Türklinken in Kopfhöhe

von Shirin Sojitrawalla

Darmstadt, 14. September 2018. Wenn das Theater Filmstoffe adaptiert, muss es sich was einfallen lassen, sonst gewinnt das Kino. Das gilt umso mehr, wenn der Film von Michael Haneke stammt. Hat das überhaupt schon mal wer gewagt? Ein Haneke-Drehbuch für die Bühne zu adaptieren? Wie dem auch sei, der Schweizer Regisseur Christoph Frick traut sich was.

Dabei versucht er gar nicht erst, mit dem harten Realismus von Haneke in Wettstreit zu treten, sondern macht einfach sein eigenes Ding. Die Bühne von Viva Schudt ist eine Art White Cube, auf der zu Beginn nur ein riesenhafter Tisch und zwei Stühle protzen. Auch die Tür an der linken Seite ist riesengroß, die Klinke befindet sich über den Köpfen der Figuren. Allein schon mit diesem Kniff enthebt Frick das Ganze der so genannten Wirklichkeit. Dabei erinnert die Bühne auch an Räume, in denen Gegenüberstellungen bei der Polizei stattfinden. Hinter drei Fenstern an der Rückwand starren die meiste Zeit Kinder des Chors, der den Abend auch eröffnet, auf die Bühne und signalisieren stumme Zeugenschaft.

Kinder in blütenweißer Kleidung

Selber spielen diese Kinder die meiste Zeit nicht, die Erwachsenen übernehmen nämlich auch die Kinderrollen. Das klappt ganz gut, auch wenn es für diejenigen, die nicht kurz vorher das Drehbuch gelesen haben, verwirrend sein dürfte, da durchzusteigen. Auch weil die Spieler*innen manchmal von einer Geste zur nächsten ihre Rollen wechseln. Daniel Scholz etwa ist gerade noch autoritärer Baron, um im nächsten Augenblick als Sohn des Pfarrers zu agieren. Leicht macht es die Inszenierung den Zuschauern jedenfalls nicht.

Weißes Band 2 560 Robert Schittko uIm weißen Raum, mit mannshohen Möbel und einer unerbittlichen Umgebung: Christoph Fricks Inszenierung von "Das weiße Band" © Robert Schittko

Dabei hält sie sich ziemlich ans Drehbuch, kürzt, lässt etwas weg, sortiert einige Szenen um. Der immer mal unversehens auftretende und bestens eingestimmte Jugendchor des Staatstheaters versinnbildlicht dabei Unschuld sowie Undurchsichtigkeit der Kinderseelen. Alle stecken sie in blütenweißer Kleidung, wobei keines von ihnen helle Haare trägt. Das scheint Absicht, doch warum? Wegen des optischen Kontrasts, oder um das sehr Deutsche der Geschichte zu verflüchtigen?

Bemalte Wände

Hanekes Film spielt in einem Dorf in Norddeutschland im Jahr 1913. Eine bigotte Gesellschaft, die auf Hierarchien und Befehle vertraut und darauf, dass Gott (es) richten wird. Scham und Schande, Zwang und Gewalt, Unfreiheit und Terror verdeutlichen sich. Haneke erzählt diese deutsche Kindergeschichte dabei so erbarmungslos wie ein Märchen, weswegen es eine gute Idee von Alexander Kluge war, ihn einmal das kürzeste und wohl auch grausamste Märchen der Brüder Grimm vorlesen zu lassen.

Weißes Band 1 Kinderchor 560 Robert Schittko uAuftreten in blütenweißer Kleidung,  aber auch ein bisschen undurchsichtig: der Jugendchor des Staatstheaters Darmstadt in "Das weiße Band" © Robert Schittko

"Das eigensinnige Kind" passt mit seiner unerbittlichen Schrecklichkeit perfekt zu "Das weiße Band" und findet sich auch im Programmheft wieder. Zur Pause hin vernuschelt es eines der Kinder auf der Bühne, während die anderen die Sätze schön im Chor nachsprechen. Dann geht das Saallicht an, und ein paar Schauspieler beginnen die weißen Bühnenwände zu bemalen, einzelne Zuschauer verlassen den Saal. Pause? Das Publikum muss die Zeichen der Zeit selbst erkennen, was naturgemäß nicht jedermanns Sache ist.

Fiebrigkeit statt Härte

Dabei kann man den weißen Kasten, den die Bühne darstellt auch als eine Art Raumschiff oder Zeitkapsel sehen, schließlich führt sie in eine ferne Zeit zurück. Während es bei Haneke der Lehrer ist, der die ganze Geschichte im Rückblick erzählt, verteilt Frick diese Position auf viele Stimmen, was mehr verwirrt, als dass es etwas bringt. Wie bei Haneke aber ist es auch bei ihm der Lehrer, der den Film mit Menschlichkeit flutet. Mathias Znidarec spielt ihn als ulkig Liebenden, der eine ganz eigene Zaghaftigkeit und Besorgtheit auch in der Rolle des Kindes Rudi ausstrahlt. Doch alle Schauspielkunst an diesem Abend kann die erste Schauspielgarde, die in Hanekes Film aufmarschiert nicht vergessen machen: Burghart Klaußner, Susanne Lothar, Ulrich Tukur, Sepp Bierbichler, Ursina Lardi und und und. Immer mal wieder schieben sich ihre Gesichter vors geistige Auge.

Dabei ist womöglich gar nicht das Haneke-Starensemble das Problem, sondern der Temperaturunterschied, den es ausmacht. Die im Film herrschende Eiseskälte heizt sich auf der Bühne nicht selten in eine Fiebrigkeit hinein, die dem Stoff die Härte nimmt. Überzeugender wirken die vielen Einfälle, die das Unmögliche dennoch versuchen, möglich zu machen. Bühne und Kostüme beherrscht etwa strenges Schwarzweiß, für Farbtupfer sorgen ausgesuchte Requisiten (Saadia Lahjouji), wie etwa Pfarrers Liebling, Vogel Pips, der hier als gelber Papierflieger daherkommt, oder ein buntes Tuch, das die Baronin zum Tanz aufträgt.

Pferdekadaver als Sinnbild

Dass alle immer auf der Bühne sind, erweist sich als ebenso gut, denn so können die vielen Szenenwechsel im Nu geschehen. Für die dramatischen Ereignisse draußen, sei es der Scheunenbrand oder der Reitunfall, denkt sich Frick zudem einfache, aber tragfähige Lösungen aus. So kracht etwa zu Beginn ein Pferdekadaver aus einer Luke an der Decke, um dann die gesamte Inszenierung über als Sinnbild für die Verheerungen des Ersten Weltkrieges, in den die Handlung mündet, über dem Geschehen zu drohen. Am Ende dann klettern die einstmals weißen Kinder braunverdreckt aus dem Schützengraben auf die Bühne. Noch unschuldig, im nächsten Krieg kollektiv schuldig. Kurz: Ein starker, dichter Abend, der aber die Sehnsucht nach der makellosen Perfektion Hanekes nicht stillt.

Das weiße Band
Uraufführung
nach dem Film von Michael Haneke
Inszenierung: Christoph Frick, Bühne und Kostüme: Viva Schudt, Komposition: Bo Wiget, Leitung Kinderchor: Elend Beer, Dramaturgie: Maximilian Löwenstein.
Mit: Mathias Znidarec, Ben Daniel Jöhnk, Yana Robin la Baume, Samuel Koch, Jessca Higgins, Gabriele Drechsel, Daniel Scholz, Karin Klein, Jörg Zirnstein, Kinder- und Jugendchor des Staatstheaters Darmstadt.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-darmstadt.de

 

Kritikenrundschau

"Das Monströse und Verstörende, das Haneke aus seinem Soziotop entstehen lässt, findet auf der Darmstädter Bühne keine wirkliche Entsprechung", schreibt Astrid Biesemeier in der Frankfurter Neuen Presse (17.9.2018). Hanekes Stoff ächze auf der Darmstädter Bühne unter Fricks Zugang. "In dem realitätsenthobenen Einheitsbühnenraum sind die Orte wie Gutshof oder Haus des Pfarrers nicht klar gesetzt – was noch zu verkraften wäre", so Biesemeier. "Schwerer wiegt, dass die Schauspieler die Rollen wechseln. Und nicht immer wird dabei sofort deutlich, in wen sich jemand von einer auf die andere Sekunde verwandelt."

Christoph Fricks Inszenierung laufe nicht dem Filmvorbild hinterher, sondern überzeuge durch episches Theater, schreibt Stefan Benz im Darmstädter Echo (17.9.2018). Aus Hanekes Drehbuch über eine Dorfgemeinschaft, die zwischen Protestantismus und Patriarchat eifrig frömmelnd einen inhumanen Geist gebiert, habe Frick "mit starkem Formwillen ein Modellstück herausgearbeitet", so Benz: "Man muss sich schon sehr konzentrieren, um an diesem Abend mitzukommen. Doch es lohnt sich."

Die Besetzung der Kinderrollen mit Erwachsenen ist in den Augen von Eva Maria Magel von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.9.2018) "ein kluger Kunstgriff", zumal das Ensemble seine Aufgabe "ausgesprochen virtuos" bewältige. Man könne an diesem Abend den "Assoziationsraum weit, sehr weit öffnen aus diesem schwarzweißen Geviert heraus", schreibt Magel mit Blick auf weltweit existierende Gesellschaften, in denen Männer Frauen und Kinder unterdrücken. "Und das ist die große Stärke dieses Abends."

Die Filmumsetzung, also das "Aufbrechen der Filmstruktur und ihrer Erzählmuster", gelingt in den Augen von Birgit Spielmann vom Hessischen Rundfunk HR 2 (17.9.2018) "wirklich sehr gut". Durch die herausfordernden Rollenwechsel entstehe "ein Spannungsaufbau", mit einem "packenden ersten Teil und einem kürzeren, schwächeren zweiten". Frick erzähle die Geschichte des Films "innerlicher" als Haneke.

Schon der erste Blick auf die Bühne schaffe Unbehagen. "Die Szene, von Viva Schudt gestaltet, spiegelt prägnant die Grundstimmung von Hanekes Film wider (…): Alles hat korrekt zu sein." Christoph Frick gelinge es an diesem Ort, die Geschichte des komplexen Films auf Bühnenproportionen zu übertragen, so Andrea Pollmeier in der Frankfurter Rundschau (18.9.2018) "Sippenhaft, erniedrigende moralische Züchtigung und sexueller Missbrauch durch Vater und Arzt – für all das findet Regisseur Christoph Frick kraftvolle Bilder, die ein zunehmend surreales Ambiente entfalten."

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