Kollaps der Hemmungen

von Mirja Gabathuler

Zürich, 22. September 2018. "Öffentlich Frau zu sein, ist das Allerrevolutionärste auf der Welt." Das habe ihr wohl Jahre zu spät eingeleuchtet, schrieb die amerikanische Schriftstellerin und Filmemacherin Chris Kraus in ihrem Roman "I Love Dick". Das war 1997. Heute denkt man: Vielleicht eher zwanzig Jahre zu früh. Das Original des Romans war ein Flop. Erst die Neuauflage von 2006 wurde zum Bestseller und von Independent-Darling Jill Soloway als Serie verfilmt: ziemlich kultig, ziemlich feministisch.

Kant oder Cunt?

"I Love Dick" macht sich gut zum Saisonauftakt des Theater Neumarkts, wo Friederike Heller den Stoff nun auf die Bühne brachte. Das Theater Neumarkt hat seit Längerem auffallend viele Frauen im Programm und bald drei an der Spitze. Dass das Ganze auch noch ziemlich unterhaltsam wird, dafür sorgt auf der Bühne das Dreiergespann Hanna Eichel, Ulrich Hoppe und Martin Butzke.

IloveDick3 560 MuTphoto Barbara Braun uAddickted? Chris und Sylvère alias Hanna Eichel und Ulrich Hoppe @ MuTphoto | Barbara BraunSie verkörpern die Figuren dieser unverblümt autofiktionalen "Ménage à Trois": Chris ist eine kaum anerkannte Filmemacherin, ihr Ehemann Sylvère ein etablierter Professor. Ihre Ehe plätschert zwischen intellektuellem Übertrumpfungseifer ("Wir harmonieren geistig so dermassen!"), selbstironischer Bodenhaftung ("Meinst du Kant oder Cunt?") und gepflegter Infantilität dahin. Sex ist eine Seltenheit.

Für den Sturm im Wasserglas Ehe sorgt ein Bekannter von Sylvère, Typ Kunstkritiker Schrägstrich einsamer Cowboy, mit speckigen Lederboots und ebensolchen Macho-Posen. Sein Name, Dick, deckt sich recht gut mit Chris Wahrnehmung seiner Person. Nach einem Abendessen zu dritt fühlt sich absolut und unkontrollierbar zu ihm hingezogen.

Überspulte Gedanken, querschlagende Referenzen

Sylvère regt Chris an, Dick einen Brief zu schreiben. Worauf sie sich das Ehepaar eine Art Spiel daraus machen, sich in ihrer libidinösen Obsession gegenseitig hochzuschaukeln. Brief für Brief steigert sich das Paar hinein in diesen "Concept Fuck", die "Schizophrenie" des Begehrens, in diese "masturbatorische Passion", dieses "crossreferentielle Delirium" – ohne je eine Zeile abzuschicken. Alles dreht sich um Dick, die körperliche Erregung, die überspulten Gedanken, die querschlagenden Referenzen, die Worte: Je mehr Briefe sie sich "dicktieren", je mehr sie "ficktionalisieren", desto mehr sind sie "addickted".

Dick, Dick, Dick füllt nach und nach auch den Bühnenboden. Mit Leuchtstiften in Penisform kritzeln und kleckern Chris und Sylvère quer durch den leeren Raum. Dick betritt die Spielfläche dieses grellen Fantasie-Ping-Pongs nie, sondern taucht nur ab und zu mit Gitarre auf einer Bühne am Rande auf. Friederike Heller findet für seine Figur musikalische Bilder: Er verkörpert Rock'n'Roll, "echte Männermusik", komponiert von "Kante"-Sänger Peter Thiessen.

IloveDick1 560 MuTphoto Barbara Braun uMénage à Trois bei echter Männermusik  © MuTphoto | Barbara Braun

Währenddessen versuchen seine Groupies dem Kollaps ihrer Hemmungen beizukommen – gackernd und stöhnend, durchgeknallt und hysterisch, sprunghaft und selbstironisch, hyperverkopft und hypersexuell. Das ist in vielen Szenen hochgradig komisch und mit ansteckendem Drive gespielt: Vom mit Professoren-Slang unterlegten Striptease bis zu marxistisch überhöhten Mordfantasien und einem Beckett-Intermezzo ("Warten auf Dick").

Nur: Zwischendurch wirkt es, als sollen die Figuren lächerlicher erscheinen, als sie sind. Auf die Dauer stören die überspitzten Kostüme und Gesten. Während die Vorlage sich zwischen ironischer Distanz und emotionaler Unmittelbarkeit bewegt, federt hier das Klamaukige über weite Strecken das Schonungslose dieser "Fallstudie" ab.

Aktueller denn je

Ihre "performative Philosophie" bezeichnet Chris als etwas "Monströses". Indem sie Dick total objektiviert und zur Projektionsfläche ihrer Fantasie macht, tut sie das, was Männer in der Literaturgeschichte wieder und wieder getan haben. Setzt damit aber eine völlig andere Dynamik in Gang. Die Ehe zerbricht an Chris' kompromisslosem Verlangen. Das (Ver-)Zweifeln an sich selbst, als Künstlerin und als Frau, bringt sie radikal zur Sprache.

Das wirkt heute aktueller denn je. "Warum glauben eigentlich alle, dass Frauen sich erniedrigen, wenn sie die Bedingungen ihrer eigenen Erniedrigung blossstellen?" Eine solche Frage schlägt ohne viel Zutun eine Brücke zu gegenwärtigen Debatten.

Dass die thematische Klammer des Abends die (Selbst-)Zensur weiblicher Werke bildet, ist daher dramaturgisch richtig. Am Ende wird die Anklageschrift vorgelesen, mit welcher der "echte" Dick gegen die Veröffentlichung des Romans von Chris Kraus vorgehen wollte. Um das letzte Wort dann wieder ihr zu geben. Es ist eine Aufforderung: "Stay unsafe."

 

I Love Dick
von Chris Kraus
Übersetzung von Kevin Vennemann
Regie: Friederike Heller, Dramaturgie: Ralf Fiedler, Angela Osthoff, Raum: Jo Schramm, Lukas Sander, Kostüme: Sabine Kohlstedt, Musik: Peter Thiessen.
Mit: Hanna Eichel, Ulrich Hoppe und Martin Butzke.
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theaterneumarkt.ch

 

Kritikenrundschau

Die "virtuelle Exhibition" finde heute massenhaft statt, in den sozialen Medien wie Facebook oder Instagram. Das Buch der New Yorker Autorin Chris Kraus habe dies vor 20 Jahren visionär vorweggenommen – darin liegen für Karl Wüst von der Aargauer Zeitung (24. 9. 2018) Brisanz und Aktualität von Buch und Inszenierung. "Die Lektüre ist allerdings alles andere als einfach. 'I love Dick' hat manch einschläfernde Länge. Auch auf der Bühne droht das Stück bisweilen durchzuhängen. Mit ihrer blendenden Performance vermögen Hanna Eichel, Ulrich Hoppe und Martin Butzke aber selbst die verschlungenen, mit kulturtheoretischen Querbezügen befrachteten Passagen gut zu überspielen." Auch Regisseurin Friederike Heller geize nicht "mit rasanten, bisweilen überdrehten Showelementen."

"(E)s gelingt, was man kaum für möglich hielt: ein ehrenhafter Kniefall vor Simone de Beauvoir in der Atmosphäre eines Strukturalismus-Seminars für Einsteiger. So viel männliche Selbstironie, verpackt in kurzen 100 Minuten, müssen erst einmal überboten werden", schreibt Daniele Muscionico in der Neuen Zürcher Zeitung (23.9.2018).

Dankbar für "eine frühe Einordnung in den Diskurskontext" ist Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (24.9.2018) und überdies für die Darsteller*innen Hanna Eichel, Martin Butzke und Ulrich Hoppe, die sicht- und hörbar machten, "dass in Kraus' Dokument des Scheiterns einer Künstlerin und Liebenden, einer Frau, die ernst genommen werden will, auch eine romantische Komödie der Neunziger steckt". "Manche Klage über 'Genderism' und strukturelle Erniedrigung, über das Gefängnis der Geschichte und Unfreiheit im Spätkapitalismus mag in Hellers Inszenierung verläppern wie die Farbtropfen der Riesenstifte", so Kedves: "Sylvères Holocaust-Vergangenheit schrumpft schier zur Pointe. Und Chris' 'J'accuse' auf der blossen Brust ist ein billiges Femen-Imitat, denkt man erst. Bis man kapiert, wie viel Courage im flapsigen Quote steckt: coole Cunt-Art."

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