Empathie und Kontrolle

von Sabine Leucht

München, 4. Oktober 2018. Der (aus Übersichtsgründen in der Box unten abgekürzte) Besetzungszettel nimmt gar kein Ende und enthält so seltsam-seltene Funktionen wie "Moldmaking and Glasfibertec" oder "FDM Print Construction Cleanup and 3D Print Assist". Nur da, wo sonst die Schauspieler stehen, findet man nichts als "Text, Körper, Stimme: Thomas Melle" und die bei Rimini Protokoll üblichen "Experten des Alltags". Es ist nämlich so, dass die Münchner Kammerspiele bei ihrer ersten Spielzeiteröffnungspremiere auf ihr komplettes Ensemble verzichten und nur einen Vortrag des Schriftstellers und Dramatikers Thomas Melle anberaumen. Ehe jetzt die Empörung überschwappt, sei gesagt: Der Coup geht auf!

Bin ich kein Roboter?

Und das, obwohl oder weil sich auch Melle vertreten lässt: Von einem Roboter, der sein Gesicht hat und seine Hände, der mit seiner Stimme spricht und mit seinen Gesten die Sphärenmusik dirigiert, die zwischenzeitlich erklingt, wenn auf der Leinwand an seiner Seite künstliche Menschen in künstliche Wellen tauchen oder Haare in die hautweiche Melle-Maske hineingepiekst werden. Man weiß, dass sie nicht echt ist, hat den Entstehungsprozess dieses Gesichts gesehen, hört bei den behutsamen Bewegungen der Hände die Hydraulik rauschen. Und doch tut einem das Pieksen beim Zuschauen weh, genauso wie der Moment, in dem das Melle-Double seinen Fuß brutal in einen unnatürlichen Winkel dreht, weil das der auf der Leinwand erscheinende echte Melle so will.

UnheimlichesTal 2 560 GabrielaNeeb uUnheimlich: Thomas Melle von vorne und von hinten und doch nicht echt © Gabriela Neeb

Aber was ist das überhaupt: echt, falsch; natürliches oder programmiertes Verhalten? Auch wenn die Spiegelneuronen, die Mitgefühl erst ermöglichen, zu funktionieren scheinen: Was unterscheidet das regelbasierte Verhalten von Theaterzuschauern von der Unfreiheit einer Maschine? Melle hat gemeinsam mit Regisseur Stefan Kaegi von Rimini Protokoll einen Text geschrieben, der derartige Fragen variiert. Anhand der Biografie von Melle selbst, der den Kontrollverlust über sein Leben mit einer bipolaren Störung durch literarische Formgebung kompensiert und beteuert, selbst die Authentizität seines hinreißend niederschmetternden autobiografischen Romans "Die Welt im Rücken" (gibt's auch im Theater) sei durch "die größte Künstlichkeit, die größte Kontrolle" errungen. Und der Geschichte des Informatikers und KI- Pioniers Alan Turing, der die Grundlagen für den später so genannten "Turing-Test" legte, der hilft, Menschen von Maschinen zu unterscheiden. "Woher nehmen Sie eigentlich die Gewissheit, mit der Sie ankreuzen 'Ich bin kein Roboter!', wenn Ihr Computer Sie darum bittet?" fragt der Melle-Humanoid. "Haben Sie nicht auch manchmal Schwierigkeiten, die Bilder und Buchstaben auf den CAPTCHAs zu erkennen?“ Alle haben – und lachen!

Was ist der Mensch?

Auf der Leinwand schwärmt der seit seiner Kindheit gehörlose Enno Park von der Stille, die entsteht, wenn er sein Cochlea-Implantat abstellt und sagt: "Die Technik ist die Natur des Menschen." Und ein Professor für KI-Forschung zweifelt daran, dass Computer je Empathie empfinden können.

Man erfährt viel an diesem kurzen Abend: Etwa wie todessehnsüchtig das Lied klingt, das Turing vor seinem Suizid immer gesungen haben soll, wenn Melle 2 es mit Melles Stimme singt: "Tauch den Apfel in den Sud / Schlaftod kommt mit milder Glut", aber auch über biologische Baupläne, die Schönheit von "Fehlern" in der Natur und dass sein Titel "Unheimliches Tal/Uncanny Valley" die Tatsache benennt, dass bei äußerlich menschenähnlichen Robotern schon kleine Abweichungen genügen, um sie "creepy" wirken zu lassen. Doch es sind nicht seine akribisch recherchierten und klug collagierten Details, die dieses Theatererlebnis so besonders machen. Sondern dass sie alle zutiefst theatralen Fragen umkreisen wie: Was ist der Mensch? Wer spricht zu wem und zu welchem Zweck? Angesichts einer sich sensibel und poetisch gebenden animatronischen Figur schlägt das Nachdenken über diese Fragen lustige Kapriolen und kommt länger nicht zur Ruhe.

Und das Ensemble der Münchner Kammerspiele? Kommt ab morgen zum Zuge.

 

Unheimliches Tal/Uncanny Valley
Uraufführung von Rimini Protokoll (Stefan Kaegi) und Thomas Melle
Inszenierung, Konzept, Text, Regie: Stefan Kaegi, Text, Körper, Stimme: Thomas Melle, Ausstattung: Eva-Maria Bauer, Animatronik-Team: Chris Creatures Filmeffects GmbH, Herstellung und Art-Finish des Silikonkopfes: Tommy Opatz, Video: Mikko Gaestel, Musik: Niki Neecke, Licht: Michael Pohorsky, Dramaturgie: Martin Valdés-Stauber, Experten: Prof. Raúl Rojas (Professor für Künstliche Intelligenz, TU Berlin), Enno Park (Cyborgs e. V.).
Dauer: 1 Stunde, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Bernd Noack von Spiegel Online (5.10.2018) sah "(e)ine höchst aufwendige Spielerei, die im Deutschen Museum stattfinden könnte, und wieder einmal das alte/neue Problem: das Theater rennt der zukünftigen Zeit hinterher, probt den technischen Fortschritt und kopiert dessen Erfolge, sein Scheitern. Vor lauter Machbarkeitseifer vergisst es aber die Inhalte: statt Überzeugung nur noch inszenierte Überwältigung." Hinzu komme eine ziemlich läppische Moral.

"Theaterabende, die den Zuschauer mit einer langen Liste an Fragen nach Hause schicken, sind schon mal nicht die schlechtesten", schreibt Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (online 5.10.2018). "Uncanny Valley" sei "eine fast liebevolle Betrachtung" von "den Wundern der Technik und vom Menschen. Und davon, dass die Existenz des einen die des anderen nicht negiert. Ein leiser, aber sehr ausgefuchster Saisonstart."

Gespeist mit vielen O-Tönen der Melle-Maschine berichtet Julian Ignatowitsch für den Deutschlandfunk (5.10.2018). "Mensch und Roboter, Melle und Turing, Schein und Sein – darum dreht sich dieser Abend, der vieles zugleich ist: eine KI-Performance, ein Vortrag, ein Theater-Essay, eine Bild- und Video-Dokumentation."

Von einer "befremdlich-verstörenden, zum Nachdenken anregenden Performance" berichtet Melanie Brandl im Münchner Merkur (6./7.10.2018). Besonderes Augenmerk schenkt die Kritikerin der Schlussvolte der Inszenierung, in der es heißt "Wenn sie jetzt gleich klatschen, dann für sich selbst". Brandl dazu: "Am Ende herrscht Stille. Niemand applaudiert. Aber beweist man damit Menschlichkeit? Oder ist nicht genau das der letzte Beweis der Kontrollierbarkeit, weil Kaegi genau das geplant hat?"

"Die Fragen, die dieser stundenkurze Vortragsabend auslöst, sind im Theater schon deshalb nicht deplatziert, weil es da ja auch um Künstlichkeit, Repräsentanz und das große 'Als ob' geht", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (8.10.2018). "'Ist nur das Zufällige menschlich?', fragt der durch und durch kontrollierte, programmierte Melle-Roboter. Gute Frage."

"Nein, diese Uraufführung, hinter der das Wort 'Performance' steht, zeigt kein Schauspielertheater – und ist dennoch großes Schauspiel, denn zur Schau getragen wird das Spiel mit der Wirklichkeit", schreibt Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.10.2018).

 

Kommentare  
Uncanny Valley, München: Gefühle, keine Kopien
Das ist dann also die neue Mode. Der Mensch auf dem Theater wird nicht mehr mit dem Wesentlichen des Theaters (und des Lebens) verbunden, den Gefühlen, sondern mit der KI. Wesentlich sind aber doch die Gefühle, die zudem jeden Menschen überschwemmen können. Apropos, könnte ein Roboter so programmiert werden, dass er allein aufgrund einer ganz bestimmten, zufallsbedingten Situation, in die er gerät, unkontrolliert reagiert? Oder gibt es beim Roboterhandeln keinen Zufall? Wird das hier überhaupt befragt? Der Zufall? Oder geht es hier um Melles Krankheit als Schicksal? Kennt ein Roboter den Schmerz des (unbeeinflussbaren und manchmal auch zwischenmenschlich verursachten) Schicksals? Das alles will ich doch auf dem Theater sehen, aber keine Roboter-Kopie eines Menschen.
Uncanny Valley, München: Wann in Berlin?
Liebe Redaktion, wisst Ihr, wann die Arbeit in Berlin zu sehen sein wird?

(Liebe Linda Rudolf, auf der Website von Rimini Protokoll sind bisher nur die Termine für Mailand, Salt und Utrecht angegeben. https://www.rimini-protokoll.de/website/de/project/unheimliches-tal-uncanny-valley Die Berliner Festspiele sind Koproduktionspartner, haben aber noch keinen Termin verzeichnet. Wir fragen nach. Herzliche Grüße, Christian Rakow / Redaktion)
Uncanny Valley, München: Kontrolle
Jein: Roboter können "unkontrolliertes" Handeln jedoch simulieren, wenn ihre Programmierer die Kontrolle darüber erlangt haben, was aktuell allgemein als unkontrolliertes Handeln gelten würde. Das Erlangen solcher Kontrolle geht durch die monströsen Datenspeicherungen über google und facebook oder twitter zum Beispiel sehr gut.
Zum Beispiel für die börsennotierten Anteilseigner von google, facebook und twitter, die dann ganz genau wissen, welche Medien oder Immobilien oder Plattformen sie als nächstes kaufen müssen, um die Kontrolle über den globalen Geldfluss zu behalten…
Und sie - also die Kontrolle zwecks Simulation von Nichtkontrolle - betrifft die kleinen süßen, e-ausgetauschten vermeintlichen Geheimnisse zwischen Liebenden ebenso wie die größeren vermeintlich politikverändernden offen geäußerten Statements von Sammlungsbewegungen, die massenhaft digitale Plattformen nutzen, ebenso.
Wenn man möchte, dass die Finanziers von google, faacebook und co. die Politik auch des eigenen Landes bestimmen - z.B. durch Lahmlegen, braucht man nichts weiter tun, als guten Glaubens, man kanalisiere eine Art Volkszorn damit, ihre Plattformen für politische Umfragen im großen Stil zu nutzen...
Uncanny Valley, München: Termin Berlin
@2. Liebe Linda Rudolf, auf unsere Nachfrage antworten die Berliner Festspiele: "voraussichtlich im März 2019". Mit freundlichem Gruß, sd/Redaktion
Uncanny Valley, München: kein Grusel
Von einem ‚unheimlichen Tal‘ kann keine Rede sein. Dieser Roboter, wiewohl viel Arbeit und Können nötig waren, ihn herzustellen, zeigt doch ab der ersten, ungelenken Bewegung, dass er nicht einmal in der Lage wäre, einen Bauern von a2 nach a4 zu verschieben und eine Cola bekäme er auch nicht auf.
Am künstlichsten, absolut unzugehörig, aber wirkt die Stimme.
Nur wenn er still sitzt und der Scheinwerfer in seinen Augen reflektiert, könnte man ihn, wären da nicht der kurze Hals und die allzubreiten Schultern, aus der Ferne für einen Moment für echt halten.

Um nun dieser Frage nach dem Echten und Unechten nachzugehen, kann man sich die 22 Euro für diese ‚Aufführung‘ sparen.
Ich würde mir den Trailer ansehen, das Abendprogramm als PDF durchlesen, dazu die Bilder auf der Kammerspiele-Homepage ansehen und die Beiträge hier auf ‚Nachtkritik‘: Damit habe ich alles, was ich wissen muss, um mitreden zu können.
Insgesamt eine nette, harmlose Idee, aber ich bin froh, dass ich da nicht mit der Familie rein bin. Die Kinder hätten bestimmt gefragt: Macht der auch noch was anderes? Oder: Passiert da noch irgend was?
Das Live-Erlebnis in Kammer 3 also halte ich für absolut entbehrlich. Den dortigen Denkanstoß kann ich mir auch selber geben.

Womöglich interessanter wäre gewesen, einen Schauspieler einen Roboter spielen zu lassen und zwar so, dass man’s nicht merkt und dann dem Publikum den Turing-Test vorzulegen: War das jetzt Mensch oder Maschine? Da käme vielleicht mehr Grusel auf.
Uncanny Valley, Berlin: Wir Mensch-Maschinen
„Ich nehme an, Sie sind hier, um sich von mir zu unterscheiden“, sagt der animatronische Melle an einer Stelle zu seinem (?) Publikum. Diese Unterscheidbarkeit verschwimmt im Laufe des Abends, verunsichert sich, bekommt Risse. Sind wir so viel freier als er, fragt er? Unterliegen wir nicht ebenso regeln wie er und sich dabei weniger verlässlich, weniger stetig, fehleranfälliger, leichter der Kontrolle zu berauben. Im Zusammenspiel von Vortrag und Präsenz des Nicht-Anwesenden, von logischem, das heißt regelbasiertem Denken und argumentieren und der (Theater-)Illusion, die dieser Abend mit seinem fast echten Menschen auf der Bühne eben auch ist, verhandelt Uncanny Valley die Kernfragen des Theaters, die auch solche der menschlichen Existenz allgemein sind, neu und auf aufregende weise irritierend. Der kurze Abend bricht Gewissheiten auf, stellt Unterscheidungen in Frage, treibt Stachel in unsere Alltagsdefinition von Menschlichkeit. Wir Mensch-Maschinen werden in die Nacht entlassen, darüber grübelnd, wo der Mensch-Part anfängt und die Maschine endet, was das Menschliche an uns ist und ob es sich vom Maschinellen trennen lässt. Vielleicht sollten wir uns auslagern, wie wir es doch eh tun – an unsere Routinen, das nicht Hinterfragte, das automatisch Ausgeführte und Gedachte. Rimini Protokoll gelingt es in seinen stärkeren Arbeiten immer wieder, unseren gewohnten Blick zu erschüttern, das Nichthinterfragte als absurd oder zumindest diskussionswürdig zu entlarven, Fragen zu stellen, die uns vielleicht weiterbringen. Uncanny Valley ist ein Paradebeispiel dafür.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2019/03/13/die-technik-ist-die-natur-des-menschen/
Uncanny Valley, Berlin: Mensch und Maschine
#6: Der Mensch-Part fängt sehr vermutlich da an, wo von sehr konkreten Menschen sehr viel konkrete handwerkliche Arbeit investiert wird, um einem Publikum überzeugend vorzuspielen, dass da eine als Mensch "verkleidete" Maschine einen Menschen spielt, der eine Maschine spielt. Wo ist das abendfüllende Grübelproblem für theatererfahrene Menschen undoder Maschinenarbeit gewohntes Publikum?
Informeller Naturalismus.
Uncanny Valley, Berlin: weites Feld
Mit einer spröden, nur eine Stunde kurzen Lecture Performance eröffneten die Münchner Kammerspiele im Oktober ihre Spielzeit. Knapp ein halbes Jahr später ist der Abend am koproduzierenden Haus der Berliner Festspiele im Rahmen des "Immersion"-Schwerpunkts angekommen. Besonders immersiv ist der Abend aber nicht: auf der kleinen Seitenbühne sitzt uns ein Humanoid gegenüber, der dem Schriftsteller Thomas Melle nachgebildet ist, sich aber sehr schwerfällig bewegt und noch einige Tücken hat. Bei meinem ersten Versuch, "Uncanny Valley" im Januar in der Münchner Kammer 3 zu sehen, streikte die Technik.

Wie üblich setzt Rimini Protokoll auf "Experten des Alltags", die aber diesmal nicht live, sondern nur als Video-Einspieler auftreten. Sie sind in eine essayistische Collage eingebettet, die mit manchen Anekdoten unterhält und das Publikum mit der Frage zum Schmunzeln bringt: "Haben Sie nicht auch manchmal Schwierigkeiten, die Bilder und Buchstaben auf den CAPTCHAs zu erkennen?"

In der knappen Stunde wird die komplexe Materie im weiten Feld von Robotik und künstlicher Intelligenz nur angerissen. Nachdenklich, aber mit einem für Rimini Protokoll ungewöhnlich kleinen Päckchen interessanter Fragen werden wir in die Nacht entlassen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/03/13/uncanny-valley-rimini-protokoll-kritik/
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