"Es ging um meine Glaubwürdigkeit"

Interview: Sarah Heppekausen

11. Juli 2018. Ruhrtriennale-Intendantin Stefanie Carp steht heftig in der Kritik. Der Dramaturgin und Festivalmacherin wird eine fehlende Haltung gegenüber der israelfeindlichen Bewegung BDS ("Boycott, Divestment, Sanctions") vorgeworfen. Anlass ist die Wiedereinladung der BDS-unterstützenden Pop-Band Young Fathers, nachdem Carp deren für den 18. August geplantes Konzert zunächst abgesagt hatte. Auch von Seiten der nordrhein-westfälischen Landespolitik gibt es Gegenwind. Am vergangenen Montag traf man sich zu einem "konstruktiven Gespräch" mit NRW-Kulturministerin Isabel Pfeiffer-Poensgen. Carp veröffentlichte im Anschluss einen Brief an die Mitglieder des Kulturausschusses, in dem sie sich zum Existenzrecht Israels bekennt. Im August beginnt Carps erste Ruhrtriennale-Saison – ein Neustart, der nun schwer belastet ist. Sarah Heppekausen sprach mit Stefanie Carp über den Verlauf des Falls, über Meinungsänderungen und das Eintreten für Grundrechte.

Carp Stefanie 560 Edi Szekely Ruhrtriennale uStefanie Carp, Intendantin der Ruhrtriennale für die Jahre 2018 bis 2020
© Edi Szekely / Ruhrtriennale

Frau Carp, als Sie die schottische Band Young Fathers zur Ruhrtriennale eingeladen haben, wussten Sie da von deren Unterstützung der israelfeindlichen Bewegung BDS (Boycott, Divestment, Sanctions) und von deren Boykott des Pop-Kultur-Festivals in Berlin, weil eine israelische Künstlerin finanziell vom israelischen Staat unterstützt wurde?

Stefanie Carp: Wir haben das am Rande wahrgenommen, aber wohl nicht ernst genug genommen. Ursprünglich wollte ich drei große Konzerte machen und habe mich dazu beraten lassen, weil ich selbst überhaupt keine Pop-Spezialistin bin. Mein Wunsch war, Musik und Künstler zur Ruhrtriennale einzuladen, die sich auf irgendeine Weise mit dem Rest des Programmes verbinden. Ein Vorschlag war, die Band Young Fathers einzuladen, weil sie Texte zum Thema Rassismus und Migration schreibt und damit zum Programm passt. Ich hätte die Band selbstverständlich niemals eingeladen, wenn ich glauben würde, dass sie antisemitisch ist. Unser ganzes Programm sagt ja, wir treten für die offene Gesellschaft ein, wir kämpfen für Diversität. Es ist ein Programm, das sich, glaube ich, wie kaum ein anderes gegen Rassismus wendet und angesichts der beschämenden europäischen Abschottungspolitik wichtig ist. Auf die Idee, mit dem Verdacht des Antisemitismus belegt zu werden, bin ich überhaupt nicht gekommen.

Und war Ihnen die BDS-Kampagne vor der Einladung ein Begriff?

Nein, die kannte ich nicht. Inzwischen habe ich natürlich viel recherchiert und mich mit vielen Menschen unterhalten. BDS ist ja ein relativ junges Movement – ich sage Movement, weil das Wort Bewegung in Deutschland noch eine etwas andere Bedeutung hat. Die BDS-Diskurse werden besonders in der Popkultur geführt. Ich komme vom Theater, im Schauspiel- und Musiktheaterbereich scheint das noch gar nicht so angekommen zu sein.

Am 13. Juni gab es dann die offizielle Mitteilung, dass Sie das Konzert der Young Fathers absagen. Was ist vorher passiert? Wie kam es zur Ausladung?

Viele Wochen lang wurde mir allseits nur gratuliert, dass auch die Young Fathers kämen. Dann plötzlich hieß es, es hätte jemand über Social Media die BDS-Unterstützung der Young Fathers kommentiert. Mein Vorschlag war, diese Kommentare eine Weile laufen zu lassen, irgendwann würden sie schon genug haben. Es ging aber immer weiter, und dann kamen auch Anfragen der Politik. Denen habe ich erklärt, dass ich in den Texten der Young Fathers und in dem, was sie tun, nichts Antisemitisches entdecken kann. Das führte aber immer noch nicht zur Beruhigung.

Also mussten Sie handeln.

Man kommt ja leider immer in so einen Zeitdruck. Ich hatte nicht die Zeit, wirklich genügend zu recherchieren und genügend darüber nachzudenken, mich mit genügend Menschen von allen Seiten zu unterhalten. Und dann habe ich mich etwas kurzatmig oder vorschnell darauf verständigt, dass wir die Band erst mal bitten, eine Distanzierung vom BDS zu formulieren. Ich muss dazusagen, dass wir mit der Band selber nie geredet haben, sondern immer nur mit deren Management. Das Management hat die Distanzierung verweigert. Es hieß: "Wenn es für euch wichtiger ist, dass wir uns vom BDS distanzieren als dass wir auftreten, dann kann das Konzert eben nicht stattfinden". Wir haben dann Wort für Wort ein Statement zusammen mit dem Management abgefasst, ganz genau so, wie die es haben wollten. Das Wort "cancelled" sollte unbedingt drinstehen, für ihre Fans. Am Tag nach der offiziellen Absage haben sie angefangen, sich darüber zu beklagen: Sie seien zensiert und ungerecht behandelt worden.

Warum haben Sie sich denn auf deren Forderungen eingelassen?

Es gab keinen Streit, es war so ein einvernehmliches Gespräch. Es ging eigentlich nur ums Wording. Letztendlich war es eine Absage, aber es wurde härter formuliert, als wir uns das gewünscht hätten. Ich habe im Statement auch gesagt, dass ich Kritik an der derzeitigen Politik Israels nicht automatisch für antisemitisch halte. Dass ich aber trotzdem, weil mir der BDS zu undurchsichtig sei, vorziehe, dass das Konzert nicht stattfindet.

YoungFathers2018 560 JuliaNoni uEin-, aus-, eingeladen und dann abgesagt; die Band Young Fathers © Julia Noni / Ninja Tune

Etwa eine Woche später luden Sie die Young Fathers wieder ein. Standen Sie nicht mehr hinter Ihrer eigenen Entscheidung?

Ich habe mich von Anfang an unwohl gefühlt. Als ich das Statement, so wie es abgefasst war, dann in der Presse las, dachte ich, das bin doch nicht ich, die das geschrieben hat. Dass ich eine Art Zensur ausübe, weil eine Band, weil drei junge Leute aus Schottland, die vielleicht von der ganzen Debatte mit ihrem Management gar nicht viel mitbekommen haben, ein Movement unterstützen, von dem ich selber noch gar nicht genug weiß und zu dem es ganz unterschiedliche Einschätzungen gibt. Und über Reaktionen, die im Nachgang die Young Fathers mit dem BDS und dem Antisemitismus gleichgestellten, wurde ich richtig sauer. Außerdem kamen viele, viele Briefe und Anrufe schockierter Künstlerinnen und Künstler, die fragten, was denn los sei mit mir. Ich könne doch nicht so ein Programm machen und dann Künstler ausladen, die aus ihren Kontexten eine andere Perspektive haben als die Bundesregierung. Also habe ich getan, was ich gleich hätte tun müssen. Ich habe sehr viel nachgedacht und mich mit vielen Menschen unterhalten, auch mit den Politkern. Wir haben hier alle sehr lange gesprochen und es gab natürlich auch im Team unterschiedliche Ansichten dazu. Ein Zweiteffekt wäre gewesen, dass ein gutes Drittel unseres Programmes nicht mehr stattgefunden hätte.

Mehrere Künstlerinnen und Künstler hatten ihre Teilnahme an der Ruhrtriennale abgesagt. Sie hatten also Sorge, dass Ihr Programm auseinanderfällt?

Nicht nur Sorge, es war eine Tatsache. Aber das war nicht der einzige Grund für die Wiedereinladung. Ich habe in gewisser Weise an jeder Entscheidung gezweifelt. Das war keine Strategie mehr, das war sehr emotional. Es ging einerseits um meine Glaubwürdigkeit – mir selbst und den Künstlern gegenüber. Andererseits entdeckte ich dieses Nichtwissen. Ich habe mich geschämt, dass ich keine klare Position beziehen konnte. Und ich kann das immer noch nicht. Ich weiß immer noch nicht, was BDS genau meint. Er wird von Land zu Land, von Kontext zu Kontext unterschiedlich bewertet und tritt auch offensichtlich sehr unterschiedlich auf. Aber eines weiß ich: So lange die Künstler nicht das Existenzrecht Israels in Frage stellen oder antisemitisch, rassistisch oder ausgrenzend AfD-mäßig sind oder furchtbare Texte schreiben oder eine Musik machen, die nicht vertretbar ist, so lange habe ich überhaupt nicht das Recht, sie auszuladen. Ein Bildender Künstler hat mir da sehr geholfen, er hatte geschrieben, ich hätte doch die Young Fathers eingeladen und nicht den BDS.

Trotzdem kommt man um den BDS bei dieser Debatte nicht herum. Es gibt Forderungen nach einem Intendantenwechsel, weil Sie nicht klar Position beziehen. Wie begegnen Sie dem Vorwurf, keine klare Haltung einzunehmen?

Ich finde es ein wenig absurd und kurzsichtig, wenn ein Mensch, der nachdenkt, bezichtigt wird, keine Haltung zu haben. Als sei eine voreilige Position nach dem Klick-Prinzip "like/dislike" eine Haltung. Politiker müssen meist schnell kommentieren, das ist ihr Job. Ich muss das aber nicht machen. Ich kann mir auch erlauben, nachzudenken und meine Meinung zu ändern. Wenn Menschen ihr Leben lang zu einer Sache immer nur eine Meinung hätten, das wäre ja schrecklich. Als Deutsche kann man bei diesem Thema natürlich nicht so agieren wie Menschen aus anderen Ländern. Eine Geschichte unserer Schuld und Scham kreuzt sich mit einer neuen Unrechtsgeschichte den Palästinensern gegenüber. Das macht es für uns Deutsche kompliziert. Und deshalb würde ich persönlich wahrscheinlich auch nichts mit dem BDS zu tun haben wollen, obwohl ich der Ansicht bin, dass das Eintreten für menschliche Grundrechte der Palästinenser möglich sein muss, ohne dass das als antisemitisch bezeichnet wird. Zweifelhaft finde ich insgesamt die Boykott-Strategien, zumindest im Kulturbereich, und mir gefällt auch nicht, wie teilweise einzelne Künstler unter Druck gesetzt werden, manchmal mit sehr populistischen Mitteln.

Fühlten Sie sich zu irgendeinem Zeitpunkt von Seiten der Politik unter Druck gesetzt?

Nein, die Aussage in manchen Medien, dass die Ausladung auf Druck der Politik stattgefunden hätte, dass angedroht worden sei, Geldmittel zu streichen, das ist totaler Quatsch, daran stimmt nichts. Es war eine autarke Entscheidung.

Die Young Fathers haben Ihr Angebot der Wiedereinladung ausgeschlagen. Für den 18. August, an dem das Konzert stattfinden sollte, haben Sie nun eine öffentliche Veranstaltung geplant.

Es wird eine Diskussion unter dem Titel "Freiheit der Künste / Freedom of Speech" geben, zu der ich Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Seiten einlade. Ich werde selbst auch an der Diskussion teilnehmen – das haben alle zur Bedingung gemacht.

Sie bieten dem BDS eine Plattform. Fürchten Sie da nicht erneut Vorwürfe?

Irgendwelche Vorwürfe werden sicher kommen. Aber eine Podiumsdiskussion ist ja nicht dazu da, dass man nur eine Seite hört. Ich muss ja nicht den BDS einladen. Ich kann Künstler einladen, die dem BDS kritisch gegenüberstehen und solche, die damit sympathisieren und Teil dieser Kampagne sind. Es gibt viele Künstler, die das tun.

Darunter Alain Platel, Judith Butler, Naomi Klein, Musiker wie Elliott Sharp oder Kate Tempest.

Und das sind ja nun alles keine rassistisch-antisemitischen Menschen oder uninformierte Idioten. Sehr viele Künstler und Intellektuelle finden, dass einige fundamentale Grundrechte auf dieser Welt verteidigt werden müssen. Das wird im Moment in Deutschland sehr eng gesehen angesichts unserer Geschichte und Schuld und Scham und angesichts eines erschreckenden wiederaufkommenden Antisemitismus, der ebenfalls beschämend ist.

 

Stefanie Carp, promovierte Literaturwissenschaftlerin, war Chefdramaturgin und Co-Intendantin von Christoph Marthaler am Zürcher Schauspielhaus, Chefdramaturgin an der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz und Schauspieldirektorin der Wiener Festwochen. Intendantin der Ruhrtriennale ist sie für die Jahre 2018 bis 2020.

 

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Kommentare  
Interview Carp: naiv
Wie naiv kann man sein. Und wieviel Unkenntnis einer Programmverantwortlichen kann man dulden? In der Politik hätte man längst seinen Hut nehmen müssen. In der Kultur zerredet sich das einfach, oder man diskutiert es in Podiusmdiskussionen ab. Mannomann, wir bewegen uns hier in der Kultur!
Interview Carp: naiv 2
Der eigentliche Skandal besteht doch darin, dass ein Festival sich dem Thema Migration und Vertreibung widmet, und dann die Intendantin öffentlich bekennt, dass sie sich z.B. zum Thema BDS noch keine Gedanken gemacht hat. Das ist doch ein heftiger Widerspruch: Wir machen Kunst über die harten politischen Probleme der Welt, ignorieren aber gleichzeitig die tatsächlichen Kämpfe, die es gibt.
So manövriert sich die Kunst immer weiter in die Sackgasse der Moral, wo man sich gegenseitig vergewissert, zu den Guten zu gehören. Aufrechterhalten kann man diese Naivität aber nur solange, bis die Realität einmal an die Tür klopft. Das ist gerade passiert, und das Gerede von Frau Carp gibt Einblicke, die wenig Hoffnung machen. Denn es gibt einen Unterschied zwischen einer Argumentation auf der Höhe der Widersprüche und der Ausrede, alles sei so schrecklich komplex.
Interview Carp: Vorwürfe werden sicher kommen
Allen Menschen, die international für die Kunst unterwegs sind und sich auch genau darauf konzentrieren, ist es leicht zu verzeihen, dass das allein in Deutschland zugespitzte "BDS-Bashing" nicht zu den Prioritäten einer Festivalorganisation gehört.

Meine Hochachtung für die Taten und Worte von Frau Carp, die von Differenziertheit und internationaler Kompetenz zeugen. Wie sie selbst sagt: "Irgendwelche Vorwürfe werden sicher kommen" - denn wenn sie nicht auf die speziellen deutschen (nationalen) Befindlichkeiten der Kunst eingehen möchte, so werden selbst diese hier eingefordert (und andererseits diffamiert).

Ihr Verhalten ist beispielgebend, wenn man so will, für eine europäische Toleranz, und nicht wie Herr Kauder einst bemerkte "in Europa wird (wieder) deutsch gesprochen" (denn DAS ist naiv, wenn nicht aus meiner Sicht noch Schlimmeres)
Interview Carp: in aller Deutlichkeit
"Aber eines weiß ich: So lange die Künstler nicht das Existenzrecht Israels in Frage stellen oder antisemitisch, rassistisch oder ausgrenzend AfD-mäßig sind oder furchtbare Texte schreiben oder eine Musik machen, die nicht vertretbar ist, so lange habe ich überhaupt nicht das Recht, sie auszuladen."

Das im BDS das Existenzrechts Israels in aller Deutlichkeit in Frage gestellt wird, kann nicht nur ziemlich leicht in Diskussion mit einem beliebigen Vertreter festgestellt werden - es kann mit wenig Internetrecherche aus seriösen Quellen bestätigt werden:

https://faktenfinder.tagesschau.de/inland/bds-israel-101.html

Frau Carp wird ihrer Verantwortung nicht gerecht.
Interview Carp: das Zwischen aushalten
Wenige Intendant*innen sind bereit und in der Lage, derart differenziert und transparent ihre Entscheidungsgrundlagen zu formulieren. Dass Stefanie Carp die Dialektik aushält, der Komplexität Raum geben will und eben tatsächlich das im Festivalmotto ausgegebene ,Zwischen' aushält, obwohl es viel leichter wäre, sich für schwarz/weiß, 0/1 oder like/dislike zu entscheiden, ist ihr hoch anzurechnen. In der Kunst dürfen Unabgeschlossenheit und Wandelbarkeit Tugenden sein. Und weder Meinungsstärke noch einfache Lösungen sind per se richtig.
Interview Carp: dazu stehen
Ich plädiere für das Recht auf Naivität. Was genau ist Naivität, wer bestimmt was Naivität ist, wer benutzt Naivität als nahezu Schimpfwort?
Ich finde es absolut peinlich - besonders für Künstler-Befrager*innen - wenn Künstler*innen bei jeder politischen Fragestellung, die sich aktuell ergibt, sofort eine eindeutige Meinung haben müssen. Sozusagen unter Androhung von Klassenschelte... Ich weiß nicht wie ewig lange von der z.B. BRD das Existenzrecht der DDR in Frage gestellt wurde. Und ich halte Boykott von Kulturaustausch auch für kein probates Mittel von Kulturpolitik - Intendanzen machen doch irgendwie auch Kulturpolitik, sie bestimmen schließlich Programmatiken. Internetrecherchen sind ja gut und schön, besonders wenn Verdacht auf irgendwas seriös bestätigt wird. Aber sie sollten kein persönliches Gespräch zu irgendeinem Thema ersetzen.
Ja, rin inne Kartoffeln raus aus die Karoffeln ist nicht besonders elegante Führung - aber zu eigener Unsicherheit stehen ist auch stark. Vielleicht sollte man einfach als Festivalintendant*in dazu stehen, wenn man selbst keine Ahnung im z.B. Pop-Bereich hat, das dann eben auch nicht anzubieten. Nicht jedes Theater und jedes Festival muss funktionieren wie ein Kulturbetrtiebs-Gemischwarenladen. Und wenn die Politik das von einer Intendanz aber will, dann darf sie niemandem die Intendanz anvertrauen, der im Pop-Bereich halt keine Ahnung hat. Zuarbeit ist Klasse - aber muss eben auch in ihrer Kompetenz überblickt werden können...
Interview Carp: die kommende Verwirrung
Ich teile die Meinung, dass Stephanie Carp sehr differenziert reagiert und ihre Unsicherheit und das Zugeständnis ihrer Verwirrung beachtenswert ist. Was da abgeht ist in der Tat sehr verwirrend. Man nehme nur ein kleines Beispiel eines Künstlers der mit diesem BDS symphatisiert, resp ihn prototypisch vertritt. Trotz aller Vorbehalte, die ich habe (ästhetisch und inhatlich) gegenüber dem"Protest-Rocker" Roger Waters: Das Video von Roger Waters in Mexico vom Oktober 2016 beeindruckte mich beispielsweise - noch vor der Wahl Trump warnte er dezidiert vor diesem Typen in Nutzung einer seiner alten Floyd-Songs (https://www.youtube.com/watch?v=QWLBtMz5OuY). Einen ganz kurzen Moment zollte man sogar dieser populistischen Wut-Kunst Respekt - auch jetzt, wenn ich das Video anschaue, "packt" es mich emotional (auch wenn ich mich leicht schäme für dieses Gefühl), natürlich aber auch, weil ich weiss, was für ein Chaos dieser Präsident anrichtet (und dass es wirklich auch eine gewisse Wut braucht, wenn man den Typen wirklich loswerden will). Der gleiche Roger Waters lässt an diesen Konzerten dann aber auch das "Schwein" mit Israel-Stern rumfliegen, was mich (und viele andere) dann gleich angeekelt abwenden lässt, nicht zwingend wegen der Israel-Kritik, sondern weil es einfach "degoutant" ist, populistisch und aufhetzerisch, ja antisemitische Affekte provoziert und anheizt. Popkunst gegen Populisten beisst sich also dann eben doch in den Schwanz. Und was für Momente emotional packt (und jene emotionale Identifikation auslöst, die man von Popmusik erwartet) ist Sekundenbruchteile später dummer gefährlicher Populismus. Mit diesem Kern-Problem von "Pop" werden wir in den kommenden Jahren noch des öfteren zu tun bekommen, nicht nur auf Popbühnen, auch auf in unseren Theaterbühnen, denn auch da kommt eine Generation neuer Künstler*innen aus den Akademien, die mit neuen Zeichen Verwirrung stiften werden. Deshalb ist das Zugeständnis von Verwirrung von Carp eher konstruktiv und mutig. Es wäre vielleicht gut, hier Georg Sesslen zur Klärung einzuladen, der schaut auf diesen verwirrenden Pop und Populismus-Komplex sehr klarsichtig.
Interview Carp: Verantwortung
Naivität im Verantwortlichkeitsbereich ist leider etwas anderes als Naivität in Bereichen jenseits der eigenen Kompetenz. Kurz: Wenn ich keine Ahnung vom Musik-Metier habe, hole ich mir als Programmverantwortlicher Kompetenz ins Haus, wenn ich verantwortlich mit meinem Programm umgehe. Stimme Carolin in Beitrag #2 völlig zu: Es ist wahrlich skandalös, politische Programmlinien auszurollen und den Kontext dessen, was man einlädt nicht zu überreißen. Schön, dass sie sich das öffentlich eingestehen kann, aber dann sollte sie bitte auch die Verantwortung dafür übernehmen.
Interview Carp: naiv ist nicht naiv
Herrlich - wie unaufgeregt #6. Habe ich sehr gerne gelesen. Wir sollten eh mal mehjr zulassen, naiv zu sein. Naivität ist für mich nicht negativ besetzt.
Grüße aus der "Universitätsstadt Tübingen"
Interview Carp: aus der Presse
Links zu internationalen Stimmen (auszugsweise übersetzt):

aus Portugal: "Die schottischen Rapper Junge Väter, von den Kritikern für Hip-Hop, elektronische Musik und Gospel gelobt wurden mit dem renommierten britischen Mercury Prize zum Album des Jahres gegeben ausgezeichnet. Seine inspirierenden Präsentationen sind in ganz Europa gefragt.
Doch im letzten Monat, hat ein deutsches Kunstfestival beschlossen, der Band ihr Programms zu entziehen und damit einen Wirbel verursacht, der nichts mit der Musik der Gruppe zu tun hat, sondern wecken Gefühle in dem Land, vor dem Zweiten Weltkrieg - in Deutschland, wo die Forderung nach einem Boykott gegen den jüdischen Staat tiefe historische Verbindungen zu den Nazis hat, gilt die Bewegung als antisemitisch.
Offizielle Unterstützung für Israel ist eine nicht verhandelbare Position im Nachkriegsdeutschland. Im Jahr 2016 hat dies die Mitte-Rechts-Partei von Kanzlerin Angela Merkel in einer Resolution erklärt.
Die BDS bestreitet die Vorwürfe des Antisemitismus und erklärt, dass ihr Protest gegen die israelische Politik und nicht gegen das jüdische Volk gerichtet sei. Und er stellt fest, dass es sogar Juden unter seinen Anhängern gibt.
Aber in Deutschland ist der Ruf nach einem Boykott Israels gleichbedeutend mit dem nationalen Boykott gegen jüdische Unternehmen im Jahr 1933."
https://internacional.estadao.com.br/noticias/nytiw,debate-sobre-israel-toma-conta-de-festival-de-musica-alemao,70002396156

aus Spanien: "Als aber ein Kunstfestival in Deutschland im letzten Monat beschloss, die Band aus dem Programm zu nehmen, wurde ein Anspruch ausgelöst, der nichts mit der Musik der Gruppe, sondern mit den Feinheiten des Nachkriegslandes zu tun hatte.
"Musik soll Menschen vereinen - leider geht es jetzt darum, Seiten zu wählen."
https://www.clarin.com/new-york-times-international-weekly/festival-musical-alemania-complicado-debate-israel_0_SkLwR6X7m.html

Der israelische Dirigent Ilan Volkov "In England hat sich das längst verselbstständigt. Viele Veranstalter sagen israelischen Künstlern offen, wenn sie auftreten wollen, dann nur ohne Unterstützung der israelischen Botschaft.
Boykott ist ein schlimmes, von der NS-Geschichte belastetes Wort.
Meine Solidarität für die Palästinenser hängt nicht von diesem Wort ab. Meine Priorität ist es, gegen eine fehlgeleitete Politik in Israel zu kämpfen. Sie verfolgt seit Langem einen falschen Weg. Mein Kampf geht nicht gegen falsche Wege zum Frieden zwischen Palästinensern und Israelis. Vielleicht sind die Ideen von BDS falsch. Was war denn richtig in den vergangenen 20 Jahren? Hat sich etwas zum Guten entwickelt? Viele Dinge werden nur dazu führen, dass wir Israelis uns noch stärker an die Wand gedrängt fühlen. Das spielt der rechten Regierung in die Hände, sie will, dass die Menschen in Angst leben und denken, alle Welt hasse sie.
Ist bei Kulturschaffenden in Israel Antisemitismus kein Thema?
Unsere Politiker, ich nenne hier stellvertretend Ministerpräsident Netanjahu, benutzen NS-Geschichte und instrumentalisieren sie. Es ist eine gefährliche Strategie. Die Nazidikatur und der Holocaust sind furchtbare Geschehnisse, das leugnet niemand. Aber es gibt auch seit mehr als 70 Jahre den Konflikt mit den Palästinensern und keine Lösung ist in Sicht. Die amtierende Regierung will, dass die Dinge bleiben, wie sie sind.
Ich habe einen Freund, der mir mitgeteilt hat, er kommt mich privat besuchen, aber er wird nicht mehr live in Israel spielen.
Das ist verrückt. Soll das zum Frieden führen?
Ja, es ist verrückt. Letztes Jahr sind nur etwa 5.000 Menschen aus Gaza mit dem Flugzeug geflogen. Was die israelische Regierung den Palästinensern antut, ist schlimmer als jede Kritik an Israel.
Das deutsche Zögern bei der Kritik an Israel kann ich nur schwer nachvollziehen."
http://www.taz.de/!5519488/
Interview Carp: sympathisch
Sehr angenehmes Interview. Stefanie Carp ist offensichtlich wieder auf Spur. Die chaotische Kommunikation der vergangenen Wochen ist vom Tisch. Die Mischung aus Selbstanalyse, Fehlereingeständnis aber auch großem Selbstvertrauen wirkt sympathisch. Warum wird eigentlich nicht deutlicher darauf hingewiesen, dass mit Alain Platel oder Massive Attack schon mehrfach BDS-nahe Künstler bei der Ruhrtriennale vertreten waren? Warum hat das nie jemanden gestört? Warum wird es jetzt bei Stefanie Carp plötzlich zu so einem Problem? Mit dieser Frage soll nicht das BDS-Problem relativiert werden. Aber zum einen muss klar sein, dass in Deutschland internationales Kulturleben wohl kaum noch auf hohem Niveau möglich sein wird, wenn alle BDS-nahen Künstler mit Auftrittsverbot belegt werden. Zum anderen ist aber auch die Frage, warum sich jetzt gerade diese Diskussion entzündet, obwohl sie genauso auch Gerard Mortier oder einen anderen Ruhrtriennaleintendanten hätte treffen können.
Interview Carp: brachiale Besserwisser
Was für eine moralinsaure, hochnäsige und selbstgefällige Kritik an Frau Carp.
Mein Gott, Ihr den ersten Stein schmeißenden Pharisäer. Reklamiert für Euch Kultur und Kunst ("Wir machen Kunst über die harten politischen Probleme der Welt, ignorieren aber gleichzeitig die tatsächlichen Kämpfe, die es gibt..") Aha, wer ist "wir" und was soll das sein, die "harten" und die "tatsächlichen"?
Da beschreibt und erklärt eine Frau, die sich seit Jahrzehnten um das Theater im weitesten Sinne verdient macht, die umfassend zum Austausch und zum Verständnis der Kulturen beigetragen hat und beiträgt, minutiös, was Ihre Gedankengänge und Entscheidungsprozesse im Fall der Ein-Aus-Einladung der Young Fathers waren.
Ob richtig oder falsch, ob sie sich anders hätte verhalten sollen, können, müssen.
Who knows? Aber Brachialbesserwisserische Salonkritiker nehmen immer gerne die komfortable ätschebätsche Haltung ein.
"Wie Sie's auch macht. In jedem Fall macht Sie’s falsch!“.
Man holt kräftig aus, kanzelt Ihre Erklärungen als Gerede und Ausrede ab, und fordert, wie’s in der Politik üblich sei, den Hut zu nehmen.
(Seehofer etc.?)
Ob es stimmt, dass der BDS Israel das Existenzrecht abspricht und antisemitisch ist, ob ein Boykott gegen Israel auf allen Ebenen sinnvoll oder richtig ist, ob das unmenschliche und brutalen Vorgehen gegenüber der palästinensischen Bevölkerung radikale Mittel rechtfertigt, ob Israel sich nur selbstverteidigt, ob wir Deutsche lieber die Klappe halten sollten, all das steht hier erstmal nicht zur Debatte.
" Freedom of Speech" wird eine spannende Veranstaltung werden, wenn die Künstler zu Wort kommen und nicht die Funktionäre und Besserwisser.
Frau Carp’s Chronik der Entscheidungsprozesse ist umfassend und reflektiert Ihre und die ganze Widersprüchlichkeit und Komplexität des Themas.
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