Franz, der Frosch, in Fortaleza

von Michael Laages

São Paulo, Juli 2008. Weit rum gekommen ist sie ja schon – aber ob Cora Frost wohl jemals zuvor in Brasilien Geburtstag gefeiert hat? Jetzt war das gerade so – die Sängerin, Schauspielerin und Tänzerin, eine der eigenwilligsten und deshalb bedeutendsten Chanson-Frauen im deutschsprachigen Raum, gehört zum "Kulturfest", das seit Anfang Juli durch Brasilien reist. In vierzehn Städten zwischen Blumenau im tiefen Südosten und Belém im nordwestlichten Amazonas-Delta wird sie Fausts Gretchen spielen und singen.

Zugegeben, nicht wirklich von Goethe und in einer sehr speziellen Fassung: Frost selber als Autorin und Das Helmi, Florian Loyckes Puppen- und Menschentheater, haben diesen brasilianischen "Fausto" für das Berliner Ballhaus Ost und das "Faust-Festival" am Frankfurter Schauspiel erarbeitet. Dort ist Ende August Premiere. In diesen Tagen kommt nun also dieses sehr untypische Gretchen an, begleitet von Fausto und Mister Mefi, dem coolen Verführer aus der Favela nebenan (dem die brasilianisch-deutsche Schauspielerin Isabella Parkinson das schöne Gesicht gibt), in der Stadt des brasilianischen Oktoberfestes, in Blumenau, wo die Nachgeborenen der deutschen Emigranten oft durchaus ein bisschen deutscher sind als die entfernten Verwandten in Europa – was werden die wohl noch wiedererkennen von der Geschichte um ihre nationalheilige Kindsmörderin?

Außenseiter ausdrücklich erwünscht

Dieses reisende Kulturfest, außer dem Theater auch noch mit zehn neueren und neuesten Filmen aus deutscher Produktion, drei bildenden Künstlern sowie neun Musikern bestückt und als Ganzes getragen vom Goethe-Institut und dem Außenministerium sowie zahlreichen lokalen Mitstreitern (wie etwa den SESC-Kulturzentren, von denen noch die Rede sein wird), ist auf jeden Fall ein Abenteuer, nicht nur durch diesen sonderbaren Faust. Frost, Loycke, Parkinson und Brian Morrow vom Helmi zeigen ja zur Beruhigung auch noch Grimms guten alten "Froschkönig": mit Puppen und zum Mitspielen für die Kids zwischen Florianopolis und Fortaleza.

Die Arbeit des Goethe-Instituts in São Paulo, zentral zuständig für alle 13 Institute in Latein- und Südamerika, von Mexiko bis Feuerland, zeichnet sich schon seit mehreren Jahren dadurch aus, dass es das brasilianische Publikum nicht mit dem Mainstream des deutschen Stadttheaters vertraut macht, sondern mit den lange Zeit (und bis sie jeweils selber eine waren) abseits der Moden agierenden Ausreißern und Außenseitern: Bert Neumann und René Pollesch, Frank Castorf und Armin Petras, Stefan Kaegi aus dem Kreis von Rimini Protokoll und das deutsch-englische Gob Squad-Kollektiv, das auch jetzt beim Kulturfest wieder dabei ist – mit "Super Night Shot", dessen Struktur und Konzept die Gruppe im vorigen Jahr erfolgreich auf den Straßen von São Paulo ausprobiert hatte. Auch Dimiter Gotscheffs Arbeit war den Brasilianern schon eine Einladung wert: "Der Kampf des Negers und der Hunde" reiste vor drei Jahren nach Londrina, "Die Perser" gehen demnächst auf Festival-Tournee.

Seit dem WM-Jahr wird zurückgespielt

Umgekehrt (und ebenfalls gemeinsam mit dem Goethe-Institut) nahm das brasilianische Kulturministerium die Fußballweltmeisterschaft vor zwei Jahren zum Anlass, um die Offensive in anderer Richtung zu eröffnen: "Brasil em Cena" war das erste Theater-Paket überschrieben, das im Juni 2006 (leider nur) in Berlin gastierte. Mit herausragenden Produktionen aus Rio de Janeiro ("Ensaio Hamlet" von Enrique Diaz und der Gruppe des Choreographen Bruno Beltrao) und São Paulo ("Arena conta Danton" von Cibele Forjaz und "O Assalto" von Marcelo Drummond aus dem Teatro Oficina), aber auch aus anderen Provinzen und dem kulturell sehr eigenständigem Nordosten des Landes.

Ende Mai dieses Jahres folgte "Brasil em Cena II", wieder mit Beltrao, mit "Chacara Paraiso", der brasilianischen Polizei-Recherche von Stefan Kaegi und Lola Arias sowie einer hinreißenden Produktion der Regisseurin Christiane Jatahy, die furios die Grenze zwischen Realität und Kunst verschwimmen ließ in der kollektiven Erinnerung der brasilianischen Kinder der Diktatur, die mittlerweile (wie unsere 68er) in die Wechseljahre kamen.

Jenseits der hinüber oder herüber reisenden Produktionen sind inzwischen auch einige Arbeiten in der direkten Auseinandersetzung der Fremden (aus Deutschland) mit der Fremdheit (vor Ort in Brasilien) entstanden – Petras erarbeitete auswärts eine kleine Tanz-Produktion, die dann nach Berlin und ins Maxim Gorki Theater transferierbar war, Castorf integrierte zunächst zwei brasilianische Gäste für Brechts "Dickicht der Städte" auf Gastspielreise quer durch Brasilien und inszenierte dann vor bald zwei Jahren in São Paulo mit fast komplett brasilianischem Ensemble "Anjo Negro" von Nelson Rodriguez, durchsetzt mit Heiner Müllers "Auftrag". Dieser Doppelpack war vor Jahresfrist auch als Heimspiel in Berlin zu sehen.

St. Pauli ist auch nichts anderes als ein São Paulo

Zé Celso, Regie-Patriarch und Guru im Teatro Oficina, übertrug im vergangenen Jahr Schillers "Räuber" ins brasilianische Großgangster-Ambiente und reiste damit zu den Schillertagen nach Mannheim – jetzt beginnt er gerade mit den Proben zur Wiederaufnahme in São Paulo. Dea Loher schließlich schrieb 2004 in São Paulo ein Stück über "Das Leben auf der Praca Roosevelt" (und ein kleines Theater an eben diesem Platz, das Haus der Satyros), und die Hamburger Thalia-Uraufführung von Andreas Kriegenburg reiste zurück an den Ort, wo das Stück entstanden war. Dann nahmen sich die Satyros (deren Alltag Lohers Szenen ja erzählt hatten) des Textes an – und die Aufführung wiederum wurde im WM-Jahr ebenfalls nach Deutschland eingeladen, nach Mülheim, München und – natürlich – Hamburg, wo St. Pauli ja auch nichts anderes ist als noch ein São Paulo. Einen fundamentaleren Erfahrungsaustausch im gegenseitigen Kennenlernen von Kultur und Geschichte als mit diesem Text hat es wohl noch nie und nirgends gegeben.

Gerade hat sich die Choreographin Constanza Macras einem ähnlichen Experiment ausgesetzt – die gebürtige Argentinierin entwickelte in São Paulo einen Abend, der in Text und Bewegung die Geschichte dieser monströsen Metropolis-Stadt in sich aufnimmt, und sie versammelte dafür ein fast komplett vor Ort gecastetes Ensemble. Das hat allemal die Authentizität dieser Arbeit erhöht, wenn auch vielleicht nicht unbedingt die Konzentration ihrer choreographischen Ambition. Mitte September kann das Berliner Publikum entscheiden, was wichtiger ist – "Paraiso sem Consolacao" (Paradies ohne Gnade: der Titel spielt mit dem Stadtplan von São Paulo, wo die edle Avenida Paulista, eine Art 5th Avenue und Heimstatt aller Banken und Konzerne, vom Paraiso- zum Consolacao-Viertel führt und umgekehrt) wird dann im HAU zu sehen sein. Auch "Frente 3 de Fevereiro", als eine Art Hiphop- und Video-Theater schon bei "Brasil em Cena" zur WM, kommt dann übrigens wieder nach Berlin.

Theater als Teil des sozialen Service

Fast immer hat in Brasilien bei Austausch oder Koproduktion das Goethe-Institut die Hand (sowie mehr oder weniger viel Geld) im Spiel gehabt. Kulturchef Joachim Bernauer, der Ende des Jahres nach Lissabon wechselt, hat in sechs Jahren ein haltbares Geflecht von Partnerschaften für derlei aufwändige Projekte gestrickt. Kooperiert wird vor allem mit SESC, dem Servico Social de Comercio, einem Verband von Handels- und Industrie-Unternehmen, die einen bestimmten Steueranteil als Sozial- und Kulturanteil überweisen. Mit diesem Geld betreibt die Organisation exquisit ausgestattete Kulturzentren, in denen vom Schwimmbad bis zur kostenlosen medizinischen Betreuung der Arbeiter und Angestellten aus den SESC angeschlossenen Firmen, vom Internet-Cafe bis zum Computer-Kurs und eben auch bis zu einem Theater in fast jedem SESC-Haus alles versammelt ist, was SESC unter "sozialem Service" versteht.

SESC-Direktor Danilo Miranda war natürlich zur WM in Deutschland und berichtete mit großer Emphase von der Selbstverpflichtung, die viele brasilianische Unternehmen durch die SESC-Beiträge übernommen hätten. Brasiliens Zukunft, so Miranda, sei nur abzusichern durch einen anhaltenden Aufschwung an Bildung, Kultur und sozialer Sicherheit. Und das sei die Aufgabe von SESC und artverwandten Organisationen überall im Lande – wer hierzulande könnte sich irgendeinen Hans Olaf Henkel mit diesen Worten vorstellen?

Fast nichts also läuft ohne SESC – zumal die Kulturpolitik auf allen staatlichen Ebenen für das Theater fast nur gute Worte und ab und an Hilfe ad hoc zu bieten hat. Mit Mühe erkämpften sich die Künstler in São Paulo vor Jahren ein "Lei de Fomento": ein Gesetz, das einigen, nicht allen Theatergruppen ein Minimum an Grundfinanzierung ermöglicht. Und der Kampf um dieses wenige Geld erfordert dann ähnlich viel Energie und Fantasie wie das Ringen um Teilhabe am Freie-Gruppen-Topf in Hamburg oder Berlin.

Ohne Kohle und oft auch ohne Kritik

So kann es nicht verwundern, dass brasilianische Produktionen, auch die besseren, nicht immer den Ansprüchen europäischer Avantgarde-Festivals entsprechen. Manches hier schon abgeschlossene Experiment wiederholt sich dort mit Zeitverzug – was allerdings nur selten die Eigenheit und Originalität der Stücke und Inszenierungen beschädigt, die vor Ort unter schwierigsten strukturellen, und das heißt vor allem: finanziellen Bedingungen entstehen. Es gibt ja keine Stadt- und Staatstheater, es gibt nur freie Ensembles, die sich Stück für Stück die nötigen Sponsoren suchen müssen und gemeinhin noch weit jenseits von dem arbeiten, was in der freien Szene hierzulande schon als Selbstausbeutung gilt.

Auch wer sich übrigens über Jahre auf einen Groß-Sponsor verlassen konnte, steht oft von einem Monat zum anderen ohne Grundausstattung und folglich wirklich dumm da. Gerade ist das dem Teatro Oficina so ergangen, das seit den Einladungen zu den Ruhrfestspielen vor vier sowie nach Moskau und Berlin vor drei Jahren auch international einiges Renommee hat. Daheim ist das Teatro Oficina fast schon ein Fossil der Nachkriegsmoderne – gerade wird es 50 Jahre alt, was eigentlich Anlass für umfassende Würdigungen und Auszeichnungen sein müsste. Aber vor Ort in São Paulo sind die Oficina-Aktivisten derzeit auf die Abendkasse angewiesen. Und die ist schmal genug gefüllt in Zeiten immer stärkerer Kommerzialisierung, wo es allemal wichtiger ist, wenn der Hauptdarsteller aus dem Berlinale-Erfolg "Tropa de Elite" plötzlich "Hamlet" zu spielen versucht.

Das steht dann jeden Tag in der Zeitung, der Folha oder der Estado de São Paulo. Jeden Freitag liegt ein Guia bei, ein Kulturführer durch die beginnende Woche. Gut drei Dutzend regelmäßig (das heißt: von Donnerstag bis Sonntag) spielende Bühnen konkurrieren, viele (wie die Satyros an der Praca Roosevelt, die auf zwei Bühnen täglich und mehrmals nacheinander spielen) sind allerdings nicht viel größer als ein großbürgerliches Wohnzimmer. Über den Guia-Eintrag hinaus sollte aber kein Theatermacher auf weitere Berichterstattung hoffen – auch auf den Kultur-Seiten (die übrigens nie so heißen) herrscht der blanke Populismus, es geht um Mode, Kino und Stars, um Musik und Making of-Geschichten. Dann kommt noch die Klatschspalte – und erst danach irgendwann und eventuell eine Form von Kritik, oft übrigens erst lange nach der Premiere.

So lernen Cora Frost, Isabella Parkinson und Das Helmi-Team um Florian Loycke mit Mefi, Faust und Franz dem Frosch auf dieser Kulturfest-Reise eine Fremde kennen, die ihnen in Teilen durchaus vertraut vorkommen kann. Kann sein, dass keiner auf sie gewartet hat – aber wie könnte es auch anders sein beim Austausch unter Fremden?

 

Michael Laages reist seit mittlerweile zehn Jahren regelmäßig nach Brasilien und verbringt meist mehrere Monate im Jahr in São Paulo.

 

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