Im Transitraum

von Sophie Diesselhorst

12. Juli 2018. Als Bastionen des Humanismus haben viele Theater sich im "Sommer der Willkommenskultur" inszeniert. Und sich dem Thema Flucht und Migration auch langfristiger verpflichtet, indem sie für ihre Spielpläne nach entsprechenden Stoffen gesucht haben.

Der politische Wind hat sich indes gedreht. Auch wenn das Mittelmeer und die zigtausenden auf der Flucht Ertrunkenen und Ertrinkenden gerade mal wieder im medialen Fokus stehen: Die freiwilligen Seenotretter*innen, die zunehmend an ihrer Arbeit gehindert werden, wirken wie Helden eines unrealistischen Action-Films. Und die Flüchtenden selbst werden mehr denn je zur Menschenmasse dehumanisiert, zur Welle, zur Krise – oder gar als "Asyltouristen" verunglimpft.

Durch Fluchtbewegungen hervorgebrachte Anordnung?

Kurzschlüsse allerorten, gegen die der empathische Kurzschluss des Mitleids mittlerweile hilf- und wirkungslos scheint – und sowieso reicht er nicht als Begründung für das Theater, sich weiter mit dem Thema auseinanderzusetzen. Es muss tiefer greifen und sich seinen Humanismus selbst erklären, wenn es ihn sich erhalten will. Umso verdienstvoller ist der Sammelband "Flucht und Szene", den Bettine Menke und Juliane Vogel jetzt im Verlag Theater der Zeit herausbringen als Ergebnis einer Tagung in Konstanz im Juli 2016. Er stellt sich die anspruchsvolle Aufgabe, zu "fragen, wie die Raum-, Bewegungs- und Redeanordnung des Theaters durch Fluchtsituationen und Fluchtbewegungen hervorgebracht wird" (Menke/Vogel im Vorwort). 

Buchcover Flucht und Szene 280Literatur-, Geschichts- und Theaterwissenschaftler*innen wollen aus der Theatergeschichte einen "paradigmatischen Zusammenhang zwischen Theater und Fluchtbewegung" herleiten. Dabei gehen sie viele, teils umständliche Umwege. Der Verdacht aktivistischer Vereinfachung, den die große Behauptung des Vorworts, Flucht und Szene bildeten "keine zufällige Konstellation" nahelegen könnte, ist schnell zerstreut. Das hat nur den Nachteil, dass manche der 15 kurzen Aufsätze sich in kryptischer Wissenschaftssprache im Detail verlieren.

Das Anliegen der Schutzflehenden findet Gehör

Der Band geht aus von der antiken Tragödie und kommt auf Aischylos' "Die Schutzflehenden" (466 v. Chr.) und Elfriede Jelineks Bearbeitung der Hiketiden-Tragödie, "Die Schutzbefohlenen" (2014), als zentrale Referenztexte immer wieder zurück. Mit dem Eröffnungs-Wort "pheugomen" ("wir fliehen") stürmen bei Aischylos die schutzflehenden Töchter des Danaos den Altar des Zeus-Heiligtums von Argos, wo sie Zuflucht suchen vor Zwangsverheiratung. Nach griechischem Sakralrecht stehen sie im Tempelbereich als Hiketiden unter provisorischem Schutz – ihr Gesuch, auch außerhalb des Tempels als Schutzsuchende akzeptiert zu werden, muss der Machthaber Pelasgos an die Volksvertreter weitergeben. Über die Gewährung von Asyl kann also erst im zweiten Schritt entschieden werden und nicht per Dekret.

Im Transitraum der Hikesie – des "Rituals des Ankommens", wie die Altphilologin Susanne Gödde es bezeichnet – ist den Schutzflehenden Aufmerksamkeit sicher für ihr Anliegen – eine Aufmerksamkeit, von der heutige Flüchtende nur träumen können. Der Agon, der Redewettstreit zwischen den Schutzflehenden und den politisch Verantwortlichen, wird von Aischylos zugespitzt, die Danaiden drohen gar mit Selbstmord: Die Zwischenräumlichkeit und -zeitlichkeit ihrer Situation ist der perfekte Nährboden für die Tragödie, ja fürs Theater schlechthin, so Göddes These, die in den kurzen Beiträgen der anderen immer wieder aufgegriffen wird: "Als Moment des Zwischen, als immer wieder neu, durch Auftritte und Abgänge sich konstituierende Form, scheint die Szene besonders geeignet, den Status des Fliehenden, des Schutzlosen, des Asyl Suchenden ins Bild zu setzen."

Wie die antike Tragödie politisch heikle Situationen durchspielt und Schuldfragen weiterdenkt, wie die Situation des Flüchtens und "Davonkommens" gar als Metapher fürs Leben selbst funktionieren kann, wird im weiteren noch an Aischylos' "Orestie" und Senecas "Trojanerinnen" untersucht – bevor es im zweiten Kapitel unter dem Titel "Transformationen von Flucht und Szene" zu Shakespeare, Goethe und Brecht geht. Den "paradigmatischen Zusammenhang zwischen Flucht und Szene" belegt dabei kein einzelner Beitrag erschöpfend, er funktioniert eher als fruchtbarer Suchbefehl.

Freier Austausch ohne "unfreiwilligen Fluchtverkehr"?

Christina Wald zeigt auf, wie Shakespeare in seinem "Coriolan" die dramatischen Möglichkeiten der Hikesie ausschöpft, wenn im Machtspiel zwischen Coriolan und der Stadt Rom erst der Verbannte, dann die von ihm mit seinen neuen Alliierten bedrohte Stadt um Schutz fleht. In Goethes "Iphigenie" besteht, so analysiert Juliane Vogel, "die Lösung der fluchtbedingten Krise" im Unterschied zur antiken Vorlage "nicht darin, den Flüchtling in den sicheren Schutz eines Gemeinwesens aufzunehmen, das ihm jenseits der Szene die Türen öffnet". Sondern darin, "dass am Ende die Grenzen aufgehoben werden" und die Szene sich öffnet "auf ein von den Verfolgungsmächten befreites Hinterland. Der unfreiwillige Fluchtverkehr der Vergangenheit transformiert sich in einen zukünftigen Verkehr, in dem sich die Völker frei miteinander austauschen".

Eigentlich ist das ein idealistisches Globalisierungs-Szenario, wobei der "freie Austausch zwischen den Völkern" ja heutzutage den "unfreiwilligen Fluchtverkehr" keineswegs abgeschafft hat – ganz im Gegenteil. "Die Danaiden und Herakliden agieren im Schutz der Formen, die ihnen bei ihrem Eintreffen zur Verfügung stehen bzw. die sie in den 'Verfahren' der Tragödien selbst, in den Redeagonen in Anspruch nehmen. Derart gewinnen sie selbst eine Form, die sie am Ende befähigt, in die Stadt einzuziehen", schreiben Vogel/Menke im Vorwort, und unter Bezug auf Hannah Arendts "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft": "Dagegen ist der Status der Flüchtlinge in der Moderne seit dem 20. Jahrhundert auch durch Rechtsstaaten als Ausnahme vom Gesetz bestimmt."

Theater in Beziehung zum Politischen

Wo Aischylos seine "Schutzflehenden" mit dem kämpferischen Ausruf "wir fliehen" beginnen lässt, ruft der Chor in Elfriede Jelineks Aischylos-Überschreibung "Die Schutzbefohlenen": "Wir flohen, von keinem Gericht des Volkes verurteilt, von allen verurteilt dort und hier." Jelineks Stück ist in den vergangenen drei Jahren auf deutschsprachigen Bühnen zum "Stück der Flüchtlingskrise" avanciert; Hans-Thies Lehmann setzt es in seinem Beitrag vom gut gemeinten "Flüchtlingstheater" ab als eines, "das eine genuine Beziehung zum Politischen aufnimmt". Denn das Politische des Theaters müsse "gerade nicht als Wiedergabe, sondern als Unterbrechung des Politischen zu denken sein". Jelinek wisse, "dass die politischen Kräfte zwar in einer höchst realen Weise auf uns einwirken, zugleich aber als solche ungreifbar bleiben".

Daraus zieht Lehmann eine Analogie von prä- und postdramatischer Sicht: "Wenn die antike prädramatische Figuration darauf abzielte, in einer clare et distincte noch unaussprechlichen Revolte das Subjekt gerade in seiner Ohnmächtigkeitserfahrung gegen die mythische Machtordnung zu konstituieren, so geht es im heutigen postdramatischen Dispositiv des Theaters erneut um die Illusion von Selbstmächtigkeit. Darum, den ideologischen Nebel zu durchdringen, der den alltäglichen Wahnsinn der Verhältnisse als das Handeln von Protagonisten erscheinen lässt: als Drama."

Eine Ästhetik nomadischen Umherschweifens

Und was bedeutet das fürs Bühnengeschehen, das in der Theorie des postdramatischen Theaters schließlich im Zentrum steht? Aus ihren Aufführungsanalysen u.a. zweier Inszenierungen von Jelineks "Schutzbefohlenen" (von Nicolas Stemann und Michael Thalheimer) schließt die Theaterwissenschaftlerin Evelyn Annuß: "Das Theater setzt Geflüchtete immer wieder als chorische Horizontalfigur in Szene" – so wie auch die Magazincover von "Stern" u.a., die den Begriff "Flüchtlingswelle" mit reißerischen Titeln überhaupt erst geprägt haben. Jelineks Text verleitet zur Inszenierung Geflüchteter als die Breite der Bühne horizontal einnehmender Chor, indem er "die Suspension wie Unhaltbarkeit des In-Erscheinung-Tretens über ein entkonturiertes chorisches Sprechen erkundet", so Annuß.

Für die Überwindung des theaterüblichen Dualismus Geflüchtete (auf der Bühne) und EU-Bürger mit schlechtem Gewissen (im Publikum) sieht Annuß eher Hoffnung in neuen Formen des Theaters im öffentlichen Raum, wie sie zum Beispiel Claudia Bosses Wiener theatercombinat ausprobiert. Das Theater könne, wenn es sich mit dem Thema Flucht beschäftigen will, die Stadt als Möglichkeitsraum reklamieren, "um sich in flexiblen Kollektiva zueinander ins Verhältnis zu setzen". Im "Auf- und Abtauchen, im Ein- und Ausschließen" könne sich eine "Ästhetik nomadischen Umherschweifens" entfalten.

Impulse der Hamburger Lampedusa-Gruppe

Auch Ewelina Benbenek und Martin Jörg Schäfer sehen in ihrer Analyse der Hamburger Theaterszene zwischen 2013 und 2016 das größte Potenzial für ein "fliehendes Theater" in Experimenten der Freien Szene und ihrer Institutionen – über Amelie Deuflhards Kampnagel heißt es: "Die am Anfang des Engagements noch sehr pragmatisch vorgebrachte Kunstbehauptung geht hier tatsächlich in eine wohl nicht nur für den deutschsprachigen Raum immer noch besondere Praxis über: in eine sich tatsächlich gesellschaftlich öffnende Institution, die langfristig vielleicht auch andere Formen von Kunst produzieren wird." Welche anderen Formen das sein könnten, lassen die Autor*innen allerdings weitgehend offen. 

Die besonders intensive Auseinandersetzung aller Hamburger Theater mit dem Thema wurde wesentlich angestoßen von den Aktivist*innen der Gruppe Lampedusa, mit denen Nicolas Stemann auch eine Ur-Lesung der Jelinekschen "Schutzbefohlenen" veranstaltete. Die Lampedusa-Gruppe ist, so Benbenek/Schäfer, mittlerweile "weitgehend aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden" – ihre Impulse wirken aber fort. 

Ein bisschen schade ist es, dass andere wichtige Impulsgeber*innen zu dem Thema wie die Artivist*innen vom Zentrum für politische Schönheit höchstens in Nebensätzen vorkommen. Und transkulturelle Stadttheaterexperimente wie das Exil Ensemble des Maxim Gorki Theaters behandelt der Band gar nicht. Der weiteren Auseinandersetzung damit, was Migrationsbewegungen und Abschottungspolitik fürs Theater bedeuten und wie es diesen Themenkomplex ästhetisch begreifen könnte, bietet er aber doch ein theoretisches Fundament mit vielfältigen Anregungen. 

Die gelungenste Einzelanalyse eines Kunstwerks behandelt Philip Scheffners Dokumentarfilm "Havarie". Der Film verschneidet Handybilder eines Schlauchboots mit Flüchtenden in Seenot mit Bildern von Schaulustigen auf einem Kreuzfahrtschiff. Das Mittelmeer wird zur Bühne, gleichzeitig erinnert der Moment des hilflosen Gaffens, so schreibt der Medienwissenschaftler Friedrich Balke, "mit Nachdruck an die Figur des Meeres als eines tendenziell rechtsfreien Raums". "Havarie" endet, ohne dass man erfährt, ob die Flüchtenden gerettet oder ihrem Schicksal überlassen werden. Es öffnet sich ein theatraler Möglichkeitsraum – den es theoretisch und praktisch weiter zu erkunden gilt. 

 

Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden
Herausgegeben von Bettine Menke und Juliane Vogel
Theater der Zeit: Recherchen 135
Berlin, Theater der Zeit 2018. 386 Seiten, 22 Euro

 

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