Auf der Straße - Karen Breece sucht am Berliner Ensemble nach einer Theaterform für das Thema Obdachlosigkeit
Von deutschen Bänken
von Frauke Adrians
Berlin, 13. September 2018. Sehr sinnfällig, dass dieses Stück laut Programmheft "im Rahmen der Exzellenz-Reihe gefördert durch die Deutsche Bank Stiftung" entstanden ist. Es geht nämlich um deutsche Bänke. Verschiedene davon hat Eva Veronica Born auf einer Drehscheibe in ihr Bühnenbild montiert: solche aus Holz und welche aus Kunststoff, solche, auf denen man liegen kann, und auch diese fiesen Hartschalensitzreihen, die eben gerade verhindern sollen, dass hier jemand Platte macht.
Obwohl: Schlafen kann man auf fast allen, sogar auf Bierzeltbänken, versichert René. Die sind sogar gut für den Rücken. Renés Schlafzimmer – Isomatte, Schaumstoffmatte, Schlafsack, zwei Decken – passt in eine Reisetasche. Aber die hat er tagsüber nicht dabei, denn er will nicht, dass man ihm ansieht, was er neben seinem Hauptberuf als Flaschensammler auch noch ist: obdachlos.
Obdachlosigkeit, soziale Verelendung und Armut in einem reichen Land, in dem gewohnheitsmäßig weggesehen wird: Davon handelt Karen Breeces Stück. Im Kleinen Haus des Berliner Ensemble entfaltet es sich zur halbszenischen, halb reportagehaften Textmontage, der das Problem eingeschrieben ist, das solche theatralen Zwitter immer haben: Man weiß nie, wo die Reportage aufhört und das Theater anfängt; man weiß nicht, ob die obdachlosen Mitspieler – René Wallner, der um Scheinwahrung Bemühte, und Psy Chris, der mit der katastrophalen Kindheit – ihr eigenes Leben erzählen oder künstlerisch Verfremdetes spielen.
Zu viel Reportage, und es drängt sich die Frage auf, warum die Regisseurin dann nicht lieber gleich einen Dokumentarfilm dreht; zu viel Fiktion, und es schiebt sich der Vorwurf in den Saal, hier werde Künstliches auf Kosten der wirklich Betroffenen geschaffen. "Auf der Straße" spielt irgendwo zwischen diesen Polen, es ist ein ehrlich engagiertes Bühnenstück, aber es ist zugleich nicht mehr als die Summe seiner gewissenhaft recherchierten Beispielfälle.
Singen gegen das Wegschauen
Mit zahlreichen Interviews hat Karen Breece sich ihrem Thema genähert, drei der Interviewpartner – neben René und Psy auch die Akademikerin Alexandra, die zwar eine Wohnung hat, aber mit monatlich 70 Euro für Essen, Kleidung und alle weiteren Güter und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs auskommen muss – sitzen selbst auf der Bühne. Sie schildern ihren Alltag und steuern Sätze zu Textcollagen bei, sie werden von den BE-Mitgliedern Bettina Hoppe und Nico Holonics interviewt, und sie fahren auf den deutschen Bänken Karussell.
Wenn die Drehscheibe angeschoben wird, rotiert sie bei dramatischer Beleuchtung wie ein Glücksrad, aber bei dem Thema gibt es nur Verlierer, und die Wut, die Hoppe angesichts von Kinderarmut und sonstiger Ungerechtigkeit an der Bühnenkonstruktion auslässt, ist völlig hilflos. Fürs Freundlich-Naive ist der integrative Chor zuständig, der gegen das Wegschauen ansingt; fürs Schockierende sorgt ein nachgespieltes Gespräch zweier Sozialarbeiter, die beschreiben, in welchem Zustand der Verwahrlosung Menschen mitten in Berlin leben.
Isodecken-, Schlaf- und Müllsack-Modenschau
Wege aus der Misere kann man von einem Theaterstück nicht erwarten, Konzentration auf ein Sujet aber schon. Breece will eindeutig zu viel, wenn sie außer dem Mietwucher gleich sämtliche sozialen Missstände in Deutschland anprangern und dann auch noch dem rindswurschtigen Innenminister Seehofer eins auswischen will ("Migration ist die Mmuuuh-tter aller Probleme!"). Starke Szenen – und Szenen überhaupt – sind Mangelware, aber immerhin inszeniert Breece mit einer Isodecken-, Schlaf- und Müllsack-Modenschau ganz ohne Worte ein Signal aus Stolz und Trotz von denen auf der Straße an die in den überteuerten Eigentumswohnungen.
Und so groß, auch das lehrt dieses Lehrstück, ist der Schritt aus dem teuren Loft in die Abseiten der Großstadt gar nicht. Einmal rausgeschmissen werden – aus dem Job, aus einer Beziehung, aus einer gerade noch bezahlbaren Wohnung –, das genügt schon. Das kann jeden treffen. Wie viele es trifft, sieht man auch auf dem Theatervorplatz: Mehrere Bänke auf der kleinen Rasenfläche vor dem Bert-Brecht-Denkmal sind spätabends belegt.
Es ist verdienstvoll, das Thema Obdachlosigkeit auf die Bühnen zu bringen und Betroffene für sich selbst sprechen zu lassen. Was sie zu erzählen haben, das wird jeden, der die Premiere gesehen hat, noch lange beschäftigen. Aber verdienstvoll allein macht noch kein gutes Theater.
Auf der Straße
von Karen Breece
Uraufführung
Regie: Karen Breece, Bühne: Eva Veronica Born, Kostüme: Claudia Irro, Musik: Beni Brachtel, Licht: Steffen Heinke
Mit: Nico Holonics, Bettina Hoppe, Psy Chris, Alexandra Zipperer, René Wallner, integrativer Chor Different Voices of Berlin
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.berliner-ensemble.de
"Genauigkeit und die sachliche, nicht an Tränendrüsenverwertbarkeit interessierte Empathie" schütze die Inszenierung "vor den am Theater nicht ganz seltenen Sozial-Voyeurismus-Effekten", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (15.9.2018): "Wenn man vom Theater die Chance erhofft, fremde Erfahrungswelten zu betreten, wenn Theater mit Mitleid und Schrecken zu tun hat (in diesem Fall dem Erschrecken über die eigenen Wohlstandsverhärtungen), ist das ein kluger, ziemliche großartiger Theaterabend."
Die Regisseurin habe "zwar großartig gecastet", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (17.9.2018). Aber leider werde man "das Gefühl nicht los, dass inhaltlich deutlich mehr herauszuholen gewesen wäre".
Das "Schauspieler-Laien-Gefälle" ist für Doris Meierhenrich von der Berliner Zeitung (17.9.2018) "das große Problem" dieses Abends. "Die meiste Zeit" machten "die beiden Schauspieler die Leidensgeschichten künstlich plastisch. Das ist gut gemeint, doch fabrizieren sie genau dadurch ein Obdachlosen-Spektakel, das Elend mehr vorführt, als es produktiv reflektiert."
"Mit viel Aufwand, aber grundehrlich nimmt einen 'Auf der Straße' mit, erzählt suggestiv, wie schnell es jeden treffen kann", schreibt Simone Kaempf in der taz (19.9.2018). Jedoch: Die Wutausbrüche der Schauspieler blieben Behauptung, der Abend zerfranse in zu viele Einzelszenen. Breece wolle die Realität sprechen lassen und falle immer wieder in Schauspiel-Fiktion. "Künstlichkeit legt sich über die Dringlichkeit des Themas."
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 28. März 2024 Berliner Theatertreffen: 3sat-Preis für Jenaer Arbeit
- 28. März 2024 Berlin/Bremen: Geschäftsführer Michael Helmbold verstorben
- 28. März 2024 Neues Präsidium für Deutsche Akademie der Darstellenden Künste
- 26. März 2024 Günther-Rühle-Preise vergeben
- 26. März 2024 Mülheimer Theatertage: Preisjurys berufen
- 26. März 2024 Theatertreffen der Jugend 2024: Auswahl steht fest
- 26. März 2024 Schauspieldirektor Maik Priebe verlässt Neustrelitz
- 25. März 2024 Dramatikerpreis für Correctiv-Autor:innen L. Lax und J. Peters
neueste kommentare >
-
Reise des G. Mastorna, Heidelberg Bildgewaltig
-
Medienschau Volksbühnen-Chance Basel-Modell statt nur Namen
-
Medienschau Volksbühnen-Chance Dreamteam
-
Biedermann & Brandstifter, Zürich Stemann pur
-
Preisjury Mülheim Zeit für Neuanfang
-
Orpheus steigt herab, Wien Unruhe
-
Medienschau Volksbühnen-Chance Ostereier und gutes Doppel
-
Der große Wind der Zeit, Stuttgart Nachfrage
-
Medienschau Volksbühne Avantgarde und Klassenkampf
-
Orpheus steigt herab, Wien Kassenschlager
Doch der Abend will mehr: Er will nicht nur die sichtbar machen, die im Schatten stehen, er will das große Bild zeichnen. Es geht um Armut, um versagende Sozialsysteme, eine wegsehende Gesellschaft, in Anekdoten, statistisch unterfütterten Vorträgen, Wutreden, welche die Darsteller*innen mal als sie selbst, mal in der Rolle eines Gesprächspartners, schwingen. Eine platte Politikerparodie, die selbstverständlich bei Horst Seehofer landet, darf nicht fehlen, eine eher alberne, schlecht improvisiert wirkende Selbstbezichtigung des Scheiterns des Theaters, diese Wirklichkeit adäquat zu thematisieren, ebenso wenig, eine hübsch ironische Schlafsack- und Plastiktüten-Modenschau gibt es auch. Dreht sich das Rad, entstehen Textcollagen, die nett plakativ das privilegierte Klischeeleben der Schauspieler*innen mit dem der „Betroffenen“ kontrastieren. Da nickt der privilegierte Zuschauerkopf und versteht nichts.
Denn den dreien von der Drehscheibe traut Breece nicht zu, „ihr“ Thema, das natürlich das von René, Alexandra und Psy Chris ist, angemessen zu vermitteln. Und so zwängt sie sie in ein enges Ästhetisches Konzept, dessen Versagenseingeständnis letztlich auch nur eitel selbstgefällige Pose ist. Verzerrte Jahrmarkt-Sounds brüllen das Karussell weiter, die Schauspiel-Profis übernehmen das Dirigat, erzielen mit ihren einstudierten Brandreden die Effekte, spielen auf der theatralen Wirkungsklaviatur. Ein im Publikum platzierter Laienchor singt „Wenn du wegschaust, siehst du nicht“ zur Erbauung und irgendwann geschieht das Erstaunliche: Die sichtbar zu Machenden, die zunächst ihr Leben Erzählende, ihre Stimme Findenden, verschwinden zunehmend wieder im Halbdunkel. Das übertrieben freundliche Lächeln der überzogen zuzuhören scheinenden Schauspieler*innen wird zur das in seiner Blase zurückgezogenen Publikum spiegelnden Fratze, die Stimmen verstummen, die „Mehrheitsgesellschaft“ fordert ihre Deutungshoheit zurück. Und so gefriert die humorvolle, lebensbejahende Würde von René, Alexandra und Psy Chris zur anekdotischen Hintergrundmusik einer wohlfeilen Anklageschrift, die in ihrer Künstlichkeit kalt lässt. Karen Breece gelingt es nicht, das Theater von der Wirklichkeit sprechen zu lassen, es unangenehmen Wirklichkeiten zu öffnen, die Tore aufzustoßen, die herausführen aus der Komfortzone und hinein in die ureigensten Ängste auch derer, die hier zuschauen. Stattdessen zwingt sie die Realität ins Theater, macht sie zum Steinbruch theatraler Effekte, verzwergt sie zum Mittel wohlfeiler Statement-Performance. Und so bleibt am Ende ein wohliges Gemeinschaftsgefühl, das einen so schalen Geschmack hinterlässt, dass einem übel werden könnte. Das Theaterkarussell dreht sich weiter, doch die Wirklichkeit ist längst abgestiegen.
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/09/21/auf-dem-karussell/