Elend am Original-Schauplatz

von Willibald Spatz

Augsburg, 28. September 2018. Es bietet sich in Augsburg gerade eine famose Gelegenheit: Weil das Haupthaus des Theaters immer noch zwecks Sanierung gesperrt und die zweite Spielstätte, die Brechtbühne, auch geschlossen ist, wird auf dem ehemaligen Gaswerkareal ein neues Schauspielgebäude eingerichtet. Und jetzt kann man Georg Kaisers Gas-Trilogie praktisch an einem Original-Schauplatz aufführen. Wobei die Ausweichspielstätte im Ofenhaus entstehen soll und erst im Januar fertig sein wird, man also für diese Premiere ein weiteres Mal ausweichen musste und zwar auf demselben Gelände ins ehemalige Kühlergebäude, das tatsächlich eine grandiose Kulisse abgibt und in Antje Thoms Inszenierung eine entscheidende Rolle spielt.

Willkommen in der Isolation

Der erste Teil, "Die Koralle", funktioniert als Stück am besten und handelt viel vom Ausgeschlossensein aus einer Parallelwelt, die nur einen Steinwurf weit weg von der eigenen existiert. Schon auf dem Weg zum Theatereingang lungern als Obdachlose verkleidete Schauspieler herum, betteln entweder stumm um "Geld für Gas", klampfen oder schwingen große Reden zum Zustand der Welt. Die Zuschauer werden am Eingang mit Kopfhörern ausgestattet. Nachdem sie ihre Plätze eingenommen haben, drängen die Elends-Darsteller ebenfalls herein und lungern auf der Spielfläche herum. Im Stück ist "offener Donnerstag":  ein Milliardär, eigentlich sein Sekretär, der auch noch sein Doppelgänger ist, empfängt Bittsteller. Man hört die Betteldialoge über die Kopfhörer, während man den Wartenden zuschaut. Und weil man eben nur über Kopfhörer dabei ist, löst sich auch das Zuschauerkollektiv auf. Man fühlt sich isoliert und zurückgelassen. Gelungen sind auch die Details auf der Audiospur, das permanente Schlürfen an der Kaffeetasse und das Klappern der Rechenmaschine, bevor der Sekretär eine Wohltat erweist.

Gas 3 560 Jan PieterFuhr uSohn und Sekretär: Roman Pertl, Sebastian Müller-Stahl © Jan-Pieter Fuhr

Der zweite Akt spielt auf einer Yacht und wieder ist man nicht dabei. Das Ensemble spielt vor den Fenstern, ihre Gespräche sind auf den Kopfhörern. Wir werden sogar hin und wieder von einer Fotografin geblitzt, als wären wir hier die Begafften.
Nach so viel Spiel aus zweiter Hand wirken die beiden kommenden Szenen, nun direkt und leibhaftig vor unseren Augen gespielt, umso stärker. Der Mikroport-Ton stellt eine zusätzliche Intimität her. Der Milliardär muss sich von seinem Sohn vorwerfen lassen, dass sein ganzes Leben nur auf der Ausbeutung armer Menschen besteht. Andrej Kaminsky und Roman Pertl als Vater und Sohn meistern diese Auseinandersetzung eindringlich; schließlich kommt noch Sebastian Müller-Stahl als Sekretär dazu. Er muss für das Scheitern der Visionen des Milliardärs mit seinem Leben bezahlen, womit der erste Teil eine bittere Schlusspointe hat. Der fünfte Akt der "Koralle" fehlt weitgehend und der Abend hat einen furiosen Höhepunkt.

Die Stücke "Gas I“ und "Gas II" erzählen nun das Schicksal der Milliardärsfamilie in den kommenden Generationen. Sie sind wesentlich sperriger. In "Gas I" versucht der Sohn nach einem katastrophalen Unfall den Arbeitern neue Perspektiven zu vermitteln, die diese zuerst gar nicht annehmen wollen. Es wird viel verhandelt, es geht aber um wenig. "Gas II" ist dann eine wahre Wortschlacht, die in einem einzigen hitzigen Gestammel mündet. Im Krieg muss die Firma Giftgas herstellen. Das Ende aller Träume besteht aus Giftgas.

Gas 2 560 Jan PieterFuhr uDie Halle spielt eine Hauptrolle.Bühnenbild: Ute Radler © Jan-Pieter Fuhr

Georg Kaiser war in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts einer der meistgespielten Autoren auf deutschen Bühnen. Die Gas-Trilogie entstand von 1917 bis 1920 unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs. Es ist ein wütendes, expressionistisches Anschreiben gegen den Irrsinn, dessen Zeuge er wurde. Letztendlich drängt sich aber beim Wiederlesen der Texte auch der Verdacht auf, dass Kaisers Erfolg auch seinerzeit schon auf einer gewissen Lust am Elends-Voyeurismus beruhte. Da halten Arbeiter fett klingende Trauerreden und ringen um ihre Würde. Das fühlte sich damals wahrscheinlich schon gut an im Theatersessel.

Antje Thoms setzt an dieser Stelle wieder auf den Raum. Der bringt eine gewisse Sakralität mit. Eine Beerdigung wird zelebriert wie ein Gottesdienst. Die Schauspieler bewegen sich wie die Räder einer Maschine. Ein zum Schluss die Kommandogewalt übernehmender "Chor der Gelbfiguren" spricht mit der Stimme des Betriebssystems macOS. Georg Kaisers Fortschrittsskepsis ist aktuell in einer Zeit, in der sich die Menschen immer mehr von Maschinen und Algorithmen beherrschen lassen. Hier dient sie aber in erster Linie als Vorlage für eine sehr gut funktionierende Kunstübung.

 

Gas
(Die Koralle / Gas I / Gas II)
Schauspiel in drei Teilen von Georg Kaiser
Inszenierung & Kostüme: Antje Thoms, Bühnenbild: Ute Radler, Musik: Stefan Leibold, Dramaturgie: Sabeth Braun
Mit: Andrej Kaminsky, Sebastian Müller-Stahl, Katja Sieder, Roman Pertl, Klaus Müller, Daniel Schmidt, Kai Windhövel, Ute Fiedler, Amélie Rettenbacher, Max Thiel, Sophia Aujezdsky, Elisa Hugo, Andreas Hobmeier, Brigitta Brandmair-Keinath, Franz Hackl, Petra Kaiser, Stefanie von Mende, Benedikt Siegel, Serafina Schneider, Stefan Herzog, Max Rosentreter, Karina Schrode, Ulrich Wanke.
Dauer: 3 Stunden 15 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-augsburg.de

 

Kritikenrundschau

"Kaisers Trilogie setzt nicht auf Individuen, auf wirkliche Menschen; die Protagonisten sind vielmehr Typen und Sinnbilder, sie verkörpern Ideen. Das macht die Sache klar und dicht, aber auch gelegentlich eindimensional, die ritualisierte Sprache schafft Distanz zwischen Bühne und Publikum", schreibt Bettina Kohlen auf www.a3kultur.de (1.10.2018). "Das Stück mag Schwächen haben, das Ensemble zeigt sich aber intensiv und wandlungsfähig", so Kohlen über einen "sehr gelungene(n) Auftakt" der Saison.

Eine "perfekte Kulisse" sei die Ausweichspielstätte, so Richard Mayr in der Augsburger Allgemeinen (29.9.2018). Bis zur Pause zeige das Ensemble seine Wandlungsfähigkeit. Antje Thoms habe zudem starke Bilder gefunden. Und doch: "Der Abend endet als Leitartikel im Expressionisten-Stakkato und macht schon vor der Maschinengewehrsalve seine Figuren platt. Alles strotz vor Ausrufezeichen und moralischer Entrüstung."

 

 

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