Eifersüchtig auf den Tanzlehrer

von Eva Biringer

Berlin, 25. August 2018. Niedlich, dieser alte weiße Mann, versunken im Ohrensessel und seinen Erinnerungen an das junge, schöne Mädchen. Während ein Piano leise wimmert, ringt er nach Worten für sein Begehren, er der Schmetterling, sie die Blume. Ein Begehren, das nicht sein darf, schließlich ist er verheiratet. Und sie das Dienstmädchen! Das Videoscreen-Kaminfeuer lodert dramatisch.

Minutiös notierte Körperbedürfnisse

"17c" heißt die Produktion des New Yorker Big Dance Theater, die im Rahmen von Tanz im August im Deutschen Theater Berlin gastiert. Im Zentrum stehen die Tagebücher eines gewissen Samuel Pepys, der Ende des 17. Jahrhunderts alles festhielt, was ihm festhaltenswert erschien. Wann er den Schneider aufsuchte, was er dinierte, wie es sich mit seinem Stuhlgang verhielt und mit seinen Erektionen. Sein moderner Wiedergänger ist schnell gefunden: Karl Ove Knausgård, dessen fünfbändige Autobiografie Min Kamp mittlerweile zum Literaturkanon gehört.

Hier wie da handelt es sich in der Lesart von Annie-B Parson, zuständig für Konzept und Künstlerische Leitung, um eine Überartikulation toxischer Männlichkeit. Pepys, der in Großbritannien als Staatssekretär tätig war, nimmt sich jede Frau, die er will, notfalls gegen deren Willen. Ein Weinstein vor dem Herrn, der mit Oxford-Akzent spricht und seine Treue schamlos auf die Bibel beschwört. Von Selbsterkenntnis keine Spur, außer beim Theater, das er als Laster ansieht, von dem er nicht loskommt.

17c 4 560 Ian Douglas uZwischen Rokoko und heute bewegen sich die Perücken und Kostüme in "17c" © Ian Douglas

Dass man inzwischen beinahe Mitleid haben muss mit dem alten weißen Mann, hat sich bereits rumgesprochen; manche wie Sibylle Berg warnen halbernst davor, ihn zum alleinigen Sündenbock zu machen. In "17c" wird aber nochmal richtig hemmungslos seine Schwanzgesteuertheit ausgestellt. Das beginnt bei Oana Botez' Kostümen, die eine Mischung sind aus hysterischem Brokat, ausladenden Rockschößen und tragbarer Stofftapete. Passend dazu Mozartperücken und viel Salonkulissenschieberei (Bühne: Joanne Howard). Das setzt sich fort in Spiel und Tanz der fünf Darsteller (Elizabeth DeMent, Cynthia Hopkins, Paul Lazar, Mikéah Jennings und Kourtney Rutherford).

Selbstoptimierungs-Prototypen

In einem Moment debattieren DeMent und Rutherford als Lesebrillen-tragende Buchclubmitglieder über den literarischen Wert dieses Martin-Walser'schen Tagebuchs, was lustig ist und traurig zugleich, weil es zeigt, wie oft Frauen in der rezipierenden, passiven Rolle gefangen sind. Im anderen Moment brodelt Jennings in der Rolle des Pepys vor Eifersucht auf den Tanzlehrer seiner Frau, weil er die beiden beim Reden erwischt hat statt beim Tanzen, denn: "A gentleman never dances so well as the dancing master". Wenigstens ist es nicht der Tennislehrer.

17c 3 560 ByIanDouglas uDie Frauen diskutieren am Rande: Elizabeth DeMent und Kourtney Rutherford in "17c"
© Ian Douglas

Zwischendurch werden Geschlechterrollen getauscht, names gedroppt (Roland Barthes und Judith Butler zum Beispiel) und es wird getanzt, manieristisch-barock oder modern, und manchmal werden Pfadfindergitarrenlieder angestimmt.

Worum es Annie-B Parson eigentlich geht, erfahren wir erst kurz vor Schluss. Sie begreift den Tagebuchschreiber als einen Prototyp unserer Selbstoptimierungsbesessenheit. Vor allem als eine Art prähistorischen Blogger, der glaubt, jede Banalität seines Alltags mit der Welt teilen zu müssen. Und natürlich als Frauengenießer Schrägstrich Sexisten, der seine alten weißen Männerhände gerne in den cunnies junger Frauen versenkt.

Wackelig

Sollten Sie den Begriff nicht kennen, schauen Sie doch mal im urban dictionary nach. Ein Problem für viele Nicht-Muttersprachler dürften die zahlreichen Slangbegriffe in "17c" sein, gepaart mit dem Altenglisch der vorgelesenen Tagebucheinträge. Tanz hin oder her: Ohne Textverständnis funktioniert der Abend nicht. Der Abend bräuchte eine deutsche Übertitelung. Und in seiner Disparatheit und gelegentlichen Beliebigkeit der Mittel wackelt der Abend leider allzu oft.

Interessante Ansätze wie jener, dass Frauen viel seltener eine bleibende Stimme zugestanden wird – das Tagebuch von Peppys Ehefrau Bess wird im Gegensatz zu seinem in Fetzen gerissen – werden nicht weiterverfolgt. Bewegung und Inhalt fallen selten in eins. Am Ende bleibt vor allem ein Satz im Gedächtnis: "The past is extremely sad", die Vergangenheit ist extrem traurig. Die Gegenwart, wie wir wissen, leider auch. Mit etwas weniger männlichem Mitteilungsdrang und mehr Frauen, die selbst zum Stift greifen, anstatt durch tausend Seiten Männerego zu blättern, wäre schon viel gewonnen.

17c
von Big Dance Theater
Konzept und Künstlerische Leitung: Annie-B Parson, Künstlerische Co-Leitung: Paul Lazar, Choreografie: Annie-B Parson und die Kompanie, Sound: Tei Blow, Bühne: Joanne Howard, Kostüm: Oana Botez, Perücken: David Bova, Licht: Joe Levasseur, Video: Jeff Larson.
Mit: Elizabeth DeMent, Cynthia Hopkins, Paul Lazar, Mikéah Jennings und Kourtney Rutherford.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.tanzimaugust.de



Kritikenrundschau

"Conceived and choreographed by Annie-B Parson, '17c' is a mini-Restoration comedy in postmodern style — part celebration, part inquisition, with Pepys himself as the chief witness. Like Alexander Hamilton with the Reynolds pamphlet, Pepys spelled out his misdeeds and committed them to history." So berichtet Laura Collins-Hughes für die New York Times (15.11.2017) nach der Premiere der Produktion auf dem Brooklyn Academy of Music’s Next Wave Festival.

"'17c' is an aesthetically striking production with commendable qualities in both its physical and literary aspects. There are moments when it gets overly enigmatic and gimmicky, but within just above an hour’s time, it manages to create a multi-dimensional profile of the life and times of Samuel Pepys, and you'll definitely want to dig into his diaries just out of curiosity", schreibt Bam Fisher im Exeunt Magazine (20.11.2017) nach der New Yorker Premiere.

Kommentare  
17c, Berlin: weder Fisch noch Fleisch
Annie-B Parson, Paul Lazar und ihr Big Dance Theater aus New York verfolgen mit ihrem neuen Stück "17c" einen klaren Ansatz: Samuel Pepys, für seine Scharfzüngigkeit geschätzter, tagebuchschreibender Marine-Staatssekretär und Chronist der englischen Gesellschaft des 17. Jahrhunderts, wird als hemmungsloser Grapscher und narzisstischer Selbstdarsteller, als Ahnvater der Selfie-Generation auf Facebook und Instagram, vorgeführt. Seine Frau Bess, deren Tagebücher vermutlich von Sam Pepys verbrannt wurden, soll endlich eine Stimme bekommen. Dass „17c“ bei der Premiere im Herbst 2017 in New York auf positive Resonanz stieß, liegt sicher auch daran, dass es in Zeiten von Donald Trumps „grab the pussy“-Übergriffen und der #metoo-Debatte einen Nerv traf.

Das Big Dance Theater hat sich programmatisch die Verknüpfung von Tanz und Theater auf die Fahnen geschrieben, scheitert aber bei dieser Zeitreise ins „17c“ daran, über ihre politische Botschaft hinaus auch einen ästhetisch überzeugenden Abend zu gestalten. Nicht Fisch und nicht Fleisch, weder als Theaterabend noch als Tanzstück überzeugend, hangeln sich die PerformerInnen an ihrer Botschaft entlang.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/08/26/17c-big-dance-theater-tanz-im-august-kritik/
17c, Berlin: misslungen, ja ärgerlich
Warum das Projekt des Big Dance Theater aus New York nicht funktioniert hat und beim Publikum nicht angekommen ist (die vorzeitig den Zuschauerraum Verlassenden und der dünne Beifall am Ende sprechen für sich), haben Eva Biringer und Konrad Kögler schon sehr treffend analysiert. Am aktuellen Thema und an den dem Projekt zugrunde liegenden Tagebücher von Pepys hat es jedenfalls nicht gelegen, denn die hätten durchaus genügend Stoff für eine hochinteressante Inszenierung abgeben können.

Ich habe mich allerdings gefragt, wer in aller Welt auf die Idee gekommen ist, eine solche sprachlastige und sprachlich äußerst anspruchsvolle, ja, selbst für Kenner des Englischen schwer zu verstehende Produktion unter dem Label "Tanz" einzuladen. Da ist etwas ganz und gar schief gelaufen, wo man inzwischen doch in Berlin fast jede Oper und viele Theateraufführungen für nicht der Originalsprache Mächtige übertitelt. Ich fürchte, der weit verbreitete Irrtum „Englisch ist doch total easy“ hat hier Pate gestanden.

Die klischeehafte Spielweise, die lieb-, einfalls- und phantasielos heruntergespulten Szenen, der riesige technische Aufwand, der keinen erkennbaren Bezug zu den Inhalten hatte (Was sollte das immer wieder zu hörende und auf den Bildschirmen zu lesende „Close your eyes“?), der lang andauernde, langweilige und nicht enden wollende Textaufsageteil im Sessel vorne auf der Bühne, die beiden stereotyp agierenden Kommentatorinnen, deren Gesten und Aktionen zeitverzögert auf die 6 oder 8 Bildschirme projiziert wurden (wozu, wozu?), all das fügte sich zum Gesamtbild eines misslungenen, sein Thema und seine Intentionen ganz und gar verfehlenden, ja, ärgerlichen Abends.
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