Falsches Zeichen

12. August 2018. In einem Offenen Brief wenden sich der Theater-Regisseur Christoph Marthaler und das Ensemble, mit dem er für die Ruhrtriennalen-Produktion "Universe, incomplete" probt, an Armin Laschet, Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen. Laschet gab jüngst bekannt, dass er der Ruhrtriennale fernbleiben wolle, um ein "Zeichen in der um die Ruhrtriennale entflammten Debatte um Antisemitismus zu setzen". Marthaler fragt in dem Offenen Brief, was das für ein Zeichen sein soll und dass dieses Zeichen kontraproduktiv sei, weil Laschet sich damit der Debatte entziehe. 

Zu einer gelebten Wertschätzung gehört es, so der Wortlaut, dass "der Ministerpräsident des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, der Kraft seines Amtes auch die Ruhrtriennale mitverantwortet, persönlich in Erscheinung tritt, und nicht durch Verweigerung eine Symbolik betreibt, die alle kritische Auseinandersetzung verunmöglicht."

Auftakt PK c Daniel Sadrowski Ruhrtriennale 2018 uChristoph Marthaler © Daniel Sadrowski Marthaler beruft sich auch auf den Ruhrtriennale-Gründer Gerard Mortier, der das Festival als Ort des experimentellen und diskursiven Agierens begriff.

Und er betont, dass es sich bei Stefanie Carp um jemanden handelt, dem eine produktive Auseinandersetzung mit der globalen Vielstimmigkeit politischen und künstlerischen Denkens und Handelns von großer Bedeutung sei. Wir dokumentieren unten den kompletten Offenen Brief (hier auch als pdf). (sik)

Mehr dazu:

NRW-Ministerpräsident sagt Ruhrtriennale-Teilnahme - Meldung vom 7. August 2018

Israelische Botschaft kritisiert Ruhrtriennale – Meldung vom 3. August 2018

"Es ging um meine Glaubwürdigkeit" – Interview mit Stefanie Carp vom 11. Juli 2018

Konflikt um Ruhrtriennale-Einladung der Band "Young Fathers" – Meldung vom 22. Juni 2018

 

Offener Brief an den Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen

von Christoph Marthaler und dem Ensemble von "Universe, incomplete"

 

Bochum, den 11. August 2018

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Laschet,

ich schreibe diesen offenen Brief in einem Moment, in welchem ich mich gemeinsam mit einem international besetzten Ensemble sowie Instrumentalsolist*nnen aus u.a. Köln, Essen, Münster und Detmold sowie den Mitgliedern der Bochumer Symphoniker in Endproben befinde für die seit über einem Jahr vorbereitete, vom Land Nordrhein-Westfalen, der Stiftung Pro Bochum sowie der Bundeskulturstiftung ermöglichte Ruhrtriennalen-Premiere "Universe, incomplete". Dieser Abend wird, ausgehend von der Musik des für die künstlerische Moderne singulär wegweisenden Komponisten Charles Ives, von der Kraft und den Möglichkeiten utopischen Denkens erzählen. Abgesehen davon, dass allen beteiligten Künstler*nnen eine solche inhaltliche Ausrichtung in Zeiten um sich greifender nationalistischer Verbunkerungen am Herzen liegt, führt dieses Projekt den zentralen Grundgedanken meines viel zu früh verstorbenen Freundes und Gründers der Ruhrtriennale Gerard Mortier weiter.

Mortier bedeutete mir viel. Nicht zuletzt deshalb, weil er zu den wenigen Intendanten gehörte, die einen künstlerischen Kontext wie den der Ruhrtriennale als Ort experimentellen und diskursiven Agierens begriff und nachdrücklich verteidigte. An Orten wie der Ruhrtriennale sollten sich verschieden sozialisierte und politisierte Künstler*nnen äußern und ihre Blicke auf die Welt mit der Öffentlichkeit teilen. Für Mortier stellte dies einen zentralen gesellschaftspolitischen Vorgang dar, dem auch ich mich zutiefst verpflichtet fühle. Ebensolches gilt für Stefanie Carp, die mit mir zusammen am Zürcher Schauspielhauses sowie später als Leiterin des Schauspielprogramms der Wiener Festwochen die erwähnten Maximen Mortiers stets mit leidenschaftlicher Bedingungslosigkeit vertrat.

Nun lese ich in der Zeitung, dass Sie, Herr Ministerpräsident, entschieden haben, keine einzige Veranstaltung der diesjährigen Ruhrtriennale zu besuchen, um, ich zitiere nach der Zeitungsmeldung, "ein Zeichen in der entflammten Antisemitismusdebatte um die Ruhrtriennale zu setzen". Ich frage mich nun, um was für ein Zeichen es sich hierbei tatsächlich handelt und auf welchen Annahmen es beruht. Das Zeichen als solches erscheint mir zunächst einmal kontraproduktiv, da Sie sich durch öffentlich erklärtes Fernbleiben der von Ihnen zitierten Debatte entziehen und damit auch darauf verzichten, die Stimmen der an diesem gleichsam regional wie international ausgerichteten Festival beteiligten Künstler*nnen sowie der Besucher*nnen des Festivals zu hören.

Die wesentliche Annahme Ihrer Abwesenheitserklärung wiederum ist deutlich benannt. Sie beruht auf den unterschiedlich formulierten Antisemitismusvorwürfen, die in den letzten Wochen gegen die künstlerische Leitung der Ruhrtriennale vorgebracht wurden – mehrheitlich basierend auf der zurückgenommenen Ausladung der britischen Band "Young Fathers" sowie Stefanie Carps Einlassungen zur Thematik im Landtags-Kulturausschuss. Hierzu möchte ich folgendes festhalten: Neben Gerard Mortier ist mir in meiner beruflichen Laufbahn noch ein weiterer Mensch begegnet, dem nichts mehr von Bedeutung ist, als die produktive Auseinandersetzung mit der globalen Vielstimmigkeit politischen und künstlerischen Denkens und Handelns. Wenn es eine, den unterstellten Tendenzen des Antisemitismus absolut entgegenstehende, dafür im wahrsten Sinne des Wortes kosmopolitisch agierende Persönlichkeit im Bereich des Theaters gibt, dann ist dies für mich Stefanie Carp. Ich betone das ausdrücklich, weil es mich zutiefst bedrückt, dass Gegenteiliges derart in Umlauf geraten ist und Frau Carp auf eine Weise diskreditiert, die in keiner Hinsicht gerechtfertigt ist.

Ich und das Ensemble der Ruhrtriennale-Produktion "Universe, incomplete" bitten mit diesem Schreiben um eine respektvolle, die Umstände der Ereignisse korrekt einordnende Auseinandersetzung mit der entstandenen Problematik sowie gelebte Wertschätzung der im Rahmen der Ruhrtriennale engagierten Mitarbeiter*nnen und Künstler*nnen. Hierzu gehört für uns, dass der Ministerpräsident des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, der Kraft seines Amtes auch die Ruhrtriennale mitverantwortet, persönlich in Erscheinung tritt, und nicht durch Verweigerung eine Symbolik betreibt, die alle kritische Auseinandersetzung verunmöglicht.

Im Werk Charles Ives' gibt es eine Komposition mit dem Titel "The Unanswered Question". Wir fragen nun: werden Sie Ihre Entscheidung revidieren, um vor Ort mit uns, allen weiteren Beteiligten des Festivals sowie dem Publikum der Ruhrtriennale ins Gespräch zu kommen? Unsere Hoffnung wäre, dass diese Frage nicht unbeantwortet bleibt.

 

Christoph Marthaler und das Ensemble von "Universe, incomplete"

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