Die Poesie der Schwerelosigkeit

von Thomas Rothschild

Ludwigsburg, 18. Juli 2018. Der Magier zeigt seine leeren Handflächen. Gleich darauf hält er grüne Karten oder Kugeln hoch, lässt sie verschwinden, bringt sie erneut zum Vorschein. Wir wissen, dass er nicht zaubern kann, dass er lediglich die uralte Kunst des Palmierens beherrscht, die Technik, Gegenstände hinter der Hand zu verbergen. Aber wir lassen uns gerne täuschen, wir erfreuen uns an der Illusion. Das Vergnügen an der Erkenntnis, dass etwas nicht ist, was es zu sein scheint, als radikaler Gegenentwurf zum "Genau-wie-Onkel-Otto-Theater" (Heiner Müller) – es gehört seit je zur Bühnenkunst, zum Kino und eben auch zum Circus.

Demokratische Kunstform

Ein Hauch von Kindheit umweht den Circus (oder auch Zirkus). Er ist, weit mehr als das Sprechtheater oder gar die Oper, eine demokratische Kunstform, klassenübergreifend und ohne jenen Anspruch auf Bildung als Voraussetzung, nicht etwa als anzustrebendes Ziel, den noch das fortschrittlichste Theater erhebt, ohne die furchteinflößende Architektur bürgerlicher Repräsentationsbauten, und bei all dem nicht minder spektakulär als eben das Theater. Gerüche, Geräusche, Gesten rufen die Kindheitserinnerung ab und lassen vergessen, dass die Geschichte des Circus eine Geschichte seiner permanenten Krisen ist.

Roncalli5 560 BertrandGuay xTrickreich mit den Händen: der Magier Mike Chao © Bertrand Guay

Es ist eine Geschichte, die im vorliegenden Fall auch mit 1968 zu tun hat. Der Revisionismus stellt die Ereignisse, die mit der Chiffre '68 verbunden sind, als unsinnlich, humorlos, lustfeindlich und alles in allem ziemlich verabscheuungswürdig dar. Diese Geschichtsklitterung setzte lange vor Orbán, Erdoğan, Trump oder Kurz-Strache ein. Die Wahrheit ist, um im Bereich des Theaters zu bleiben: fast alle Debatten, die nachtkritik.de und ihre Leser bewegen, von der Mitbestimmung über das Blackfacing bis zur transkulturellen Theaterarbeit, sind, jedenfalls so, ohne den Aufbruch von 1968 nicht denkbar.

Ein spätes Kind von '68

Ein spätes Kind von '68 und ein Meilenstein in der Circusgeschichte ist der Circus Roncalli. Als Bernhard Paul und André Heller ihn 1975 gründeten, mag ihnen das gar nicht bewusst gewesen sein. Beide waren damals nicht unbedingt, was man politische Aktivisten nennen würde. Heller erwarb sich die Gunst des Publikums mit prätentiösen Chansons ("A Zigeina, a Zigeina mecht i sein. Ohne Haus, ohne Stod und ohne Gegend nur a Sprungduach in des was dea Himmel fallt"), ehe er Exponent der Friedensbewegung wurde und Jörg Haider in die Schranken wies. Und Paul war ein Nobody, dessen Flirt mit der Scientology irritierte, obwohl sie sich, genauer betrachtet, in mancherlei Hinsicht nicht grundsätzlich von Österreichs katholischer Kirche unterschied. Aber die zwei waren infiziert von aufklärerischen Idealen, von emanzipatorischen Vorstellungen und von einem erquicklichen Trotz gegen den Status quo.

RoncalliStoryteller 560a BertrandGuay xEntwaffnend spaßig: Carillon, der Clown © Bertrand Guay

In einem Interview sagte Bernhard Paul, Zirkusdirektor und Clown in einer Person: "Lachen ist ein pazifistischer Akt. Wenn jemand lacht, kann er niemanden ermorden." Wer Milan Kundera gelesen oder Heynowski und Scheumanns Film über Kongo-Müller gesehen hat, weiß zwar, dass das nicht stimmt, aber es ist ein sympathischer Irrglaube. Dass einer der berühmtesten Clowns, Charlie Rivel, ein glühender Bewunderer nicht nur Chaplins, sondern auch Adolf Hitlers war, belegt, dass die Wirklichkeit widersprüchlicher ist als ein apodiktischer Lehrsatz. Der Circus Roncalli aber war stets mehr als eine Show. Er gehört zur Sozialisation einer Generation wie Kinderladen, GRIPS Theater, die Lieder von Christiane & Fredrik und leider auch Nutella. Zu Rebernigg, Knie, Althoff, Busch, Krone und wie sie alle heißen verhält sich Roncalli wie BAP zu Udo Jürgens.

Ein Akrobat ist ein Akrobat

Der Circus Roncalli weist analoge Züge zur aktuellen Theaterdebatte auf. Mit den Verteidigern des nicht mimetischen Theaters haben die Protagonisten des Circus wie des ihm nahe verwandten Varietés die Ablehnung des Rollenspiels gemeinsam. Ein Akrobat ist ein Akrobat, ein Ikarier ein Ikarier, ein Jongleur ein Jongleur. Und der Clown ist geradezu die Entlarvung des Rollenspiels. Wenn er seine Kollegen – etwa den Magier mit den grünen Karten – nachahmt, bleibt er Clown und gibt zu verstehen, dass er die imitierte Rolle nicht auszufüllen vermag, sondern verfehlt. Zugleich bekräftigt Roncalli, was Viktor Šklovskij vor fast einem Jahrhundert in "Zoo oder Briefe nicht über die Liebe" erklärt hat: "Das Lebendigste in der zeitgenössischen Kunst sind der Aufsatzband und das Varietétheater, das auf die einzelnen Nummern, nicht auf deren Verbindendes setzt."

Roncalli4 280h BertrandGuay xKönig der Stühle: Kong Haitao © Bertrand GuayBei Roncalli heißt das aktuelle Programm "Storyteller: Gestern – Heute – Morgen" und bietet Ansichten historischer und moderner Zirkusformen. Ein Spaßmacher bläst, eher untypisch, den Dudelsack, Akrobaten bewegen sich auf ihren Händen wie wir Normalmenschen auf den Füßen oder wirbeln an Bändern oder am Trapez durch die Luft, ein Magier – nicht der mit den Karten – tritt im Duo mit einem Automatenmenschen auf, und insgesamt fünf Clowns fügen ihre je eigene Komik hinzu.

Die Ästhetik der Auflösung in einzelne autonome Szenen hat der Circus mit bahnbrechenden Theaterstücken wie den eben erst von Paulus Manker neu inszenierten Letzten Tagen der Menschheit gemeinsam. Während Manker aber den Einschränkungen durch den Bühnenrahmen entflieht, indem er die Zuschauer an die unterschiedlichen Orte des Geschehens führt (wie sich das Theater seit einiger Zeit ja überhaupt der Installation annähert), kommen im Circus die heterogenen Elemente in einem Raum, der Manege, zusammen. Darin gerade besteht der Reichtum dieser Kunstform.

Ohne lebendige Tiere

Roncalli verzichtet völlig auf ein Element, das traditionell Bestandteil des Circus war und ihn vom Varieté unterschied: auf lebendige Tiere. Kein Löwe springt durch einen Feuerreifen, und auch der peitschenschwingende Zirkusdirektor, dieses Mittelding zwischen Conférencier und Praterausrufer, fehlt. Dafür haben Paul und Heller von Anfang an mit einem Stichwort geworben, das man eher beim Theater als beim Circus vermutet: mit Poesie. Dass die beiden Gründer dabei gelegentlich in die Nähe eines verblasenen Kitsches gerieten, hat nur noch geringe Spuren hinterlassen. Da traf 68 auf die Neue Innerlichkeit der siebziger Jahre. Bei den "Storytellern" ist es am ehesten der Chinese Kong Haitao, der mit seinem atemberaubenden Balanceakt auf einem Turm von Stühlen zu Mozarts "Requiem" Poesie erzeugt.

Heute eröffnen Pferde als Hologramm die dreistündige Schau, ehe ein einzelnes Pferd mit acht Beinen durch die Arena watschelt. Das Pferd ist Teil der Illusionen. Die Musiker sind echt, auch wenn sich ihr Repertoire seit dem Circus unserer Kindheit verändert hat. Sogar Hip-Hop und Loops reüssieren als Circusnummer. Dietmar aus Esslingen muss mitmachen. Aus dem Publikum in die Manege. Hat gar das interaktive Theater den Circus erreicht? Ätsch, reingefallen. Dieser falsche Dietmar ist Kai Eikermann von der Truppe. Alles nur Illusion.

 

Storyteller: Gestern – Heute – Morgen
vom Circus Roncalli
Mit: Mike Chao, Vik und Fabrini, Adèle Fame, Gensi und Carillion, Robert Wicke, Chistirrin, Vivi & Natalia, Kai Eikermann, Kong Haitao u.a.
Dauer: 2 Stunden 55 Minuten, eine Pause

www.roncalli.de

Das aktuelle Programm ist bis 12. August 2018 in Ludwigsburg und danach bis zum 9. Dezember 2018 in Innsbruck, Wien, Graz und Linz zu sehen.

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