Presseschau vom 13. September 2018 – Peter Kümmel beklagt in der ZEIT das Verschwinden der Verwandlungskunst im Schauspiel
Szenische Putztruppen
Szenische Putztruppen
13. September 2018. In der Wochenzeitung "Die Zeit" (13.9.2018) diagnostiziert Theaterkritiker Peter Kümmel im Anschluss an die Theatertreffen-Reden von Schauspieler Fabian Hinrichs und von Regisseur Milo Rau eine Krise der Schauspielkunst, genauer: des Verwandlungsschauspiels. "Viele Inszenierungen, die ich in den letzten Jahren sah, wirkten so, als sei der Darsteller auf der Bühne dazu da, uns vor dem Stück, der Aufführungstradition und dem toten Autor zu beschützen. Er steht an der Rampe wie ein Mediator."
Im Hintergrund dieser Schauspiel-Mediator*innen sieht Kümmel Spielleiter am Werke, die verehrt würden, wenn sie "sperrige" Texte und Widerstände der Spielvorlagen "zu unserem Komfort aus dem Weg räumen". Im Schatten dieser "Regie-Genies" seien "die Schauspieler bloße Erfüllungsgehilfen, Angehörige einer szenischen Putztruppe, die sich für das Regiekonzept in den Kampf stürzen – mit dem Publikum, der eigenen Scham und vor allem: mit der Figur, die sie zu spielen haben".
Wahrhaftigkeit bei Netflix
Als Grundgestus dieser Schauspielkunst als Verwandlungsverhinderungskunst macht Kümmel die Ironie aus: "Immer kürzer sind die Produktionszeiten, immer häufiger verzichten Regisseure darauf, eine gewisse Spielkunst (oder Wahrhaftigkeit) als Darstellungsziel anzupeilen, weil sie gar nicht mehr daran glauben, sie in jener Perfektion erreichen zu können, die von Netflix vorgeführt wird. Sie retten sich in die Ironie grinsender Hochstapler."
Als eine Dimension der Krise der Verwandlungskunst sieht Kümmel die identitätspolitische Kritik an der Repräsentation: "Orhan Pamuk hat gesagt, er sei Schriftsteller geworden, um sich in andere hineinzuversetzen. Dieses Motiv scheint aus der darstellenden Kunst zu verschwinden: die Fremden zu verstehen. Das liegt möglicherweise auch daran, dass sich in der #MeToo-Zeit viele Schauspieler nicht mehr befugt fühlen, einen anderen zu repräsentieren als sich selbst. Ist Darstel¬lung, so kann man fragen, nicht immer ein Übergriff?"
Einen Merksatz zu den Darlegungen hält der Schauspielessay auch bereit: "Das moderne Theater" sei "sehr kompetent darin, vorzuführen, dass es nicht mehr Theater spielen kann."
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Es ist m.E. aber eine durch Herrn Kümmel sehr gut als Möglichkeit dargestellte Frage, ob nicht vielleicht JEDE Darstellung ein Übergriff auf das Dargestellte sei!
Wir wissen mehr über uns und unsere Zeit, wenn wir ständig prüfen, inwieweit unseren Zweifeln wie und wo Raum eingeräumt wird oder eher nicht.
Fragen dazu:
Legt der heutige Schauspieler wirklich das "Wams der Rolle" ab? Oder benutzt er es nicht auch, um sein Selbst zu schützen und zugleich sich selbst - mit Hilfe der Rolle - immer wieder neu zu erfahren und das den Zuschauern zu spiegeln? In diesem Sinne möchte ich vermuten, dass Gert Voss sicher nicht nur den Schauspielerkönig im Spiegel sieht, sondern sicher auch sich selbst als Mensch UND Schauspieler. Und so auch die Zuschauer. In diesem Sinne: Jeder Mensch, nicht nur der Schauspieler, kann die Kontrolle über Geist und Körper verlieren, und das nicht nur im Spiel. Das Problem- und Konfliktfeld des Theaters liegt für mich also in dem Punkt, dass wir Menschen auf eine Rolle "festschreiben". Im Sinne von "der ist so", "den kenne ich". Ist es dagegen nicht vielleicht interessanter zu fragen "wer bist denn du?" Auch in Richtung des Zuschauerraums (siehe Sophie Rois)?
"Dabei ist das eine der tollsten Gefahren, in die ein Mensch geraten kann: einem Leben nahezukommen, das nicht das eigene ist. Wer sie nicht auf sich nimmt, stirbt vor Trübsinn." Wie meint Peter Kümmel das? Metaphorisch oder tatsächlich? Was ich spielen kann, möchte ich im realen Leben sicher nicht immer auch zugleich erfahren/erleben.
Ich bilde mir ein, Schauspieler, Mediatoren, Experten des Alltags, Verwandler, Sänger, Darsteller immer wieder zu sehen.
Das ist eine Frage der Handschrift, der Haltung, der Stücke, der jeweiligen Inszenierung.
Ich würde das nie über einen Kamm scheren (wollen).