Ein Leben gegen die Wand

von Steffen Becker

Heilbronn, 6. Oktober 2018. "Diese Momente, in denen ich darauf gewartet habe, dass mein Leben beginnt. Da habe ich nicht auf mein Leben gewartet, das war mein Leben." Sagt die Mutter zu ihrer Tochter Harper Regan, der Titelfigur im Stück des englischen Erfolgsautors Simon Stephens. Diese Harper – in Heilbronn auf die Bühne gebracht von Uta Koschel – erkennt sich in den Sätzen wieder. Zum Zeitpunkt des Gesprächs liegen allerdings bereits einige Momente hinter ihr, in denen sie nicht einfach nur gewartet hat.

Erdrückende Bilder

Die unscheinbare Frau, die mit einem uninspirierenden Logistik-Job die Familie über Wasser hält, hat einem Mann ein abgebrochenes Glas in den Hals gerammt. Mit einem anderen hat sie sich übers Internet zum Sex verabredet – um ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Was auf dem Papier klingt wie die knallige Flucht einer "desperate working mom" ist in Wahrheit ein Kratzen am Panzer um die Seele der Hauptfigur. Die Inszenierung von Uta Koschel findet dafür ein im wahrsten Sinne des Wortes erdrückendes Bild. Ein Betonquader nimmt fast die ganze (Dreh-)Bühne ein (Ausstattung: Tom Musch). Die (kargen) Requisiten der Familienwohnung, von Harpers Arbeitsplatz und anderen Schauplätzen kleben flach an den Wänden. Die Figuren bewegen sich wie abgedrängt und auf nur einer Linie. Die Zwänge im Leben der Harper Regan lassen nur wenig Spielraum.

Harper 9 560 Thomas Braun uMalin Kemper und Judith Lilly Raab (als Harper Regan) in Tom Muschs Bühnenbild
© Thomas Braun

Das ändert sich auch nicht, als ihr Vater im Sterben liegt, der Arbeitgeber ihr nicht freigibt und sie trotzdem zu ihm fährt (aber zu spät kommt). Weder die Gewalt gegen einen aufdringlichen Typen in der Bar noch der Seitensprung mit einem Fremden bringen die Betonwand zum Bröseln. Judith Lilly Raab spielt ihre Harper verhuscht; auch bei Gewalt, Diebstahl und Sex agiert sie mechanisch – als müsste sie genauso funktionieren wie in Job und Familie. Das passt insofern zur Inszenierung, als dass Regisseurin Koschel durch Doppelbesetzungen dafür sorgt, dass ihre Harper immer an den gleichen Männertyp gerät. Ehemann und One-Night-Stand spielt Tobias Weber mit passiver Aggressivität unter freundlicher Fassade. Botschaft dieses Besetzungskniffs: Was oberflächlich wie ein Ausbruch erscheint, führt Harper doch nicht aus der Sackgasse ihres Lebens.

Scham, Angst, Reue

Die Stärke von Simon Stephens' Stück liegt gerade darin, dass sich die Tragödie des Lebens in den banalen und nicht den dramatischen Momenten zeigt. Und in der Ambivalenz des Figurentableaus. Harpers Ehemann Seth ist arbeitslos, weil er heimlich kleine Mädchen fotografiert hat. Ob sie ihm noch vertraut, ist für Harper eine Kernfrage. Gleichzeitig erfährt man in Koschels Inszenierung wie beiläufig, dass sie einem 17-jährigen Mitschüler ihrer Tochter nachspioniert. Diese Tochter (gespielt in einer gelungenen Mischung aus klug und pubertär von Malin Kemper) changiert in ihrem Verhalten wiederum zwischen Familie zusammenhalten und Egoismus. Es gibt in dieser Geschichte keine Helden, nur ein Gebräu aus Scham, Angst und Reue.

Harper 19 560 Thomas Braun uIn Harpers Garten Eden: Tobias D. Weber, Malin Kemper, Judith Lilly Raab © Thomas Braun

Eine echte Gefühlseruption, all das abzuschütteln, erreicht Harper erst im Gespräch mit ihrer Mutter an einem Wäscheständer. Raab zeigt dem Publikum dabei, wie es in ihr arbeitet. Prompt hat sich in der Betonwand beim nächsten Dreh des Würfels ein Spalt aufgetan. In der Schlussszene öffnet sich das graue Innere – und Koschel zeigt uns ein Trugbild. Eine kitschige Gartenszene mit Obstbaum und Frühstückstisch. Harpers Ehemann tastet sich an eine (im Zusammenhang der Geschichte) völlig unrealistische Vision eines Landlebens außerhalb Londons heran. Ein Happy End wird wohl Utopie bleiben. Koschel serviert diesen desillusionierten Blick auf menschliche Entwicklung und Beziehungen in einer unaufgeregten und gleichzeitig umso schmerzlicheren Anmutung.

 

Harper Regan
von Simon Stephens
Deutsch von Barbara Christ
Regie: Uta Koschel; Ausstattung: Tom Musch; Dramaturgie: Sophie Püschel.
Mit: Judith Lilly Raab, Tobias D. Weber, Malin Kemper, Sabine Unger, Frank Lienert-Mondanelli, Sven-Marcel Voss, Anjo Czernich.
Dauer: 2 Stunden 25 Minuten, eine Pause

www.theater-heilbronn.de

 

Kritikenrundschau

"Ein großartiger Abend voller Gefühle, ohne Kitsch und falsche Sentimentalität, aber mit viel Feingefühl und unverblümten Blicken in die Seele dieser Frau", beschreibt Arnim Bauer von der Ludwigsburger Kreiszeitung (8.10.2018) die Aufführung. Judith Lilly Raab zeichne ihre Rolle wunderbar intensiv, zwischen Zerbrechlichkeit, einer gewissen Scheu vor sich selbst, aber auch mit einer Entschlossenheit, die man dieser vom All- tag gezeichneten Figur kaum zutraue. "Großartig, hohe Schauspielkunst!"

Claudia Ihlefeld von der Heilbronner Stimme (8.10.2018) sah "ein beklemmendes Kammerspiel über gängige Lebenslügen". Koschel führe in raschen Schnitten ein Stationentheater vor und seziere Stephens’ hyperrealistische Sprache. Sie "verdichtet, was unsere vermeintlich emanzipierte Gesellschaft lebt".

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