Wunden des digitalen Wandels

von Elisabeth Maier

Bregenz, 4. Oktober 2018. Nichts als eine Identitätseinheit bleibt von dem Wissenschaftler Fred Stiller übrig. Fasziniert vom technischen Fortschritt, leitet er das Projekt Simulacron. Virtuelle Welten zu erschaffen, das ist sein Traum. Doch zu spät merkt Stiller, dass er nie mehr als ein Spielball von Machtmenschen und Intriganten war. Die Fassungslosigkeit seiner Figur bringt Felix Defèr grandios auf den Punkt.

Gläserne Identitäten

Im Großen Haus des Vorarlberger Landestheaters in Bregenz hat Niklas Ritter "Welt am Draht" auf die Bühne gebracht. Rainer Werner Fassbinders Dystopie basiert auf einem Science-Fiction-Roman des amerikanischen Autors David F. Galouye aus dem Jahr 1965. In seiner Zukunftsvision ist die Welt in der Hand von Meinungsforschern. Fassbinder hat daraus für den Westdeutschen Rundfunk einen Fernseh-Zweiteiler gemacht, der 1973 ausgestrahlt wurde. Obwohl die Autoren damals nur erahnen konnten, wie das Internet die Menschen verändern würde, sahen sie gläserne Identitäten voraus.

WeltAmDraht 1 560 Anja Koehler uLicht, Nebel, Avatare: Nicolas Garin, Stefan Hartmann, Jan Kersjes, Katharina Uhland und Luzian Hirzel © Anja Köhler

Als zweite Produktion ihres Starts hat Stefanie Gräve, die neue Intendantin des Vorarlberger Landestheaters, Niklas Ritters komplexe Regiearbeit gewagt und damit beim Premierenpublikum viel gewonnen. Mit historisch-politischen Stoffen aus der Region und neuer Dramatik will sie in der österreichischen Kleinstadt am Bodensee Debatten entfachen. Das Umland will Gräve verstärkt mit kleineren Formaten bespielen. Die Gastspieltradition des Landestheaters neu zu beleben, das sich in einer "starken Kultur- und Theaterregion" behaupten müsse, ist das Ziel der erfahrenen Dramaturgin, die 2016 als Berner Schauspielchefin geschasst wurde.

Für den Profit töten

Nun also Niklas Ritters Blick auf Fassbinders Dystopie, der die Wunden des digitalen Wandels offenlegt. Mit Songs, die einem kalte Schauer über den Rücken jagen, befreien der Regisseur und sein Komponist Jan Kersjes den angestaubten Zukunftsstoff vom längst überschrittenen Verfallsdatum. Heute zerstört der Überwachungsstaat menschliche Identitäten mehr denn je. Ihre Konzentration auf das, was der digitale Wandel mit Individuen macht, trifft ins Herz. Da gehe es nicht um "Ü-Eier", sondern um volkswirtschaftlich relevante Deals. Herbert Siskens, den smarten Unternehmenschef, zeigt Stefan Hartmann als einen, der für den Profit sogar tötet. In seinem schwarz-weiß karierten Anzug wirkt er ebenso aus der Zeit gefallen wie Katharina Uhland, die von der Staatssekretärin über den Kneipenwirt bis hin zur Sekretärin eine Fülle von Rollen verkörpert. Ines Burischs Kostüme zitieren nostalgische Vorbilder.

WeltAmDraht 3 560 Anja Koehler uNanu, wer liegt denn da? Nicolas Garin, Katharina Uhland, Luzian Hirzel, Felix Defér © Anja Köhler

Als Doppelagentin Eva Vollmer macht Johannes Frick ebenso eine gute Figur wie als Sänger. Mit seiner betörend vielschichtigen Stimme interpretiert er den Song von Private Manning: "My gender to hard to find out. I cannot trust the skin. The skin that I live in." Jan Kersjes Komposition ist ebenso betörend schön wie Ritters Text. Der Bezug dieser Rolle zur Whistleblowerin Chelsea Manning, die Videos und Dokumente der US-Army der Website Wikileaks zuspielte, zeigt, wie aktuell Ritters Zugriff ist.

Dass er mit seinem Ensemble die Dystopien der 1960er und 70er-Jahre neu denkt, ist ein reizvoller Ansatz. Norman Plathe hat für den Kampf der Menschen gegen die Technik ein Lichtdesign kreiert, das die Dynamik des Abends reflektiert. Während Fassbinder 1973 tief in die Trickkiste der Filmeffekte griff, verkörpern die Spieler hier die Avatare selbst. Das wirkt in Zeiten digitaler Theaterformen höchst unausgereift. Trotz starker Momente überzeugt Plathes visuelles Konzept nicht. Umso mehr reißen Songs und Klangeffekte das Publikum mit. Für das Ensemble, das lustvoll musiziert und gar in die Rolle einer Schildkröten-Band schlüpft, gab es am Ende standing ovations.

 

Welt am Draht
Österreichische Erstaufführung.
nach dem Drehbuch von Rainer Werner Fassbinder und Fritz Müller-Scherz, nach dem Roman "Simulacron-3" von Daniel F. Galouye
Einrichtung für die Bühne und Songtexte: Niklas Ritter
Regie: Niklas Ritter, Bühne und Lichtdesign: Norman Plathe, Kostüm: Ines Burisch, musikalische Leitung und Komposition: Jan Kersjes, Dramaturgie: Ralph Blase.
Mit: Felix Defer, Johannes Trick, Stefan Hartmann, Katharina Uhland, Nicolas Garin, Jan Kersjes, Luzian Hirzel.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

landestheater.org


Kritikenrundschau

"Sie haben nur Theater gespielt, und zwar super gut", berichtet Christa Dietrich in den Vorarlberger Nachrichten (online 5.10.2018). Niklas Ritters Inszenierung schöpfe "ihre Qualität aus Mitteln des Theaters". Was ihr "Güte verleiht, ist ein ganzes Repertoire an Möglichkeiten und Appropriationen, die Ritter mit seinem Team um Felix Defèr, Johannes Frick, Stefan Hartmann, Katharina Uhland, Nicolas Garin, Jan Kersjes und Luzian Hirzel ausschöpft, ohne sich zu verheddern."

"Ein großartiges Theaterstück, dem nichts fehlt", hat Lisa Kammann gesehen und schreibt in der Neuen Vorarlberger Tageszeitung (6.10.2018): "Die Kombination von einer brennend aktuellen Thematik, Tiefe, Emotionen, Humor und Intelligenz machte den Premierenabend aus, der das Publikum begeistert zurückließ – und wohl auch nachdenklich." Denn selbst wenn hier "gut und gerne in die Komik-Trickkiste gegriffen" werde, wirke am Ende doch "eine beunruhigende Erkenntnis nach – das Bewusstsein, dass ein düsterer Sciene-Fiction-Roman aus den 60er-Jahren die große Problematik unserer Zeit voraussagte (…), die Gefahr (...), wie in einer digitalisierten Welt die grenzenlose Datenansammlung missbraucht werden kann".

Anna Mika ist in der Vorarlberg-Ausgabe der Kronen Zeitung (11.10.2018) ganz angetan von diesem Theaterabend, an dem trotz der "kalten" Welt der Informationstechnik "dennoch zentral Menschliches verhandelt" werde. Man erlebe "eine berührende Geschichte", Niklas Ritter "und sein Ausstattungsteam" sprühten "nur so vor brillanten Ideen", Jan Kersjes habe "tolle Musik geschaffen", und alle Darsteller legten "auf der Bühne artistische Fähigkeiten an den Tag".

Raimund Jäger schreibt im Bregenz Blättle, Auflage knapp 40.000, die Inszenierung von Niklas Ritter mache Spaß, "nicht zuletzt dank einem sichtlich freudig aufspielenden Ensembles". Die Story sei "natürlich hanebüchen", das Ganze wirke, trotz Überarbeitung des originalen Fassbinder-Drehbuches, nostalgisch. Mit "Stilmitteln aus anderen Genres bis hin zu Artistik und Zauber-Einlagen" werde die Handlung "permanent gebrochen". Musik sorge für weitere "Auflockerung". Dass dieses "düstere Thema" zu einem "derart unterhaltenden und kurzweiligen Abend" geraten sei, sei eine erste Sternstunde für die neue Intendantin Stephanie Gräve.

 

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