Freiheit, Gleichheit, Blutrausch

von Anna Landefeld

München, 27. September 2018. Zu Beginn also gleich einmal das Ende. Alle sind sie vereint: Attentäterin und Opfer samt Entourage, die am liebsten hysterisch losschreien würde. Doch noch regt sich hier keiner, alle sind sie gefangen in einem lebenden Bild nach einem Gemälde des Malers Jean-Joseph Weerts mit dem Titel "Marat ermordet! 13. Juli 1793, acht Uhr abends".

Und ganz so, als wäre der Lauf der Geschichte und ihr Ende sowieso unaufhaltbar, lungert teilnahmslos abseits des Geschehens der Regisseur dieser Groteske: Marquis de Sade ist in Tina Laniks Inszenierung von Peter Weiss' "Marat/Sade" am Münchner Residenztheater ein Prachtstück von einem leidenden Individuum des postfaktischen Zeitalters: Insasse einer psychiatrischen Anstalt, vor lauter Freiheit erst gelangweilt, dann melancholisch und darüber schließlich mächtig an Körpergewicht zugelegt. Die Politiker reden sowieso alle nur irres Zeug – keine Lust, das zu entschlüsseln. Aber wenn man also schon gezwungen sei in dieser Welt zu leben, dann könne man irgendwie doch nicht anders, als sich zu ihr zu verhalten. Einerseits. Andererseits.

Liberaler Fettsack gegen muskulösen Revolutionär

Apathisch durch und durch liegt Charlotte Schwab da rum – mit Fatsuit und Fettfrisur, irgendwas zwischen den Geschlechtern in Stöckelschuhen und Feinripp-Unterhose unterm vom Blut zartrosa gefärbten Rock. Ein fettes, eskapistisches Individuum – Marquis de Sade, der desillusionierte Ex-Revolutionär. Aufwuchten wird Schwab sich aber immer dann, wenn es darum geht, warum man auf das alles scheiße – die Revolution, auf die im Kreis laufenden Massen, die guten Absichten und so weiter: "Ich glaube nur an mich selbst!" Hoch lebe der Liberalismus.

Das sieht de Sades nimmer müdes, agitierendes Geistes-Gegenstück ganz anders: Jean Paul Marat, ein Prachtstück von einem Revolutionär: drahtig, muskulös, gespielt von Nils Strunk. Lanik lässt die beiden debattieren, verpackt die Streitgespräche in grotesken Szenen. Mal hängt Marat kotzend überm Klo unterm Kreuz. Mal will de Sade, Schöpfer der literarisch-pornografischen Gewaltfantasien schlechthin, doch glatt von diesem ausgepeitscht werden. Frei nach Erich Fromm: Lerne dich selbst und deine Mitmenschen durch Grausamkeit kennen. Bei Lanik verkommt diese Allegorie allerdings zum unbeholfenen Klamauk.

Marat 13 560 Matthias Horn uGedrängel in der Wanne: Nils Strunk, Charlotte Schwab, Thomas Lettow © Matthias Horn

Ohnehin sitzt Strunk die meiste Zeit in der Badewanne. Jenem Ort, an den nicht nur ein Hautekzem den historischen Marat für viele Stunden verbannte, sondern wo ihn Charlotte Corday schließlich ermordete. Für Corday ist Marat nichts weiter als ein mieser Demagoge des Todes. Blutig ist das Badewasser bei Lanik deswegen nicht erst nach dem Attentat, blutig ist es schon vorher, eingefärbt von den Opfern, den Feinden der Revolution. Töten, das passiere aus Notwehr, sagt Marat. Freiheit, Gleichheit, Blutrausch. Ohne Gewalt bleibt eben alles so reaktionär, wie es ist. Ohne Gewalt war's das mit der Gleichheit und dem Wohlstand für alle. In dieses Revolutionsblut des notwendigen Tötens also tunkt der geistige Vater des Staatsterrors seine Feder, kritzelt unablässig seine Pamphlete auf blutdurchnässtes Papier.

Hinter ihm an der Guillotine rezitiert das Geschriebene parallel der Ultrarevolutionär und Priester Jaques Roux im Habitus des Aktivisten, schwarzer Kapuzenpulli, Bengalo – ein unheilschwingender Schatten des Linksextremismus. Weiter um die Wanne herum hat sich das gräuliche, verwahrloste Terzett des "Vierten Standes" in Unterhosen versammelt, die Arbeiter, Pfleger, Rentner, die von der Politik Vergessenen. Immerzu drängen sie, messerscharf artikuliert im Knittelvers: "Marat / Was ist aus unserer Revolution geworden / Marat / Wir wolln nicht mehr warten bis morgen." Denn was nützt all die theoretische Politisiererei, wenn das Tun dabei auf der Strecke bleibt.

Marat goes Macron

Da bleibt Marat nur die Flucht aus der Badewanne hinein in die Agitation. Licht an auf der Bühne, Licht an im Zuschauerraum. In blutdurchtränkten Hosen* steht er da, Nils Strunk als Bürger Marat, und mit der Verve eines Emmanuel Macron legt er los. Lanik verlässt die Metaebene. Sie hievt die Szene dezent aufdringlich in die unmittelbare Gegenwart. Sie bereitet die Bühne als parlamentarisches Plenum für ihren Marat, der gegen sinnfreie Sätze auf Wahlplakaten witzelt, der vor radikalen Kräften in Europa warnt, vor einem Innenminister, der nicht zurücktreten will, und einem bayrischen Ministerpräsidenten, der gegen den Willen auf den Straßen demonstrierender Menschen ein höchst umstrittenes Gesetz durchbringt. Dafür gibt es sogar Zwischenapplaus.

Und außer Bashing des politischen Gegners? Kein Bekenntnis zu einer sozialistischen Gesellschafts-Utopie wie noch in den Sechzigern bei Peter Weiss, kein Bekenntnis für eine revolutionäre Diktatur wie beim historischen Marat. Also eine indirekte Warnung vor linkem Populismus? Laniks Marat ist gemäßigter, und sein Appell wabert verklausuliert durch den Raum: Wenn man rechtem Populismus entgegentreten will, braucht es eine sich wieder klarer bekennende und sortierte demokratische Linke. 

* Hier haben wir am 29.9. "Sansculottes" durch "Hosen" ersetzt, siehe Kommentar #3

 

Marat/Sade
von Peter Weiss
Regie: Tina Lanik, Bühne und Kostüm: Stefan Hageneier, Komposition: Cornelius Borgolte, Licht: Gerrit Jurda, Dramaturgie: Andrea Koschwitz.
Mit: Michele Cuciuffo, Pauline Fusban, Thomas Gräßle, Lilith Häßle, Thomas Lettow, Joachim Nimtz, Wolfram Rupperti, Charlotte Schwab, Götz Schulte, Nils Strunk.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

"Lanik konzentriert sich ganz auf die Konfrontation zwischen dem Zweifler an jeglicher Moral: de Sade und dem Freund des Volkes: Marat", so Sven Ricklefs vom Deutschlandfunk (28.9.2018). "Ganz allerdings kann sich aber auch diese Version des Stückes nicht von Moritat, Knittelvers und Blutgepansche lösen. Da ist viel Mummenschanz und da ist immer wieder die Badewanne, in die – oder aus der man wahlweise hinein oder herausrutscht." Was wohl als Grand Guignol gedacht sei, wirke manchmal eher unfreiwillig komisch. Laniks 'Marat/Sade' werde wohl weniger als brisantes Theater denn als ein Versuch im Gedächtnis bleiben, Fragen zu stellen. "Fragen, wie: wie reagieren, wie politisch werden und: wie kämpfen!"

Mit ihrer Inszenierung thematisiere Tina Lanik vor allem die Ratlosigkeit ihrer Generation. "Was 'Marat / Sade' zum Stück zur Zeit macht, ist die Schwäche, die sich Lanik leistet. Mal etwas linkisch, mal mit trotziger Robustheit unterläuft sie die raffinierte Eleganz des formen- und stimmenreichen Diskurses, den Weiss 1964 mit der Verve des kampfeslustigen Visionärs aufschrieb", so Mathias Hejny in der Abendzeitung (28.9.2018).

Laniks Inszenierung, dekoriert mit reichlich Blau-Weiß-Rot, suche die Nähe zur historischen Revolution und ihrer romantischen Verklärung. "Statt nur zu frotzeln, will sich diese Regie ernsthaft mit der Revolution auseinandersetzen, mit dem Aufkommen des Aufstands und seinem Verfall – vom roten Rock Marats hin zum schwarzen Block", schreibt Anton Rainer in der Süddeutschen Zeitung (29.9.2018). "'Eine Inszenierung, in der am Ende nicht Marat als der moralische Sieger erscheint, wäre verfehlt', hat Peter Weiss einmal gesagt. Nicht nur diesbezüglich macht der Abend vieles richtig."

"Klug ha­ben die Re­gis­seu­rin Ti­na La­nik und die Dra­ma­tur­gin An­drea Ko­schwitz ih­ren 'Ma­rat/Sa­de' um Zi­ta­te aus den No­tiz­bü­chern des Au­tors er­wei­tert", schreibt Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.10.2018). "Ei­ne flot­te, spiel­lus­ti­ge In­sze­nie­rung, die sich auf den Weg ge­macht hat, das ab­grün­dig Ko­mi­sche zu su­chen und sich doch zu­wei­len voll düs­te­rer Ehr­furcht im Text ver­liert".

Von einer "braven Version des Revolutionsdramas" spricht K. Erik Franzen in der Frankfurter Rundschau (2.10.2018)"Im Zentrum der Bühne steht die mythische Badewanne, in der Marat (im triefenden Lendenschurz eine Mischung aus Jesus und Tarzan) von Charlotte Corday erdolcht wurde. Wer hat nun recht: der (neben Danton und Robespierre) radikale Jakobiner Marat, der die Errungenschaften der Französischen Revolution mit Gewalt verteidigt oder der Schriftsteller de Sade, der nichts weniger als eine Revolution des Individuums will? Ein Herrenchor in Feinrippunterwäsche und ein Ausrufer (glänzend Michele Cuciuffo) im Totengräberlook mit weißer Unterhose rappen die Revolutionsreime. Aber nichts kratzt hier."

 

 

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