Witze gegen die Wahrheit

von Reinhard Kriechbaum

Salzburg, 8. August 2018. "Dovele G., meine Damen und Herren, auch genannt Dov Grinstein, ist der einzige Mensch auf der Welt, der bereit ist, eine ganze Nacht mit mir zu verbringen, und zwar ohne Geld, und das ist meines Erachtens die sauberste und objektivste Messlatte für wahre Freundschaft." Das sagt Dovele über sich selbst – und er hat absolut unrecht. Denn erstens ist da Pitz, das Mädchen vom Nachbarhaus, das sich noch an den fröhlichen Buben erinnert, der im Handstand neben seiner Mutter her gelaufen ist. Und da ist das Publikum.

In dem 2014 veröffentlichten Roman von David Grossman laufen die Zuschauer dem glücklosen Alleinunterhalter Dovele reihenweise davon. Bei der deutschsprachigen Erstaufführung der Dramatisierung durch Dušan David Pařízek sind zwar bald zwei ältere Damen aus der ersten Reihe abmarschiert. Der Ton, mit dem Dovele sein Publikum attackiert, mag für sie, in der ersten Reihe sitzend, zu frontal, zu bedrohlich, zu niederschmetternd gewesen sein. Aber trotz ansehnlicher Aufführungslänge – fast zweidreiviertel Stunden ohne Pause – besteht im Salzburger "republic" (dem alternativen Spielort, wo im Festspielsommer einst das Young Director's Project beheimatet war) nicht die geringste Fortlauf-Gefahr.

KommtEinPferdInDieBar 1 560 BerndUhlig uEin starkes Duo: Mavie Hörbiger, Samuel Finzi © Salzburger Festspiele / Bernd Uhlig

Samuel Finzi ist dieser Dovele, der einen Abend lang alles tut, um als Publikums- und Selbsthasser dazustehen. Und doch wird er alle Sympathie und nicht wenig Mitleid auf seine Seite ziehen im Lauf seiner "etwas alternativ geratenen Comedy Show". Ja, ein Comedian, der im Gegensatz zu Kabarettisten alten Zuschnitts nicht vorgibt, über den Dingen und mithin in deutlichem Abstand zu ihnen zu stehen. Dovele ist Kind geblieben, Kind seiner Zeit. Er steht mittendrin im Wahnsinn des Staates Israel, mittendrin in der eigenen Familie (Vater und Mutter waren die einzigen der Sippschaft, die den Holocaust überlebt haben). Dovele ist einer, der zum bitter attackierenden, distanzlosen Comedian werden musste, wie überhaupt (so argumentiert im Programmheft der österreichische Schriftsteller Doron Rabinovici) jüdischer Humor eine Wandlung in diese Richtung durchgemacht habe.

Publikumsbeschimpfung

Dovele ist gleich Samuel Finzi ist gleich Dovele. Quasi im Minutentakt startet er seine Ausritte gegen das Publikum, gegen das Leben in seinem Land, gegen seine Herkunft, seine Familie, gegen sich selbst. Fast verstört wirkt er, wenn Pitz ihm attestiert, "derselbe wie damals" geblieben zu sein. "Bart, Glatze und Menschenhaß ausgeklammert", kontert er mit gespielter Ironie. Wie viel Mühe kostet es diese durch und durch psychisch verquere Figur, Wahrheiten zuzulassen!

Was dieser famose Schauspieler zu leisten vermag, wie er umgeht mit den psychischen Brüchen und Deformationen des Dovele, darauf Reagiert Dušan David Pařízek, der auch für die Bühne verantwortlich ist, mit dem denkbar kargsten Ambiente. Vor einer quadratischen Bretterwand wird Dovele zur Publikumsbeschimpfung anheben. Seinen Anzug wird Dovele in der Hitze des Gefechts bald in Fetzen reißen, im Anrennen gegen die Wand sein Gesicht blutig schlagen.

KommtEinPferdInDieBar 4 560 BerndUhlig uDas Bühnenbild von Dušan David Pařízek © Salzburger Festspiele / Bernd Uhlig

Bald fällt die Wand, wird zu einem ganz flachen, großen, drehbaren Podium – viel zu niedrig, als dass sich Dovele noch ernsthaft über andere erheben könnte. Da ist, auf zwei Drittel der gesamten Aufführungsdauer, nur noch er selbst Gegenstand und Opfer seines eigenen bitteren Rabaukentums. Immer wieder hantiert er mit der Videokamera, wir sehen sein Gesicht im Großformat – ein vom Leben zerstörter, ein sich selbst zerstörender Egomane.
Wirklich Egomane? Wenn er seine Zoten mit dem Publikum abspult (political correctness ist keine Tugend des Romans von David Grossman) gerät er wie zufällig an Pitz. Er führt die Frau vor. Es stellt sich heraus, dass Pitz eine Jugendfreundin ist. Das Nachbarmädchen erinnert sich an einen anderen Dovele.

Kleine, treue Seele

Eine Traumrolle für Mavie Hörbiger. Allein durch ihr Da-Sein wirft sie den verbitterten Mann gleichsam auf sich selbst zurück. "So war es nicht", sagt sie einige Male mit Bestimmtheit. Und sie wird selbst zur Sprühdose mit dem Bühnenblut greifen oder sich – wieder wie ein Spiegelbild zu ihm – als trauriger Clown schminken. Sie wird gehen, wenn er sie zurückhalten will, und sie wird trotzig sitzen bleiben, wenn er sie partout wegschicken möchte. Pitz ist, so erfahren wir, die Kurzform von Pitzkele, winzig. Im entscheidenden Moment wird sie jene kleinen Sandkörner streuen, die reiben auf den Schienen des Selbstdarstellers.

Über vieles müsste man berichten von diesem durch und durch unordentlichen Romantext. David Grossman spielt raffiniert mit den Zusammenhängen von kollektivem Empfinden und Denken mit persönlichem Schicksal. Vom jüdischen Selbsthass zu jenem auf die Araber, von ernsthafter Erinnerung und Prägung durch den Holocaust bis zu frivoler Ironie: Da steckt ein rechtes seelisches Pandämonium einer Volks-Befindlichkeit dahinter. Vieles wird an- und ausgesprochen, mehr noch angedeutet. In der Textflut geht gewiss auch Wichtiges unter, so dass man schon einige Male darüber nachdenkt, ob die Romanform nicht doch das angemessenere Medium ist. Keine Frage freilich: Mit Samuel Finzi und Mavie Hörbiger ist das ein ein- und nachdrücklicher Theaterabend, entsprechend bejubelt nach einem fast verblüffend positiven Ende. "Aber jetzt bin ich ab bissele müde" sagt der mit Haut und Haar in Dovele aufgegangene Samuel Finzi. Rechtschaffen müde.

 

Kommt ein Pferd in die Bar
Dramatisierung des gleichnamigen Romans (2014) von David Grossman in einer Textfassung von Dušan David Pařízek
Regie und Bühne: Dušan David Pařízek, Kostüme: Kamila Polívková, Licht: Krisha Piplits, Dramaturgie: Eva-Maria Voigtländer.
Mit: Samuel Finzi, Mavie Hörbiger / in Berlin spielt Kathleen Morgeneyer.
Koproduktion der Salzburger Festspiele mit dem Burgtheater Wien und dem Deutschen Theater Berlin.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, keine Pause

www.salzburgerfestspiele.at
www.burgtheater.at/de
www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Allzu rhetorisch und langatmig" gerate der Abend, so Ronald Pohl im Standard (10.8.2018). Finzi spiele die Figur des Stand-up-Comedian nicht nur, "er reißt sie an sich". "Als gutgemeinte Verschlimmbesserung eines tollen Romans gleicht der Abend insgesamt einer Pointe, die nicht recht zünden will." Es sei absolut erstaunlich, wie wenig Regisseur Dušan David Pařízek mit dieser stotternden Meditation über Glanz und Elend jüdischer Selbsterkenntnis anzufangen wisse, so Pohl.

Nur ein klammer Witz gelinge dem Regisseur, findet auch Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (10.8.2018). Die existenzielle Dimension des Romans spare Pařízek weitgehend aus. "Finzi schwitzt und berserkert wie wild an diesem Abend. Er schmeißt sich so entschlossen brutal in die Rolle hinein wie anfangs gegen die Wand. "Und doch führt er uns nicht in seinen Schmerz hinein. Am ehesten noch dort, wo er auch mal Zwischentöne trifft, leiser wird, Sätze wirken lässt."

Pařízek versuche den Roman mit heiligem Ernst, mit Klamauk und technischer Spielerei zu bearbeiten, schreibt Norbert Mayer in der Presse (10.8.2018). Doch fehle seinem Theaterabend im Vergleich die Komplexität und auch die Attraktion des Originals. "Man sieht meist ein starkes Solo von Samuel Finzi als Grinstein, ergänzt durch rührende, feenhafte Auftritte von Mavie Hörbiger als Pitz." Statt Grossmans Komplexität erlebe man Pa?ízeks Wiederholungszwang. "Das heißt jedoch nicht, dass diese Aufführung nicht intensiv wäre.

Diese Bühnenfassung reiche bei weitem nicht an die Wirkung des Buches heran, so Sven Ricklefs in DLF (9.8.2018). Das liege zum einen daran, dass der Regisseur eine wichtige Figur aus dem Plot herauslösen musste, um das Ganze spielbar zu machen. So aber "bleibt die Last tatsächlich allein an dem großartigen Schauspieler Samuel Finzi hängen, der sich bewunderungswürdig durch diese zweieinhalbstündige Fast-one-Man-Show kämpft, der so manche etwas hilflose Regiepirouette mitspielt: vom Kameraeinsatz bis zur Drehbühne, und der bedauerlicher Weise trotzdem nicht dieselbe herzklamme Betroffenheit hervorzurufen vermag, die die Lektüre von David Grossmans Roman erzeugt."

Bernd Noack schreibt in der Neuen Zürcher Zeitung (online 20.8.2018):  Enttäuschend was Pařízek aus der Romanvorlage gemacht habe. Ihm sei gar nichts eingefallen, weshalb er "eigentlich nur eine grosse, hölzerne Wand" habe umfallen lassen. Samuel Finzi mühe sich ab, sein Publikum "bei Laune und Empörung zu halten". Das "grosse, furios energische Solo" aber bleibe stecken in einem "verwirrenden Monolog", der Grossmans "bitterböser, viel mehrschichtiger Story" alle traurig-komische Verzweiflung nehme. "Ein langer Witz ohne Pointe."

"Anständiger, doch nicht stürmischer Applaus" quittierte die Wiener Premiere, schreibt Michael Wurmitzer im Standard (7.9.2018). Wohlwollend lasse das Publikum Doveles Spott über sich ergehen: "über aufgespritzte Lippen, ein leidlich kaschiertes Doppelkinn. Man weiß, Samuel Finzi in der Hauptrolle ist nicht der verbitterte Komiker, er spielt ihn nur", so Wurmitzer. Vom Schauspielduo ist der Kritiker angetan: Mavie Hörbiger strotze "vor einer seltsam leuchtenden Kraft". Samuel Finzi, der mit vollem Körpereinsatz spiele, sei "famos laut", könne aber auch "vorzüglich leise" sein. "Aber meist schleudert er die Pointenparade einfach heraus. Dabei gerät manches etwas kontrastlos." Finzi ist famos laut, er kann auch vorzüglich leise sein. Aber meist schleudert er die Pointenparade einfach heraus. Dabei gerät manches etwas kontrastlos. - derstandard.at/2000086837018/David-Grossmans-Kommt-ein-Pferd-in-die-Bar-am-Akademietheater

 Schwer wiegt für Martin Lhotzky von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (10.9.2018), dass der Abend "viel zu lang, zu gewunden, in zu vielen persönlichen Erinnerungen (...), Selbst- und Generalbeschimpfungen ausufert. Samuel Finzi macht das großartig, schwitzt seine Anstrengung förmlich heraus, entblößt fast mehr als Doveles Innerstes. Aber so kann das nicht gutgehen, das ist sichtbar nervenaufreibend für ihn, und das Publikum wird immer wieder zum Lachen an den unpassendsten Stellen animiert. Ob aus Verlegenheit oder Unverständnis durch Überforderung, das versteht offenbar auch die Regie nicht, hätte doch eine weitere Straffung noch einiges retten können."

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