Flucht und Party

von Frauke Adrians

Berlin, 23. August 2018. Fluchtreflexe hat das Publikum schon, ehe Sasha Waltz' "Exodos" überhaupt beginnt. Zwei schmale Gänge führen auf die beiden Säle des Radialsystems zu, die Augusthitze staut sich und macht das Atmen schwer. Zu viele Menschen in zu engen Tunneln: Duisburg! Love Parade! Es ist fast perfide, wie gut Sasha Waltz es versteht, mit Assoziationen zu spielen und mit dem Unwohlsein, das sie auslösen können.

Im freien Assoziieren haben sich die Choreografin und ihr Ensemble offensichtlich auch beim Ausloten des Begriffes "Exodus" – ob nun mit lateinischem "u" oder in der älteren griechischen Variante mit "o" – geübt. Mit etwas Flexibilität passt da vieles: Flucht, Fluchtbewegung (gern auch in der Masse), Auszug (biblisch oder anderweitig), Ausweg, sogar das Ausgehen, wie es erwachsene Städter am Wochenende pflegen. Das Thema dermaßen zu weiten, das macht den Abend reicher und vielfältiger. Es ist aber auch problematisch, denn für alle "Exodos"-Deutungen, die gravierenden wie die harmlosen, braucht eine Choreografie ästhetische Bilder, die dann zwangsläufig gleichrangig nebeneinanderstehen: das Leiden und Sterben auf der Flucht und der jüngste Clubabend.

Vintage versus Kleidersammlung

Zunächst setzt Sasha Waltz ihr Publikum einem intensiven Raus-hier-weg-hier-Impuls aus. Hat der Besucher seine Platzangst und den Durchgang zu den Sälen endlich überwunden, sieht er sich Menschen in Vitrinen gegenüber: Es sind Tänzer, eingesperrt in perfekt ausgeleuchteten, nicht einmal schulterbreiten Plexiglaskästen; exquisite und doch Unbehagen auslösende Ausstellungsstücke, als hätte Gunther von Hagens bloß vergessen, das Menschenmaterial in Scheiben zu schneiden. Mit ihrer Befreiung aus den Kästen beginnen die Tänzer ein reizvoll verwirrendes Spiel: Weil das Publikum – wenn auch nur im ersten Teil des Abends – frei umherwandern darf und sogar für Komparsentätigkeiten herangezogen wird, weiß bald kein Besucher mehr so recht, wer zum Ensemble gehört und wer nicht. Viele werden Teil suggestiver Tableaus, wenn eine Tänzerin ihnen lächelnd ein Kinderskelett zum Streicheln hinhält, sie stumm um Hilfe beim Gepäcktragen bittet oder die Umrisse ihrer Füße auf dem Boden mit Kreide markiert, als handle es sich um Spuren eines Unglücks. Tänzer bilden Körperbrücken und -tunnel, ziehen einander mühsam hinüber und hindurch auf die ersehnte andere Seite, schieben Fahrräder, schleppen Wasserkanister. Flucht, ihre Dramen und ihre Folgen: Das ist in solchen Szenen Thema, deutlich bis überdeutlich.

Exodos2 560 Carolin Saage uExquisite Ausstellungsstücke © Carolin Saage

Teil zwei lässt die pantomimischen Einzelaktionen hinter sich und startet mit einer starken, mitreißenden Gruppenchoreografie, wie Sasha Waltz sie so gut beherrscht. Massenbewegung, Wellenbewegung, Ekstase im Tanz und Panik auf der Flucht, das geht ineinander über; und spätestens hier wird klar, dass das Ensemble im 25. Jahr seines Bestehens immernoch einfach Lust hat, sich bis zur Erschöpfung auszutoben. Dafür räumen sich die Tänzer den großen Saal frei und schieben das Publikum auf die Bänke an der Wand, was der Zuschauerperspektive nur gut tut. Sich austoben, das gilt auch für die Kostümabteilung, die aus dem Fundus und vermutlich aus mehreren Second-Hand-Läden zusammengeschneidert hat, was nicht zusammengehört: Ärmel zu Frackschößen, Hosenbeine zu Rockfransen, zwei Hemden zu einem. Wer über den komischen Effekt hinausblickt, der sieht auch hier einen Kipp-Punkt zwischen Ausgehen und Flucht, Partyvolk und Notleidenden: Die Spaßgesellschaft gefällt sich im "Upcycling" alter Klamotten; Flüchtlinge müssen anziehen, was da ist.

Wir sind Insekten

Solche Gratwanderungen wiederholen sich, sie fallen unterschiedlich überzeugend aus, die stärksten prägen sich ein: etwa, wenn ein Dutzend Tänzer sich zum Intensiv-Rave bei dröhnender Clubmusik in einen Plexiglaskasten einsperren lässt. Die Wände beschlagen sichtbar, während sich die Tanzenden die Kleider vom Leib reißen, die Temperatur steigt, die Luft wird knapp. Assoziationen? Duisburg. Und ein Kleinlaster – in den Abmessungen ähnlich wie der Glaskasten –, in dem auf einer Autobahn in Österreich viele Flüchtende erstickten. Ausgehen und Flucht und Tod: Das miteinander zu verschränken und quasi in eins zu setzen, ist auch auf der Bühne heikel, aber man kann Sasha Waltz nicht vorwerfen, dass sie mit dem Ernst der Lage spielt. Ihre Bilder sind nicht frivol, und die Compagnie besitzt mehr als genug Format, um keinen Reigen der Beliebigkeit zu eröffnen.

Exodos1 560 Carolin Saage uEnsemble, energiegeladen © Carolin Saage

Waltz‘ "Exodos" hat Längen und verzichtbare Ulkigkeiten, etwa einen Vortrag über staatenbildende Insekten (Merke: Wir Menschen sind auch nicht so viel anders), und der geburtsartige "Auszug" eines Adams und einer Eva in der Schlussszene ist hart am Kitsch, auch wenn es sich erkennbar nicht um die Vertreibung aus dem Paradies handelt. "Parole, parole", singt Eva ihrem männlichen Gegenpart vor, einen italienischen Popsong bemühend. Worte, Worte? Als könnte Tanz im Zweifel nicht auch eine Menge sagen.

Exodos
Choreographie und Regie: Sasha Waltz, Bühne: Heike Schuppelius und Sasha Waltz, Kostüme: Federico Polucci und Sasha Waltz & Guests, Licht: Urs Schönebaum, Musik: Soundwalk Collective, Dramaturgie: Jochen Sandig und Agnes Scherer.
Mit: Liza Alpízar Aguilar, Blenard Azizaj, Jiri Bartovanec, Davide Camplani, Clémentine Deluy, Davide Di Pretoro, Luc Dunberry, Charlotte Engelkes, Tian Gao, Peggy Grelat-Dupont, Hwanhee Hwang, Josh Johnson, Lorena Justribó Manion, Annapaola Leso, Margaux Marielle-Tréhoüart, Nicola Mascia, Thusnelda Mercy, Michal Mualem, Virgis Poudziunas, Sasa Queliz, Zaratiana Randrianantenaina, Aladino Rivera Blanca, Yael Schnell, Corey Scott-Gilbert, Claudia de Serpa Soares, Stylianos Tsatsos.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, keine Pause

www.radialsystem.de

 

Kritikenrundschau

"'Exodos', ein selbst gewählter Ausgang, Abgang, Fluchtweg aus der Katastrophe. Darum geht es an diesem Abend (…) – Hybrid aus Oratorium und Hexensabbat, Höhepunkt der Festivitäten, mit denen Sasha Waltz & Guests das 25. Jahr ihres Bestehens feiern", schreibt Dorion Weickmann in der Süddeutschen Zeitung (25.8.2018). Es sei "ein Tanztheater, das unter die Haut geht", ein "Hingucker".

"Trotz vie­ler wun­der­vol­ler rein tän­ze­ri­scher Pas­sa­gen, manch ge­lun­ge­ner Sze­nen und ei­ner schier über­wäl­ti­gen­den Spiel­lust und Be­we­gungs­vir­tuo­si­tät al­ler 26 Tän­zer be­weist der Abend die Schwä­chen ei­nes Gen­res wie des Tanz­thea­ters zwi­schen Nar­ra­ti­on und Abs­trak­ti­on", schreibt Wiebke Hüster in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.8.2018). Aber: "Was mit in Vi­tri­nen ein­ge­sperr­ten Tän­zern so waltz-be­kannt be­ginnt (...), hat da­zwi­schen so viel Ge­wag­tes, so viel das Waltz-Re­per­toire Über­stei­gen­des und groß­ar­tig Ir­res zu bie­ten, dass man ganz satt nach Hau­se geht und denkt, kein Wun­der, dass man auch als Zu­schau­er schwitzt. War ja auch ei­ne Zu­mu­tung. Aber stel­len­wei­se ei­ne herr­li­che."

Einen "polystilistischen Abend, der ungeheuer viele verschiedene Assoziationen zum Thema eröffnet" hat Elisabeth Nehring gesehen und sagt im Deutschlandfunk (24.8.2018): Sasha Waltz zeige, wie meisterhaft sie Gruppen in unterschiedlichen Rhythmen und Dynamiken durch den Raum bewegen kann. "Bei aller Lust an der Überwältigung" aber keime an diesem Abend auch "immer wieder die Frage des Verhältnisses von gesellschaftlicher Realität und Kunstschaffen auf", die Nebeneinanderstellung von Flucht- und Partyszenarien hinterlasse "ein subtiles Befremden". Am Ende komme man aber "mit vollem Kopf und körperlich, mental und emotional sehr bewegt aus diesem Abend, der unter den jüngeren Arbeiten der Choreografin Sasha Waltz als einer der gelungensten gelten kann".

Einer "nicht geglückten Premiere" hat dagegen Michaela Schlagenwerth beigewohnt und schreibt in der Berliner Zeitung (25.8.2018): Gefehlt habe "der richtige Dramaturg, der den gedanklichen Boden legt, auf dem Sasha Waltz mit ihren Bewegungsexperimenten operieren kann". Sasha Waltz und ihre Tänzer wüssten Massen zu bewegen. Die Kompositionen des Soundwalk Collectives seien von "enormer suggestiver Wirkung, ebenso das Licht von Urs Schönebaum. Nur die gedankliche Substanz fehlt", so Schlagenwerth. "Wenn die Tänzer durch den Raum stampfen und erst 'Utopia!', dann 'Impossible!' und schließlich 'Possible!' schreien, ist das von peinlicher Banalität."

"Zwar ist in manchen Momenten die Kraft der Gruppe zu spüren, doch wie hier kollektive Dynamiken durchgespielt werden, ist ziemlich absehbar", kritisiert auch Sandra Luzina im Tagesspiegel (26.8.2018). Choreografisch breche Sasha Waltz in "Exodos" nicht zu neuen Ufern auf. "Die Komposition, die Clubsounds mit Geräuschen von Orten entlang der Fluchtrouten mischt, vermag nicht wirklich zu irritieren. Wie hier Politik und Party vermengt werden, ist nicht nur befremdlich, sondern hat fast etwas Frivoles."

"Ein Einfall jagt den nächsten, so dass man schon beim Zuschauen ganz atemlos wird", schreibt Anke Dürr auf Spiegel online (24.8.2018). Bei so vielen Einfällen gerate die Idee des Abends "ein bisschen aus dem Blickfeld – letzten Endes geht es der Choreografin aber wohl um die Beschwörung der Vision, dass Gemeinschaft über alle Grenzen hinweg möglich ist."

Von einem "langen, heißen, stickigen, feuchten, leider ziemlich öden, sich in Einzelteilen perlenschnurgleich, aber wenig glänzend aneinanderreihenden Tanzperformance-Abend" berichtet Manuel Brug in der Welt (27.8.2018). Der Abend sei "pittoresk und dekorativ, doch aus den bekannten Schnittmustern kombiniert; zudem immer öfter gespeist aus ihren längst zur modischen Marke gewordenen Raumabtastungen in vorzugsweise spektakulär zu eröffnenden Kulturgebäuden. Sasha Waltz ist eine Marke geworden, sie klont und variiert sich, wirklich Neues sieht man nicht."

Der "beabsichtigte Wurf ist das Welterklärungsepos 'Exodos' eher nicht geworden, ein mehrfach eindringlicher Bilderbogen humanen Fehlverhaltens aber wohl, aus dem ein Jeder sich sein persönliches Stück zusammenpuzzeln kann", schätzt Volkmar Draeger für tanznet.de (26.8.2018) ein.

Aus Sicht von Katrin Bettina Müller von der taz (28. August 2018) feiert "Exodos" permanent die Abweichung. "Hemden haben vier Ärmel, Jacken sind halb, was vorne ein Rock ist, wird hinten zur Hose. Zudem werden die Kostüme ständig gewechselt. Das bekommt etwas von einer Leistungsshow, von einem überbordenden Dekorum, das eindeutigen Zuordnungen ständig den Stinkefinger zeigt." Das findet die Kritikerin "teilweise witzig, auf Dauer aber auch sehr demonstrativ. Vielleicht will dieses Stück zu viel, alles geben, eine Summe aus dem Bisherigen ziehen, politisch aktuell sein, universell gültig. Dabei muss Sasha Waltz niemandem beweisen, dass sie es kann."

Kommentare  
Exodos, Berlin: exzessiv
Zum 25jährigen Jubiläum ihrer Compagnie verlangt Sasha Waltz ihren Tänzerinnen und Tänzern und ihrem Publikum einiges ab. Als sich das Ensemble nach knapp drei Stunden keuchend und schweißtriefend in der Mitte der hochsommerlich aufgeheizten ehemaligen Industriehalle Radialsystem V zum Schlussapplaus versammelt, lässt sich als Fazit festhalten: Die Anstrengung hat sich gelohnt.

Den ersten Teil von „Exodos“ könnte man mit dem Motto „Laokoon trifft Borderline-Prozession“ überschreiben. In einer bewussten Überforderung des Publikums wird in allen Ecken der Halle gleichzeitig gespielt.

Vor allem aber bilden sich immer wieder Grüppchen aus Tänzern und Zuschaueres Guten zuviel“ stöhnte die rbb-Kritikerin. Sicher: ein roter Faden, die sich zu laokoonartigen Knäueln verdichten: andere Tänzer und Zuschauer müssen durch die Lücken hindurchkriechen. Aus der hin und herwogenden Masse kristallisiert sich schließlich eine klarere Ordnung heraus. Im Zentrum bildet sich ein menschlicher Schutzwall. Die Verbindung aus Tänzern und Publikums-Mitspielern wird zu einer „Festung Europa“, die auf der Flucht (so eine der vielen Bedeutungsebenen des griechischen Worts „Exodos“) kaum noch zu überwinden ist.

Das Publikum wird langsam an die Sitzbänke und Stehplätze am Bühnenrand zurückgedrängt, der „Exodoos“-Exzess ist aber noch längst nicht am Ende, sondern nimmt erst richtig Fahrt auf. Die Tänzerinnen und Tänzer finden sich zu immer neuen Miniaturen zusammen. „Zuviel des Guten" stöhnte die rbb-Kritikerin. Sicher: ein roter Faden ist nicht mehr zu erkennen. Die Bilder und Anspielungen, die Sasha Waltz und ihre Gäste abfeuern, sind kaum noch zu dechiffrieren.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/08/24/exodos-jubilaeum-von-sasha-waltz-and-guests-radialsystem-kritik/
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