cervantes Meisterwerk klopft sie auf seine Aktualität ab. Seine Vertreibung aus dem Bücherparadies liefert dem Ensemble des Landestheaters Tübingen nicht nur herrliches Rollenfutter. Regisseur Jan Jochymski kitzelt in seiner vergnüglichen Interpretation gerade die leisen, dunklen Töne von Kricheldorfs Text heraus, der im Mai 2017 in Osnabrück uraufgeführt wurde. Das Leben tut weh. Aber schön ist es doch.

Ein Nobody mit gelber Tasche

"Literatur generell macht schon schwachsinnig. Aber Ritterromane machen regelrecht irre", findet der Barbier, der zu Alfons' Gefolgschaft gehört. Mit Pfarrer, Nichte und Haushälterin sitzt Andreas Guglielmetti, der den Ritter von der traurigen Gestalt mimt, am Esstisch. Mit großen Augen erzählt er von seiner Sehnsucht nach echten Abenteuern. Der Himmel in Sabine Schmidts Bühnenraum ist so hyperblau wie in einem surrealistischen Gemälde von Salvador Dali. In dieses überdrehte Familienidyll schneit der Postbote herein und bringt einen historischen Ritterroman vom Online-Bücherversand. Den Nobody mit der gelben Tasche macht Alfons zu seinem Sancho Pansa. 

Don Quijote 2 560 SigmundLTT uWider Windmühlen: Jürgen Herold, Andreas Guglielmetti, Sabine Weithöner und Gotthard Sinn.
© Sigmund / LTT

Zu zweit mischen sie nicht nur die vertrocknete Landschaft der spanischen Mancha auf. Andreas Guglielmetti zeigt seinen Ritter von der traurigen Gestalt als einen Menschen, den die Poesie vom Frust des Alltags befreit. Daniel Holzberg als Sancho im Postler-Dress suhlt sich in schrägen Versprechern – den großen Literaten Cervantes nennt er Serrano, weil er die ganze Zeit an Schinken und schweren Rioja denkt. Mit zerzaustem Haar und irrem Blick zelebriert er ein Lachtheater, das einfach herrlich ist.

Die Botschaft vom Leben der Träume

Frisch und ironisch ist Kricheldorfs Theatersprache, der Plot so dynamisch gebaut wie ein Comic. Jochymski hält dieses Tempo durch, aber immer wieder hält er inne. Ihn interessiert die Traurigkeit der Menschen, die sich aus gescheiterten Lebensentwürfen befreien. Aus dem reichen Fundus des 1500 Seiten starken Cervantes-Klassikers hat sich die Autorin zu urkomischen Typen inspirieren lassen, die sehr gegenwärtig sind. Der Barbier, der in ein peinliches Kaktus-Kostüm aus der überbordenden Traumfabrik Sabine Schmidts schlüpfen muss, wäre eigentlich lieber Maskenbildner in Bad Hersfeld. Jürgen Herold erzählt das so anrührend, dass das Publikum mitleiden muss. Und Mattea Cavic als mitfühlende Nichte will ihren Onkel Alfons aus seiner wahnsinnigen Welt retten. Bis sie am Ende selbst ihre Träume lebt.

Gotthard Sinn und Sabine Weithöner machen als Pfarrer und Haushälterin eine ebenso gute Figur wie als die legendären Windmühlen, gegen die Don Quijote kämpft. Auch dem Schöpfer des "Don Quijote", Miguel de Cervantes, hat Kricheldorf eine Rolle zugedacht, die Rolf Kindermann bestens liegt. Er kommentiert nicht nur die Abenteuer seines Romans im 21. Jahrhundert, sondern kämpft auch erbittert um ein tragisches Ende. Aber da hat er die Rechnung ohne seine Figuren gemacht, die sich längst emanzipiert haben.

Don Quijote 3 560 SigmundLTT uSingen Songs vom schönen Spanien: Andreas Guglielmetti, Gotthard Sinn, Jürgen herold, Mattea Cavic, Daniel Holzberg, Sabine Weithöner und Rolf Kindermann. © Sigmund / LTT

Regisseur Jan Jochymski schafft den Spagat, in der urkomischen Wirklichkeitsflucht der Figuren Tiefenschärfe zu finden. Alfons alias Don Quijote, der seit dem sechsten Lebensjahr Bücher liest und mit Ihnen in eine Welt der Fantasie vordringt, hilft den anderen, ihre Träume zu leben. Auf diese schöne, sehr einfache Botschaft hat er Kricheldorfs Text konzentriert, der sich bisweilen in komischen Schleifen verheddert. Mit spanischer Musik und verblüffenden Bildern lässt das Regieteam das Publikum am Ende gar noch vom Urlaub in Spanien träumen. Muscheln, Sombreros und Fischernetze, die von der Bühnendecke purzeln, sind dann allerdings doch zu dick aufgetragen. Das kitschige Ende ist des Guten zu viel. Der ebenso überzeugenden wie mitreißenden Leistung des Landesbühnen-Ensembles tut das keinen Abbruch.

 

Don Quijote
Komödie von Rebekka Kricheldorf nach Miguel de Cervantes
Regie: Jan Jochymski, Bühne und Kostüme: Sabine Schmidt, Musik: Rolf Kindermann, Dramaturgie: Lars Heimer.
Mit: Andreas Guglielmetti, Daniel Holzberg, Sabine Weithöner, Gotthard Sinn, Jürgen Herold, Mattea Cavic, Rolf Kindermann.
Dauer: 2 Stunden, eine Pause

www.landestheater-tuebingen.de

 

In unserer Video-Interview-Reihe Neue Dramatik in zwölf Positionen spricht Rebekka Kricheldorf über ihre Poetik und über Komik als Widerstand 

 

Kritikenrundschau

"Wer Komödien mag, die das ganze Feld zwischen seichtem Witz und intelligentem Kalauer abgrasen, wer gerne wahllos witzig zugeplappert wird und dabei auch etwas über den Don Qijote-Stoff erfährt, wer nichts gegen bewusst schlechtes Theater hat, Klamauk und Klamotte schätzt und an beide keine zu hohen Erwartungen knüpft – der ist hier bestens aufgehoben", bilanziert Peter Ertle im Schwäbischen Tagblatt (25.6.2018).

Für Thomas Morawitzky sind zwei Stunden Theater vorübergeflogen "wie die Seiten eines großen, schön gezeichneten Comicbuches". Rebekka Kricheldorf stülpe Cervantes' Strategie "geschickt um: Sie lässt ihre Figuren gegen ihren Autor rebellieren, mischt Cervantes mit ein wenig Pirandello, lässt den Ritter schließlich gar gestehen, dass er niemals irre, die Alltagswelt ihm nur zu öde war, schreibt Morawitzky im Reutlinger General-Anzeiger (25.6.2018). Regisseur Jan Jochymski zeichne die Figuren des Klassikers "skurril, sehr freundlich und human, selbst dann, wenn sie halt Hammel sind", so Morawitzky. "Sabine Schmidt hat Kostüme geschaffen, so fantastisch wie die Geschichte, um die es geht, beseelt von feinem Humor, und eine Kulisse, sparsam, in weichen Farben, mit wenigen Elementen: Hier darf die Spielfreude des Ensembles wahre Purzelbäume schlagen."

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