Der Landneurotiker

von Rainer Nolden

14. Juli 2018. Herbstsonate am Schauspiel Stuttgart, Das Schlangenei am Residenztheater München, Szenen einer Ehe in Stuttgart und am Theater Lübeck, Fanny und Alexander in Leipzig, Aus dem Leben der Marionetten am Wiener Theater in der Josefstadt, "Nach der Probe" am Schauspiel Hannover … Elf Jahre nach Ingmar Bergmans Tod sind seine Stücke immer noch fester Bestandteil vieler Spielpläne nicht nur an deutschsprachigen Theatern. Dabei sind es nicht einmal originäre Theaterstücke, sondern Adaptionen von Filmdrehbüchern, denen namhafte Regisseure und Regisseurinnen – etwa Jan Bosse, Amelie Niermeyer, Luk Perceval – immer wieder ihren Stempel aufdrücken.

Erbe von Ibsen und Strindberg

Bergman gilt zeitgenössischen Theatermachern als ziemlich einmalig in seiner Rolle als moderner desillusionierter Tragöde aus einem grau beleuchteten Skandinavien, insofern ein legitimer Erbe seiner großen Vorbilder Henrik Ibsen und vor allem August Strindberg. Letzterer lässt sich in all seinen Protagonisten wiederfinden – darin Bergman ähnlich, über den sein Freund und Kollege, der Schauspieler Erland Josephson, eine der Säulen in Bergmans theatralischem und filmischem Universum, sagte: "Bergman ist Spielleiter. Und Ausgangspunkt ist bei ihm immer der Text. Bergman ist im Text, und der Text ist Bergman." Die Seiten des Rechtecks, innerhalb dessen sich seine Tragödien entwickeln, sind Verlogenheit, Grausamkeit, Heuchelei und Hoffnungslosigkeit – ein Inferno, aus dem keiner seiner Protagonisten unversehrt herauskommt.

"Das Ich ist nichts an sich; es ist eine Mannigfaltigkeit von Reflexen, ein Komplex von Trieben, Begierden, manche hier unterdrückt, andere dort entfesselt", schrieb Strindberg als Student in Uppsala. Bergman muss in diesen Worten ein Echo seines eigenen Lebens gehört haben. Von daher erklärt sich sicher auch die lebenslange Begeisterung, geradezu Besessenheit des schwedischen Regisseurs, sich mit den Dramen seines Landsmanns, der vier Jahre vor Bergmans Geburt gestorben ist, auseinanderzusetzen – immer wieder das "Traumspiel", der "Totentanz" und die "Gespenstersonate". Nur selten war er mit dem Ergebnis zufrieden. Mal sah er die Schuld bei den Schauspielern, mal beim Bühnenbild, der Technik, der Beleuchtung – am häufigsten allerdings suchte er sie bei sich selbst. Seine Inszenierungsarbeiten waren denn auch vor allem für ihn selbst oft Seele und Körper auszehrende Prozesse und Prozeduren.

Ingmar Bergman 1966 560Ingmar Bergman (1966) © Joost Evers / Anefo - Nationaal Archief, CC BY-SA 3.0

Das Klischee vom Künstler, dessen Erfolg in einer unglücklichen Kindheit wurzelt – Bergman hat daraus seine Inspirationen bezogen. Das Theater war für den erst Elfjährigen, der unter einem pietistischen, strengen, zu Prügelstrafenden neigenden Vater litt – Erik Bergman war Pfarrer, seine Frau Karin Krankenschwester – eine frühe Fluchtmöglichkeit aus der beklemmenden Realität des Elternhauses. Zu seinen Lieblingsspielzeugen gehörten ein Puppentheater sowie ein Kinematograf, den er sich zu Weihnachten gewünscht hatte. Als der jedoch seinem Bruder geschenkt wurde, tauschte er nach Tobsuchtsanfällen und Weinkrämpfen unterm Weihnachtsbaum das ersehnte Spielzeug gegen 100 Zinnsoldaten ein; der familiäre Friede war – einstweilen – wiederhergestellt. Reminiszenzen an diese Kindheitserlebnisse baute Bergman 1982 in "Fanny und Alexander" ein, jene vom milden Licht der Erinnerung beschienene – und mit internationalen Preisen überhäufte – Geschichte der eigenen Kindheit.

fanny 1 gross r arnoldSebastian Hartmanns Inszenierung "Fanny und Alexander" in Leipzig 2011, ein eigenes Traumspiel statt Reproduktion des cineastischen Werk im Bühnenbild, das Neo Rauch zitiert © R. Arnold
Nach Lehrjahren an einer Studentenbühne, bei kurzen Tourneen und als Regieassistent an der Stockholmer Oper erhielt Bergman 1943 eine Festanstellung als Drehbuchschreiber bei "Svensk Filmundustri", ohne seine Arbeit fürs Theater aufzugeben. (Wenn er sich zwischen Film und Bühne hätte entscheiden müssen, sagte er einmal, hätte er immer das Theater gewählt.) Nach Stationen in Helsingborg, Göteborg und Malmö – die acht Leitungsjahre dort erklärte Bergman in seiner Autobiografie "zum besten Stück meines bis dahin gelebten Lebens" – wurde er 1963 Leiter des "Dramaten" in Stockholm, Schwedens bedeutendster Bühne. Dort blieb er 13 Jahre, bis er aufgrund einer Anklage wegen angeblicher Steuerhinterziehung (die sich letztlich als gegenstandslos entpuppte) Schweden verließ und München zur Wahlheimat machte. 1976 wurde er ans Residenztheater verpflichtet, wo er seinen Einstand mit einer Inszenierung von Strindbergs "Traumspiel" gab. Sein größter Erfolg in jener Zeit wurde seine Inszenierung von "Hedda Gabler" (Premiere am 11. April 1979). Nebenbei drehte er in den Bavaria-Studios "Das Schlangenei" und "Aus dem Leben der Marionetten".

Machtmensch, der die Macht nicht genießt

"Ich wusste, dass ich eine gewisse Überredungskunst besaß, dass ich Menschen dazu bringen konnte, das zu tun, was ich wollte, dass ich eine Art äußerlichen Charme mit mir herumtrug, den ich nach Belieben an- oder abstellen konnte. Ich war mir auch bewusst, dass ich ein Talent besaß, andere zu erschrecken und ihnen ein schlechtes Gewissen zu machen, da ich seit meiner Kindheit viel über die Mechanismen der Furcht und des Gewissens wusste. Kurz, ich war ein Machtmensch, der es nicht gelernt hatte, die Macht zu genießen", analysierte der Regisseur sich selbst.

Seine Arbeitsweise schilderte er mit den Worten: "Ich vermittle, organisiere, ritualisiere. Es gibt Regisseure, die ihr eigenes Chaos auf die Bühne bringen, und aus diesem Chaos erschaffen sie im besten Fall eine Vorstellung. Ich verabscheue dieses Amateurtheater. Ich nehme nie am Drama teil, ich übersetze, konkretisiere. Am wichtigsten: Für meine eigenen Komplikationen ist kein Raum (…) Ich hasse Tumult, Aggressionen, Gefühlsausbrüche. (…) Eine Probe ist eine ordentliche Arbeit, keine Privattherapie für Regisseur und Schauspieler." Von denen verlangte er: "Die Szenerie muss deutlich und klar ausgerichtet sein. Unklarheiten bei Gefühlen und Absichten sind strengstens verboten. Signale der Schauspieler an die Empfänger müssen einfach und verständlich sein (…) Das Geschehen auf der Bühne muss in jedem Augenblick den Empfänger erreichen. Die Wahrheit des Ausdrucks kommt erst an zweiter Stelle; gute Schauspieler verfügen übrigens immer über die Möglichkeiten, die gespiegelte Wahrheit zu vermitteln."

Angst setzt Grenzen

Dass es nicht immer kühl und vernunftbetont zugegangen ist, wie Bergman es in seinen Erinnerungen beschwor (auf der Basis einer solch rationalen Arbeitsweise am Theater kann schließlich auch nicht immer große Kunst entstehen), bezeugt der Schauspieler Erland Josephson, den mit dem Regisseur eine lebenslange Freundschaft, unterbrochen von monatelangen Feindschaften, verband: "Er legt die Hand auf den Arm des Schauspielers und führt sie oder ihn durch unwiderstehlich fantasievolle Szenarien. Die Hand auf dem Arm erscheint sanft und freundlich, ihr Zugriff lässt einen aber geheimnisvolle Aggression ahnen … ansteckend, grauenhaft, amüsant, voll abenteuerlicher Forderungen …"

Am 30. Juli 2007 ist Ingmar Bergman in seinem Sommerhaus auf der Insel Farö gestorben. Er wurde 89 Jahre alt. Sein Privatleben bevölkerten fünf Ehefrauen, zahlreiche Geliebte und neun Kinder. "Es gibt keine Grenzen", lautete sein Lebens- und Arbeitsmotto. "Weder für Gedanken noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt."

Dass er seine psychischen Befindlichkeiten trotz gegenteiliger Behauptungen nicht konsequent aus seinen Inszenierungen heraushalten konnte, beweist folgende Anekdote: Am Ende einer Vorstellung kam eine Zuschauerin hinter die Bühne und überraschte den Theatermann mit dem Geständnis: "Ich bin auch neurotisch."

Die Zitate stammen aus zwei Büchern von bzw. über Ingmar Bergman, die aus Anlass seines Geburtstages in überarbeiteten Versionen wiederveröffentlicht worden sind: "Laterna Magica – Mein Leben", aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maas, Alexander Verlag Berlin, 377 Seiten; 19,90 Euro; "Das Ingmar Bergman-Archiv", hrsg. von Paul Dungan und Bengt Wanselius, Taschen Verlag Köln, 464 Seiten, 60 Euro.

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Ingmar Bergmans 100.: Vom Verschwinden
Es gibt ein weiteres Buch, in dem Ingmar Bergman ein zentrales Thema ist und das 2018 erstmalig in deutscher Übersetzung erschien: „Die Unruhigen“ von Linn Ullmann, der Tochter von Liv Ullmann und Ingmar Bergman. Sie nennt es einen Roman, obwohl die nachprüfbaren Fakten stimmen. Dies ist wohl in gleicher Weise gemeint, wie ihr Vater „Romane über die Eltern“schrieb, in denen „planlos umhertreibende Scherben“ „mit Verstand und und eventuellen Eingebungen“ komplettiert werden. Dabei wird es „mit der Wahrheit nicht immer so genau genommen“, es wird „übertrieben, hinzugefügt, weggenommen und umgestellt, aber wie so oft bei diesen Spielen, ist das Spiel vermutlich deutlicher geworden als die Wirklichkeit“.
„Die Unruhigen“ war ein bei Fernando Pessoa entliehener Arbeitstitel für ein Buchprojekt aus Gesprächen zwischen Vater und Tochter. Wenn es die Unruhe, die Getriebenheit des Schaffenden thematisieren sollte, kann das Projekt als gescheitert gelten, da es zu spät begann – reichlich zwei Monate vor dem Tod Ingmar Bergmans in dessen Haus in Hammars auf der schwedischen Insel Farö. Über das Werk Bergmans ist kaum etwas zu erfahren. Im Buch wird das Verschwinden dokumentiert. Das Verschwinden der Dinge für die keine Namen mehr gefunden werden, der Worte, der Erinnerungen. „Verschwindende Konturen!" „Es ist eine Gesamtheit, die verschwindet, wenn man alt wird, still und leise verschwindet, …“ Und das Vergessen: „Ich habe sechs Gesprächsaufnahmen mit meinem Vater, aber als wir die Aufnahmen machten, war er so alt, dass er den größten Teil seiner eigenen und unserer gemeinsamen Geschichte vergessen hatte.“ „Er hatte alles vergessen. Das Projekt. Die Bänder. Mich.“
Und das Sterben: „Es dauerte zu sterben, es spielte sich ab, und wenn mich in jenem Sommer jemand gefragt hätte: Was tut er gerade?, hätte meine Antwort gelautet, er liegt da und stirbt, …“ Es war ein einfaches Sterben, wie gewollt nicht im Krankenhaus oder in einem „verdammten“ Altersheim, und dennoch auch ein privilegiertes.
Das Buch beginnt mit den drei Lieben, die Linn Ullmann nach Hammars führten: Der Liebe zwischen ihrer Mutter und ihrem Vater, der vorbehaltlosen Liebe der Tochter zu Mutter und Vater sowie der Liebe zu dem Ort, zu Hammars. Die Liebe der Eltern zueinander hielt nicht lang. Schon die erste Erwähnung der Liebe der Tochter wird von Zweifel begleitet, dass sie sich schwierig gestaltete, da auch die Eltern Kinder sein wollten. „Keiner der beiden konnte bügeln oder den Fußboden putzen, keiner von ihnen wusste, wie man sich um ein Kind kümmert“, heißt es später.
Können Erwachsene Kinder richtig lieben ohne zu wissen, wie man sich um sie kümmert? Und als Spiegelung kann sich auch die Tochter am Sterbebett nicht kümmern, geht dank einer „katastrophalen Unbeholfenheit“ selbst der Versuch schief, den Erschöpften Wasser trinken zu lassen, äufwändigere oder unangenehmere ‚Pflegeleistungen‘ werden gar nicht erwähnt.
Die dritte Liebe, die zu Hammars enttäuschte nicht. Und so glaubte Linn Ullmann am Ende, ob sie nicht mehr um den Ort trauerte als um den Mann – „die Dinge, die Steine, die Schatten unter den gekrümmten Kiefern“.
Offenbar verwenden große ‚Überwinder‘ zu wenig Aufmerksamkeit darauf, dass auch sie Gefahr laufen, in einem Kreislauf zu landen und ‚Wiedergänger‘ zu werden, die Lieblosigkeit und Fremdheit perpetuieren. Machtmenschen, auch wenn sie die Macht nicht genießen! Und so scheinen Tochter wie Vater das Klischee vom Künstler zu bedienen, dessen Erfolg in einer unglücklichen Kindheit wurzelt. Wer wollte das Gewicht einer unglücklichen Elternliebe bezweifeln?
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