Dein Avatar lebt

von Sascha Westphal

Mülheim, 21. September 2018. Als wir in einer Fünfer-Gruppe den kleinen grauen Vorraum zur Bühne 3 im Mülheimer Ringlokschuppen Ruhr betreten, wartet Anna Kpok schon auf uns. Die Performerin Clara Gohmert ist zwar offensichtlich ein menschliches Wesen. Aber für die Dauer des gleich beginnenden Game wird sie zur Spielfigur, zum Avatar für fünf Spielerinnen und Spieler, denen jeweils zwei Befehle zur Verfügung stehen: "Start / Stop", "Rechts / Links", "Ducken / Springen", "Zoom / Einsammeln" und "Benutzen / Inventar". Jeder hat seine Funktion, aber nur zusammen können wir Anna Kpok durch die schöne neue Welt der näheren Zukunft leiten.

Wie die aussieht, darüber informiert uns ein Image-Film des "realReality"-Konzerns. Die Konflikte der heutigen Zeit haben sich noch weiter verschärft. Die Erderwärmung ist stark angestiegen. Und die Risiken für die Menschen, die dichtgedrängt in den verbleibenden Metropolen leben, sind gewachsen. Sicherheit und Ablenkung versprechen allein die Smart-Homes von "realReality", in denen umsonst leben darf, wer dem Konzern seine Daten zur Verfügung stellt.

Naheliegende Dystopie

Nachdem die fünf Spieler eine von fünf möglichen Identitäten für ihren "Anna Kpok"-Avatar ausgewählt haben, geht es in den Bühnenraum, den das Kollektiv in ein "realReality"-Smart-Home verwandelt hat. Die Wohnung erweist sich als leicht futuristisch überhöhte Version eines kleinen Appartements. Auf der Wand links neben dem Wohnungseingang erscheinen ständig neue, an Instagram erinnernde Social-Media-Nachrichten. Statt einer Küche gibt es eine Säule, die auf Tablet-Tastendruck Essen und Getränke an Anna Kpok ausgibt. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raums steht ein Schrank, in dem sich die Kleidung der Spielfigur verbirgt und auf dem schließlich als Videoprojektion Anna Kpoks Data Double erscheint. Herzstück der Wohnung ist eine wie eine Wolke aussehende Liege, auf der Anna sich ausruhen und träumen kann. Wenn Anna sich auf sie legt, werden für 30 Sekunden, die einer achtstündigen Schlafphase entsprechen, ihre manipulierten und sie zugleich manipulierenden Träume auf die hintere Wand der Wohnung projiziert. Vor dieser Wand teilt eine dreieckige Gummifußmatte, in die Leuchtdioden eingelassen sind, einen Spielbereich ab. Wenn Anna Kpok auf ihr steht, können die fünf Spielerinnen und Spieler sie durch ein klassisches Jump'n'Run-Spiel steuern.

realReality2 560 Stephan Glagla uIn der Cloud © Stephan Glagla

Mit "realReality" hat das 2009 in Bochum entstandene Kollektiv "Anna Kpok" seine spezielle Form des Gaming-Theaters – dieses Wortspiel sei ausnahmsweise erlaubt: auf ein neues Level gehoben. Frühere Arbeiten wie die "Anna Kpok und der letzte Zombie"-Reihe waren ortsspezifische Live-Jump'n'Run-Spiele, bei denen das Publikum seine "Anna Kpok"-Figur durch einen typischen Spiel-Parcours steuerte und dabei dafür sorgen musste, dass sie nicht von ihren Gegenspielern getötet wird. In "realReality" vermischen sich Jump'n'Run-Aspekte mehr und mehr mit Elementen, die aus Point-and-Click-Adventures stammen. So bekommt die Produktion einen deutlich narrativeren Charakter. Die fünf Spielerinnen und Spieler tauchen in eine dystopische Welt ein, die es spielend zu erkunden gilt. Die über die Screens und Leinwände flimmernden Nachrichten und Fotos sind ebenso wie die Werbebilder und Schlagzeilen, die auf einem Touchscreen-Tisch erscheinen, Teil einer immersiven Erfahrung, die geschickt popkulturelle Versatzstücke zu einem verstörend wahrscheinlichen Science-Fiction-Szenario verbindet.

Zusammenspiel von Real und Virtuell

Während wir unseren Avatar durch die Welt der Wohnung steuern, sammeln wir mehr als nur für das Spiel nützliche Gegenstände ein. Flüchtige Impressionen, irritierende Beobachtungen führen dazu, dass Fotos und andere Details der Wohnung sich mehr und mehr zu Fragen zusammenfügen. Das Zusammenspiel von Realem und Virtuellem wird einem immer bewusster: Einerseits bewegen wir mit unseren Befehlen, die nicht immer perfekt getimet sind, die Performerin Clara Gohmert ganz selbstverständlich wie eine Spielfigur hin und her. Es ist schon verblüffend, wie leicht es einem fällt, sie als Avatar zu betrachten, der sich ducken oder springen, nach links oder rechts gehen muss, wenn wir es sagen. Die Spielsituation hat offensichtlich etwas sehr Verführerisches.

realReality1 560 Stephan Glagla uIm Avatar-Shop © Stephan Glagla

Und genau das macht einem das Kollektiv andererseits wieder bewusst: Denn am Ende kulminiert alles in der Frage, wer diese Anna Kpok, die wir durch verschiedene Situationen und Szenarien manövriert haben, eigentlich ist. Ist dieser Avatar die Summe der Entscheidungen, die wir als Fünfergruppe im Lauf des Spiels getroffen haben, oder hat er ein eigenes Wesen und damit auch ein eigenes Leben? So geraten wir in eine klassische "Blade Runner"-Situation, in der sich die Grenzen zwischen Mensch und künstlichem Wesen verflüssigen.

realReality
von Anna Kpok
Game Design & Dramaturgie: Klaas Werner, Kirsten Möller, Kristin Naujokat, Musik: Gábor Bodolay, Team Bühnenbild: Kathrin Ebmeier, Birk-André Hildebrandt, Anna-Lisa Högler, Grafik, Animation und Videospiele: Grit Schuster, Interaction Objects: Birk-André Hildebranft, Ausstattung & Kostüm: Emese Bodolay, Video: Benno Seidel, Programmierung: Martin Threethousand & Henning Gebhard.
Performance: Clara Gohmert, Michael Zier, Video-Performance: Jennes Zimmermann, Kathrin Ebmeier.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

Eine Anna Kpok Produktion in Koproduktion mit dem Ringlokschuppen Ruhr, dem Schauspiel Dortmund und der Schaubude Berlin
https://www.ringlokschuppen.ruhr
https://www.annakpok.de



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