Universe, Incomplete - Bei der Ruhrtriennale widmet sich Christoph Marthaler dem Fragment gebliebenen Werk des Komponisten Charles Ives
Denn genug ist nicht genug
von Martin Krumbholz
Bochum, 17. August 2018. Im Lauschen auf die Musik finden alle zusammen. Auch diese Marthal’schen Bühnenkinder, die vorher noch gebalgt, sich gewürgt, sich die Luft zum Atmen genommen hatten: Wenn die Musik anschwillt, um zu verklingen, die Streicher sich verströmen, eine Trompete hell und klar durch die Halle dringt, dann halten sie plötzlich inne, senken die Köpfe und lauschen. Der Ausklang ist der ergreifendste Moment dieses Abends, denn die wunderbare Musik des Amerikaners Charles Ives (1875–1954) ist sein eigentliches Ereignis. Wie so oft sieht man die Musiker nicht. Man hört sie nur. Die Bochumer Jahrhunderthalle mit ihren gewaltigen Dimensionen verschlingt die Musiker, nicht die Musik.
Symphoniker im Gänsemarsch
Alles an dieser Aufführung mit dem Titel "Universe, Incomplete" – denn das Werk des Komponisten ist unvollendet geblieben – hat Dimensionen, die das normale Maß sprengen. Vor allem der Raum und die Anzahl der beteiligten Künstler. Um sich eine Vorstellung davon zu machen, sieht man einmal die Bochumer Symphoniker in einem schier unendlichen Gänsemarsch in ihren schwarzen Fräcken und Abendkleidern durch die Halle ziehen. Dazu Stille. Christoph Marthaler hat ein unverwechselbare Faible für das Schweigen und die Assoziationen, die es weckt. Er lässt einfach Menschen minutenlang in einer Schlange anstehen – so der Anfang – und auf einen mürrischen Bürokraten in einem Campingwagen warten, der sie schließlich einzeln durchwinkt. Ins Nirgendwo. Oder auf eine kleine Tribüne, auf der sie auf etwas Unbestimmtes warten. Vielleicht schlicht auf das Einsetzen der Musik, die hier und heute die universale Erlöserin ist.
In Marthalers Schlange © Walter Mair / Ruhrtriennale 2018
Wenn sie einsetzt, mit einer gefühlt überwältigenden Anzahl an Schlagwerkern, steht Titus Engel, der auswendig in Knickerbockern dirigiert, über den Köpfen der Zuschauer auf einer Brücke. Manchmal sieht man den Dirigenten, die Musiker jedoch nicht. Das hat etwas Bizarres. Wie das Dirigieren mit seiner Spezial-Gestik überhaupt eine bizarre Anmutung hat. Der Dirigent eines zweiten Orchesters (denn genug ist nicht genug), des "Rhetoric Project", verbeugt sich nach einem Dirigat unermüdlich, ohne dass jemand klatscht. Zum Applaudieren ist überhaupt kein Platz, denn "Universe, Incomplete" ist keine Nummernrevue, sondern ein fortlaufendes Gewebe aus kleinen und größeren Ereignissen, an denen man sich durchaus auch sattsehen kann.
Die schamlose Repetition gehört nun einmal unveräußerlich zum ästhetischen Programm Marthalers, man wartet geradezu darauf. Wenn zwei Personen hintereinander herlaufen und die hintere der vorderen immer wieder auf die Schulter tippt, ohne eine Reaktion auszulösen, und das Ganze mit X multipliziert wird, würde wohl niemand behaupten, dass sich darin ein interessanter oder auch nur geheimnisvoller Vorgang verbirgt. Und wenn dieser lange Abend keine "Längen" im üblichen Sinn hat, dann liegt es an der rhetorischen Überzeugungskraft der Musik und auch an der Art, wie sie inszeniert wird. Das heißt, wie sie sich an die Architektur der Halle anschmiegt und sich grandios in ihr entfaltet.
Viel Platz in der Jahrhunderthalle © Walter Mair / Ruhrtriennale 2018
Anna Viebrock und Thilo Albers (Viebrock zeichnet auch für die schönen Kostüme verantwortlich) haben die Jahrhunderthalle mit einer nicht geringen Anzahl an "Inseln" oder an "Räumen-im-Raum" bestückt, die fast wie Petitessen wirken, was nicht an ihren eigenen Maßstäben liegt. Allein die unscheinbaren Kirchenbänke, die sich in der Weite des Raums zu verlieren drohen und dabei doch der Industriehalle den Appeal einer tatsächlichen Kathedrale verpassen! Nur selten sitzen ein paar einsame Gottesfürchtige darauf. Oder die schätzungsweise 50 Meter lange Tafel im Hintergrund, von der man denkt: Da könnte ein opulentes Mahl stattfinden. Immerhin sieht man eine Reihe von Menschen dort sitzen und lernt, dass man auch im Sitzen tanzen kann.
"You are leaving the american sector", tönt es krächzend aus einem Lautsprecher, was auch immer das hier bedeuten soll. Die Texte, die von Gerhard Falkner und Martin Kippenberger stammen, wie das Programmheft beiläufig vermerkt, sind an diesem Abend eher Nebensache. Wiederholt werden der 11. September, der 3. Oktober und der 15. März aufgerufen. Die Iden des März, Cäsars Ermordung? Vermutlich. Das ist aber nicht weiter von Belang. Die Schönheit der Musik, der Rausch, den sie unwiderstehlich entfaltet, beenden für diesmal jeden Hang zur Geheimniskrämerei.
Universe, Incomplete
Musiktheater von Charles Ives
Regie: Christoph Marthaler, Musikalische Leitung: Titus Engel, Bühne: Anna Viebrock, Thilo Albers, Kostüm: Anna Viebrock, Co-Regie: Joachim Rathke, Co-Kostüm: Charlotte Pistorius, Lichtdesign: Phoenix, Sounddesign: Thomas Wegner, Will-Jan Pielage, Sandro Grizzo, Dramaturgie: Malte Ubenauf, Arrangements: Tobias Schwencke.
Mit: Joaquin Abella, Tora Augestad, Liliana Benini, Bérengère Bodin, Marc Bodnar, Magne Havard Brekke, Bendix Dethleffsen, Haizam Fathi, Altea Garrido, Ueli Jaeggi, Antonio J. Navarro, Jürg Kienberger, Michael Wilhelmi, Thomas Wodianka, den Bochumer Symphonikern, Rhetoric Project, Schlagquartett Köln, Schlagzeugstudent*innen der Hochschule für Musik Köln.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause.
www.ruhrtriennale.de
Marthalers Pioniere sind Zuschauer und Akteure zugleich, verdammt oder auserwählt dazu, Demokraten zu sein an einer Durchgangsstation, die vermutlich Ellis Island zeige, so Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.8.2018). "Dem utopischen Geist entspricht es, dass das Bühnenbild von Anna Viebrock auf patriotische Symbole verzichtet. Das Sternenbanner wird nicht entrollt – nur einmal, in Worten, fast unhörbar." Im Collageverfahren haben Engel und Marthaler die unvollendete Universums-Symphonie mit Flickstücken aus seinem Fundus ergänzt. "Man hört die Bochumer Symphoniker und sieht sie ewig nicht – bis sie Mann für Frau für Mann im endlosen Gänsemarsch aus einer Wellblechhütte heraustreten. Das himmlisch in die Länge gezogene Spiegelbild der Eröffnungsszene." In der Premiere spendete hier ein einsamer Zuschauer anhaltenden Applaus, "er hat Ives und Marthaler verstanden: den Geist der Gemeinschaftsbildung aus Eigensinn."
"Ein wunderbares Ereignis!", ruft Bernd Noack auf Spiegel Online (18.8.2018) aus. Der Kritiker erlebte "ein faszinierendes Gesamtkunstwerk des Unvollendeten". Und er sah Menschen, die mit "ihren Einsamkeiten" hausieren gehen; "immer wieder buhlen sie um den Kontakt mit dem Nächsten, doch mündet alles doch nur in einen verzweifelten Kampf, dem sie nicht gewachsen zu sein scheinen".
Stefan Keim zeigt sich im Deutschlandfunk (18.8.2018) begeistert: "Eine einzigartige Aufführung, für solche Kreationen wurde die Ruhrtriennale erfunden." Es gehe "um Transformationen, um den Umgang mit Gewalt und Terroranschlägen", so der Kritiker. "Der skurrile, feinsinnige Humor Marthalers hat finstere Abgründe. Bei aller Leichtigkeit des Spiels geht es um das Ende der Welt.“ Hier entstehe ein "faszinierend vielfältiges Kompendium, voller Anspielungen an europäische wie amerikanische Musiktradition" und "ein verzaubernder Abgesang auf die Menschheit".
"Ein staunenswertes Klangerlebnis. Was das alles soll, außer einmal mehr heitere Schwermut zu verbreiten, blieb offen, zumal das dürftige Programmheft auch keine nähere Auskunft gab", berichtet Peter Jungblut im Bayerischen Rundfunk (18.8.2018) ernüchtert. "Es gibt eine kitschige, pseudoromantische Brücke in Pastellfarben, eine abweisende Grenzabfertigungs-Station, eine steile Tribüne – der Raum ist weit, die Zeit ist knapp. Marthalers Relativitätstheorie sozusagen. Das ermüdet über zweieinhalb Stunden, besonders diejenigen, die seine Stücke kennen und dabei inzwischen selten oder nie Neues erfahren."
"Nie wohl seit Beginn der Ruhrtriennale wurde die Hallen-Architektur und -Struktur so einfach belassen, so suggestiv aufgeladen, so sinnreich schlicht und freisinnig genutzt", jubelt Andreas Wilink im Kulturmagazin k.West (online 18.8.2018). "Sänger, Schauspieler, Tänzer fallen ins babylonisch Vielsprachige; aber es ist weniger Drohung als Verheißung. Sie veranstalten ein Tanztheater der Losgelassenen, der Verstörten und Versehrten, die gegen Wände, gegen den Anderen, gegen sich selbst, gegen Symmetrie und Harmonie anrennen und sich verschrauben."
"Dem Sog, den diese utopieschwangere Inszenierung unbeantworteter Fragen in wunderschönen Klängen, Bildern und Bewegungen erzeugt, kann man sich nicht entziehen", berichtet Sabine Peschel für die Deutsche Welle (18.8.2018). "Der melancholische Grundton wird immer wieder durch feinen Humor gebrochen, etwa, wenn verschiedene Darsteller lange philosophische Passagen dada-sprachlich effektvoll vortragen, nur um am Ende klanglich in einer babylonischen Kakophonie zu verschmelzen."
Egbert Tholl findet "Universe, Incomplete" in der Süddeutschen Zeitung (online 20.8.2018, 18:48 Uhr) "universal und unvollständig, aber riesengroß und schlechterdings ein Zauberstück." Die Schlagzeuger des Beginns von Ives' unvollendeter Partitur verwiesen mit ihrem "Trommeln, Hämmern und Klöppeln" auf die "amorphe Ursuppe des Universums, in Bochum kommt nun noch die Erinnerung an den Klang der Schwerindustrie hinzu". Marthaler und Anna Viebrock nutzen, schreibt Tholl, den riesigen Raum mit "stupender Leichtigkeit". Die Auftritte der etwa 150 Musiker glichen "zauberisch hingetupften Erscheinungen". Es "könnte herzzerreißend sein, gäbe es nicht genau gesetzte Dosen Humor, mal im Spiel, mal in ulkigen Texten von Gerhard Falkner und Martin Kippenberger, mal in einer babylonischen Sprachverwirrung". Jeder wolle ergründen, wer er sei, wer die anderen seien. "Eine Antwort gibt es nicht, es bleibt die "Unanswered Question"".
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bis auf den Schluss keine Dichte im Raum, naja, Too Big to Fail.
Ein meisterlich gemachter Abend mit tollen Momenten und Einfällen. Aber für mich musikalisch und inhaltlich zu glatt für eine solche Nacht.