Mehr als nur Theater

von Maximilian Sippenauer

München, 6. Oktober 2018. Der große Irrtum des Klassizismus bestand in der Annahme, dass die Antike in hehrem Weiß geleuchtet habe. So marmorn, erhaben, apollinisch. Auch wenn heute jeder weiß, dass diese Vorstellung Quatsch ist, haftet sie nach wie vor als Stigma einer ebenmäßigen Heiligkeit an allem Altgriechischen, am meisten aber an unserem Verständnis von antikem Theater. Wenn Nils Kahnwald für seinen Prolog zu Christopher Rüpings Antikenprojekt in Jeans und Pulli auf die Bühne tritt, sich eine Zigarette ansteckt und auf eine Raucherbank verweist, wo es auch jedem Zuschauer gestattet sei, während des Stückes szenisch zu rauchen, dann tut er das, um diese Ehrfurcht vor den marmorverstaubten Versen ganz schnell loszuwerden.

Im alten Griechenland seien die dionysischen Festspiele fünftägige Gelage gewesen, mit freiem Wein und Bezahlung für den Verdienstausfall. Mit diesem Verständnis solle man die kommenden zehn (!) Stunden angehen. Und wenn man das akzeptiert, dann funktioniert der Tag, den man von Mittag bis Spätabend an den Kammerspielen verbringt, tatsächlich wunderbar.

dionysos2 560 julian baumann uDie Möglichkeit einer Liebe auf Jonathan Metz' Bühne © Julian Baumann

Rüping organisiert "Dionysos Stadt" nach antikem Vorbild als drei abgeschlossene Stücke samt Satyrspiel. Er inszeniert dabei keine der klassischen Tragödien, sondern vermischt verschiedenste Texte zu einem thematischen Dreiklang. Es geht um Prometheus, den Untergang Trojas sowie die Orestie, diese nie enden wollende Vendetta aus Vater-Mutter-Bruder-Tochter-Morden im Hause der Atriden. Jeder dieser rund zweistündigen Teile hätte eine eigene Besprechung verdient; hier nur ein paar exemplarische Schlaglichter: Die Qualen des blitzgescheiten Prometheus, der als Strafe dafür, dass er den Menschen das Feuer und so ein Stück Autonomie geschenkt hatte, für Jahrtausende an den Kaukasus gefesselt ward, erzählt Rüping, indem er seinen von Benjamin Radjaipour gespielten Helden in einem Käfig über der Bühne baumeln lässt, unter dem blöd blökende Schauspieler mit übergeworfenen Fellen über die Bühne krabbeln.

Der Troja-Teil, der Gewaltakt im buchstäblichen Sinne, reduziert die "Ilias" auf Militärparaden und Heldenkämpfe. Protagonist ist das Schlagzeug, an dem Matze Pröllochs inmitten der weißleuchtenden Mauer Trojas sitzt und die größte Schlacht der Literaturgeschichte in sinnloses Lärmen transponiert. Während die Orestie als Farce, nämlich in Form einer Sitcom, in komplett unangestrengter Art und Weise abgehandelt wird.

Stage diving als Schicksal

Es geht also um Gewalt, um das Feuer, das Prometheus einst heilsbringend andachte, das der Mensch aber zum Vernichten von Städten und Familien nutzt. Es geht um den Verfall des Menschengeschlechts, vor allem aber um das Motiv des Schicksalhaften. Dieses Ausgeliefertsein an einen höheren Plan inszeniert Rüping am cleversten. Etwa wenn Kahnwald in seinem Prolog, der ja nur Organisatorisches und ein paar Eckpunkte ankündigen will, prophezeit, dass es irgendwann stage diving geben werde, man aber dann doch völlig überrascht ist, wenn er und Wiebke Mollenhauer nach einer Goethe-Ballade in die Menge hüpfen. Das kommt der originär griechischen Erfahrung eines Orakelspruchs, der sich erfüllt, schon sehr nahe.

dionysos1 560 julian baumann uWiderstand ist zwecklos: Wiebke Mollenhauer © Julian Baumann

Solche Momente sucht Rüpings Projekt: spezifisch antike Theatererfahrungen, die nur dann einsetzen, wenn man sich diesem Ort über eine gewisse Zeit und in einer gewissen Art ausliefert. Dionysos Stadt forciert das, was Nietzsche als Rausch bezeichnete und wonach Wagner seinen Opernbegriff konzipierte, nur ohne alle Intellektualismen und schwülstiges Pathos. Wie genial das sein kann, zeigt das Satyrspiel am Ende. In der Antike sollte man dort nach all den Tragödien entspannen. Rüping übersetzt dies ganz prosaisch ins heute, indem er den trivialen Erzfeind des Theaters auf die Bühne holt: den Fussball. Eine Viertelstunde lang kickt sein Ensemble vor sich hin, bis Kahnwald dazu Jean-Philippe Toussaints herrlichen Essay über die Schönheit und Melancholie von Zidanes Kopfstoß im Finale der WM 2006 verliest.

Standing Ovations

Man könnte "Dionysos Stadt" vorwerfen, dass es mitunter zu poppig oder am Ende zu kitschig sei und dass überhaupt die eine oder andere Meta-Ebene mehr nicht geschadet hätte. Aber so eine Kritik wäre nicht nur kleinkariert, sondern übersähe das Wesentliche. Dieses Projekt will primär keine Aufbereitung antiker Stoffe für die Jetztzeit sein, sondern ist eine Formstudie, interessiert am Geist des Theaters, an diesem spezifischen Modus des Erlebens, der beweist das Theatersehen Rausch sein kann. Wenn es nach zehn Stunden, in denen kaum jemand gegangen ist, weitere zehn Minuten Standing Ovations gibt, dann haben Rüping und sein Team dabei sehr viel richtig gemacht. "Dionysos Stadt" ist nicht nur ein Stück, das man sehen sollte, sondern sich auch gut zweimal anschauen kann.

 

Dionysos Stadt
unter Verwendung diverser antiker Texte
Inszenierung: Christopher Rüping, Live-Musik: Matze Pröllochs, Bühne: Jonathan Metz, Kostüme: Lene Schwind, Dramaturgie: Valerie Göhring, Matthias Pees, Musik: Jonas Holle, Matze Pröllochs
Mit: Maja Beckmann, Peter Brombacher (Jochen Noch), Majd Feddah, Nils Kahnwald, Gro Swantje Kohlhof, Wiebke Mollenhauer, Benjamin Radjaipour.
Premiere am 6. Oktober 2019
Dauer: 10 Stunden, 3 Pausen

www.muenchner-kammerspiele.de

 

Kritikenrundschau

Die ungewöhnliche Länge der Aufführung fordere zu einer besonderen Art der Gemeinsamkeit heraus. "Es ist als stellte sich durch die gedehnte Zeit eine ungewöhnliche Gegenwärtigkeit im Theater ein und eine besondere Atmosphäre zwischen Bühne und Zuschauerraum", so Sven Ricklefs im Bayerischen Rundfunk und im Deutschlandfunk (7.10.2018). "Da ist viel heiliger Ernst, da ist aber auch viel heitere Ironie, mit der das achtköpfige wunderbare Ensemble sowohl durch die Antike als auch gleich durch ein ganzes Spektrum von Theaterformen sur ft."

"Eine Riesenleistung", "ein schöner Erfolg für die Kammerspiele, bei dem ein Gefühl der Verbundenheit, ja: Empathie zwischen Ensemble und Publikum mitschwingt", schreibt Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (8.10.2018). "Das Durchbrechen der 'vierten Wand' ist ebenso Teil dieser Inszenierung wie die Ironie, mit der Szenen angegangen und Erwartungen an 'antikes Theater' gebrochen werden." Dies geschehe "nicht präpotent affig oder banal, wie man es bei Christopher Rüping auch schon erlebte, sondern mit feiner Komik im Dienste der Sache, welche erstaunlich ernst genommen wird", so Dössel: "Es geht hier (…) ganz existenziell um den Menschen, um seine Selbstermächtigung, seine Hoheit, seine Ungeheuerlichkeit."

"Rüping ist an einer publikumsfreundlichen Übersetzung in die Gegenwart gelegen. Er will mythologische Momente 'erden'", schreibt Margarete Affenzeller in Der Standard (8.10.2018). "In alldem steckt mindestens genauso viel dramaturgische Raffinesse wie inszenatorische. Mehr noch aber als Deutungsideen überwog an diesem Abend das Gemeinschaftsgefühl einer wohlmeinenden Zuhörerschaft."

"Mensch, Krieg, Schicksal: Rüpings Antikenprojekt verhandelt viel und nicht zuletzt sich selbst", schreibt Teresa Grenzmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (8.10.2018). "So dass den Zuschauern, die stehend applaudieren, wohl auch klargeworden ist: Die heutigen Dionysien finden längst nicht mehr im Theater statt, sondern im World Wide Web. Angesichts des unendlichen Tagesangebots an weltpolitischen Tragödien, Komödien und Satyrspielen sind zehn vielsagende Stunden in den Kammerspielen eine Kleinigkeit von Bedeutung."

"Rüpings Mammutstück ist ein Genre-Remix aus Klamauk, Improvisation, Mitmachspaß und Tragödie, der gut aufgeht, weil er keck viele Genres mischt", schreibt Annette Walter in der taz (10.10.2018). Das Ensemble gehe voll in dem Stoff auf, agiere stellenweise manisch-exzessiv, dann aber wieder reflektiert und eindringlich.

"Erstklassig" fand den Abend beim Theatertreffen Jan Küveler von der Welt (22.5.2019) und schließt nach einer Zusammenfassung des Gezeigten: "Es war alles sehr sympathisch, eine Art Castorf für die Generation Y."

 

Kommentare  
Dionysos Stadt, München: in 20 Jahren
Lilienthal hat in einer Abokonferenz einmal (sinngemäß) gesagt, er würde wünschen, dass man sich an manche Stücke noch in 10, 20 Jahre erinnert und dabei das elitäre Gefühl genießt, dabei gewesen zu sein. Damals bezog er sich auf "Caspar Western Friedrich". Für mich wird es "Dionysos Stadt" sein, bei dem ich in 20 Jahren noch leuchtende Augen bekommen werde (sofern ich da noch lebe, denn Nils Kahnwald hat uns ja anfangs auf unsere Vergänglichkeit hingewiesen...) Unglaublich gut, auch kitschig, poppig, laut, aber so mitreißend. 10 Stunden, die ich sofort wiederholen würde. Ein Geschenk für diese Stadt, die Lilienthal leider nicht genug zu schätzen wußte.
Dionysos Stadt, München: das große Missverständnis
Ja, ich stimme "Filo" und Herrn Sippenauer zu, die gestrige allgemeine Begeisterung und die Standing Ovations waren absolut berechtigt. Rüping ist gegenwärtig einer der bemerkenswertesten RegisseurInnen.
Nur: "Caspar David Friedrich" war inhaltlich und formal schrecklichster Unsinn. In den letzten Jahren gab es an den Kammerspielen leider viel Lehrlauf, Theaterfremdes wie Konzerte (müssen die tatsächlich subventioniert werden, gehören die nicht in die Muffathalle?), Banales, zudem erstaunlich viel Veraltetes (SheShePop, Rimini Protokoll, etc. - kannten wir doch in München schon alles).
Besonders ärgerlich war, dass man in München spätestens seit der Intendanz von Frank Baumbauer alles an Innovationen präsentiert bekam, was das deutschsprachige Gegenwartstheater zu bieten hatte - Lilienthal und sein Team aber ständig zu behaupten schienen, dass sie nun den Münchnern als unwissende Eingeborene mit Innovationen erst bekannt machen müssten.
Das war und ist wohl immer noch das Riesenmissverständnis!
Christopher Rüping war und ist jedoch die wirklich spannende Innovation - daher wird Rüping als die(!) Errungenschaft der Intendanz Lilienthal in Erinnerung bleiben.
Dionysos Stadt, München: Neuentwicklungen
Ich stimme „Nachtrag“ nicht zu. Zu sagen, SheShePop und Rimini Protokoll „kannte man doch“, greift m. E. etwas kurz. Sie machen ja schließlich auch weiter, entwickeln neue Dinge! Dass sie Newcomer wären, hat Lilienthal ja nicht behauptet. Etwa „Unheimliches Tal“ derzeit ist so eine Neuentwicklung! Sie ist alles andere als „banal“ oder „veraltet“. Alles Geschmacksache, aber besonders Caspar Western Friedrich konnte ich offenen Geistes mehrfach sehr genießen.
Dionysos Stadt, München: ein Erlebnis
Premiere 6.10.2018 Kammerspiele. Christopher Rüping

Die Kammerspiele in München eröffneten die neue Spielzeit im großen Haus mit einer fulminanten Inszenierung des Hausregisseurs Christopher Rüping. Vier Stücke an einem Tag mögen auf den ersten Blick so manchen abschrecken, zu unrecht. 10 Stunden Theater, unterbrochen durch ausreichende Pausen, schaffen ein Erlebnis, das tatsächlich einem Rausch gleichkommt. (Wie haben sich da wohl die "alten Griechen" gefühlt nach einer ganzen Woche Theater?) Fesselnd, unterhaltsam, mit Tiefgang und Ernsthaftigkeit wird der Zuschauer geradezu hineingesogen (verführt?!)und ist phasenweise aktiv am Geschehen beteiligt. Dabei geht es um elementare Fragen des Lebens, um das Verhältnis zwischen Menschen und Göttern. Angelehnt an antike Tragödien werden mit modernen Stilmitteln die Themen "Die Erfindung des Menschen", "Der erste Krieg", "Das Zerstören der Familie" behandelt. Das abschließende Satyrspiel schlägt den Bogen zur Gegenwart. Wie geht es dem Menschen ohne Götter? Welche Helden gibt es heute noch? Über den Inhalt soll nicht zu viel verraten werden. Dem Regisseur und dem hervorragenden Ensemble gelingt es die Entwicklung und die Tragik der Handlung/en sehr erlebbar zu machen. Die vielen "Zwischenböden" und ironisierenden Anspielungen einer zehnstündigen Vorstellung können nicht berichtet werden. Der Abend war ein Theatererlebnis, das lange in Erinnerung bleiben wird. Standing Ovations, Jubel, Begeisterungsschreie. Ich habe sowas vorher noch nicht im Theater erlebt. Die Karte für ein zweites Mal ist schon gekauft. Nicht verpassen!
Dionysos Stadt, München: Sternstunde
Ich war am Sonntag da und bin heute morgen noch mit Bildern aus der Inszenierung im Kopf aufgewacht. Die Altvorderen erzählen ja immer wieder von legendären Inszenierungen, die leider schon vor Jahren abgespielt wurden. Und jetzt war ich selber bei einer dieser Sternstunden des Theaters dabei und kann in 20 Jahren den Jüngeren davon erzählen. Das wurde mir beim "Applaus" (nennt man diesen frenetischen Jubel noch "Applaus"?) bewusst. Als der Zuschauer die 50 Euro partout nicht annehmen wollte sondern einfach nur den Schauspieler in den Arm nehmen wollte... Ich habe ihn gut verstanden.
Dionysos Stadt, München: Wundertüte
„Dionysos Stadt“ ist eine große Wundertüte. Zu allererst ist es eine ironische Verbeugung vor dem antiken Theater. Wie uns Nils Kahnwald als Conferencier des Abends in Jeans und Pulli erklärt, orientiert sich auch dieser lange Theatertag an der Grundstruktur der dionysischen Festspiele: er besteht aus drei Tragödien und einem Satyrspiel, allerdings ohne die obligatorische Abstimmung über den Sieger des dramatischen Agons, wie es bei den alten Griechen üblich war.

Vor allem ist „Dionysos Stadt“ aber ein wilder Mix verschiedener Formen. „Dionysos Stadt“ ist ein Abend, der seinem Publikum ständig zuruft: „Ich bin etwas Besonderes, ich muss zum Theatertreffen.“In der von Rüping gewohnten Spiel- und Inszenierlust trifft hier von heftigem Wummern unterlegtes Videoflimmern auf ganz stille Momente. Eine glänzend gespielte Farce, die Telenovela-Genremuster parodiert, dreht im dritten Akt die gesamte Atriden-Trilogie respektlos und äußerst komisch durch den Reißwolf: der Höhepunkt dieses Marathons. Scheinbar unmotiviertes Rumkicken mündet in einen langen, melancholischen Schlussmonolog über Zinedine Zidane, eine tragische Figur des Weltfußballs, der sich im WM-Finale 2006 zu einem Kopfstoß provozieren ließ, mit Roter Karte vom Platz gestellt wurde und die Niederlage seines Teams von außen mitansehen musste. Eine Nackt-Performance á la Lars Eidinger steht neben kitschig-versonnenem gemeinsamen Blick in den Sonnenuntergang.

Diese außergewöhnliche Arbeit scheut sich auch nicht vor Längen und bedient sich auch gerne bei der Kleinkunst: der Gag, dass Zuschauer am Bühnenrand mitqualm unden dürfen, war schon bei Rainald Grebe zum Abwinken. Als Kopie wird er nicht lustiger, sondern sorgt nur für Gestank im Haus.

Den Zuschauer*innen wird – getreu dem mehrfach zitierten antiken Motto „Tun – Leiden – Lernen“ – auch sonst einiges abverlangt. Wie sehr wünscht man sich da ins Dionysos-Theater am Fuß der Akropolis: die steilen Ränge des klassischen Amphitheaters garantieren den Luxus der Beinfreiheit und gute Sicht ohne Verrenkungen von allen Plätzen, wenn vorne die Spieler*innen als (ziemlich alberne) Schafherde durch die Prometheus-Szene des ersten Aktes blöken. Auch die kulinarische Auswahl in den Pausen war bei den antiken Dionysien sicher weniger spartanisch: wer nicht vorab ein teures Menü reservieren wollte oder selbst etwas mitgebracht hatte, durfte sich in der Winterkälte in der langen Schlange vor einem Truck einreihen, der zwei Falafel-Sorten im Angebot hatte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/12/30/dionysos-stadt-munchner-kammerspiele-theater-kritik/
Dionysos Stadt, München: Brücken und Wurzeln
Der Ausweg ist ein künstlicher – aber eben ein theatraler. Und genau darum geht es diesem Abend primär: Um eine Hinterfragung des Theaters, seiner Mittel, seiner Erzählweisen. Wo sind die Verbindungen zu den vergessenen Wurzeln, was eint das Damals und Heute, das antike Theater und unseres, was trennt es, wo sind die Brücken? Diese sucht Rüping immer wieder. Das Verhältnis zwischen Gespieltem und Spielsituation ist ein fragiles, es kippt mal in die eine, mal in die andere Richtung und bleibt doch oft in einer Art Zwischenraum. Das Licht- und Feuermotiv kehrt immer wieder zurück – meist als Bote der Zerstörung, ganz am Ende in einem überirdisch kitschig schönen Sonnenaufgang als lebensspendende Vision. Zuvor entfaltete sich die reinigende Kraft des puren Spiels: Auf einem Fußballfeld wetteifern die Spieler, zunächst in Saturkostümen, später nur noch in Socken. Das Licht verliert an Kraft, Kahnwald referiert Jean-Philippe Toussaints Text über die Melancholie des Fußballstars Zinedine Zidane. Das Spiel stockt, die Zeit steht still. Zeit zum Innehalten, Zeit zur Trance, musikalisch begleitet von Pröllochs, zum In-sich-Gehen, zum Durchbrechen des Kreislaufs. „Was hat das mit Dionysos zu tun“, fragt dieser Teil. Nichts. Alles. Der Weltverlust im Traum ist ein dionysischer, ein reinigender, Schmutz wegspülender. Einer, der den Blick in die aufgehende Sonne zum Neuanfang macht, zur friedlich gemeinschaftlichen Tabula Rasa, die Spieler*innen und Schauende eint. Das Licht war Ende und ist wieder Anfang. Wie das Theater. Immer. Dieses ist beides, ist Bewegung und Stillstand, Leben und Tod, Erfolg und Scheitern, Rausch und Langeweile, Erleben und Behauptung. All das. Welt. Leben. Mensch. Genug.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/12/30/welt-leben-mensch/
Dionysos Stadt, München: Surtitles?
Nothing short of spectacular, deeply moving and disturbing in the most beautiful way. Go there. But can someone explain to me why they didn't put up surtitles in the 3rd part? I mean, my Deutsch ist ok, so ich konnte meistens verstehen - but I was wondering anyways...
Dionysos Stadt, München: Explanation
The third part is improvised. A summary of this "Orestie"-parody is provided.
Dionysos Stadt, München: 15 Anmerkungen
1. Besucher mit Herzschrittmachern oder Implantaten sollten die Theaterleitung über gesundheitliche Risiken befragen. Die Akustiker fahren - wumm, wumm, wumm - die Leistungsfähigkeit ihrer Anlage zu voller Dröhnung. Ohropax nicht vergessen!
2. Die Häppchen sind gut, aber man muss schnell sein. Es empfiehlt sich, Randsitze zu buchen. Satt wird man davon nicht, weil rasant weg.
3. Falafel im Hof: Lange Schlange, schmale Tüte, wenig Speisung.
4. 16 Euro für 10 Stunden Theater! Plus Imbiss! Preis pro Minute: Exzellent! Dank an den Steuerzahler!
4. Einmal bin ich eingeschlafen, bei irgendeinem Monolog. War’s Prometheus? Zieht sich ewig.
5. Mehrmals kamen mir die Tränen. Obwohl nur gespieltes Leid, trifft mich die Wahrheit darin.
6. Sofort bekam ich Lust, wieder Homer zu lesen; den Kindern zumindest Auguste Lechner reichen.
7. Theater als Aufklärungsanstalt hat schon bei den antiken Griechen nicht funktioniert. Lilienthal überschätzt die Fähigkeit der Münchner zur Katharsis vollkommen; er probiert es aber immer wieder. D.S weicht davon erfrischend ab: Keine Seehofer-/Söder-Watschn, kaum Migrations-Thematik, keine Aufrufe zur Revolution und keine Zuschauerbeschimpfung oder -belehrung.
8. Dafür keine Inszenierung, in der nicht irgend was Arabisches doppelt ins Deutsche übersetzt werden muss, mündlich und per Display. Vielleicht sollte man den ganzen Kasten umbenennen in InternationalMunichChamberGames, sponsored by BMW. Und künftig auf Chinesisch setzen.
9. Es wird zumeist tatsächlich schaugespielt, also das, was man sich ganz altmodisch unter Theater vorstellt. Das junge Publikum kennt das wahrscheinlich gar nicht mehr. Deswegen ist D.S. nicht nur eine Zeitreise in die griechische Antike, sondern auch eine in die Historie der dramatischen Kunst.
10. Es ist ein unendlich trauriger Abend. 3000 Jahre Menschheitsgeschichte vollkommen vertan. Diese antiken Mythen müssten völlig überholt sein, bis zur Unaufführbarkeit unverständlich; sie sind unerträglich aktuell.
11. Es wäre aptudate, auf der Bühne nur E-Zigaretten zu erlauben, statt Feinstaub bis hinter in die letzte Reihe zu verschweben.
12. Ein Abgesang. Der Monotheismus hat versagt, der Polytheismus auch. Was rettet uns? Nichts. Doch:
13. Fußball unser. Einzige Hoffnung.
14. Ich verstehe dieses Geklatsche nicht. Bei einer Beerdigung, da mag der Pfarrer noch so schön gesprochen haben, applaudiert ja auch keiner. Warum im Theater? Das heißt ja, ich habe das Ganze nicht ernst genommen.
15. An Nils Kahnwald: Warum sollte ich mich an diese Aufführung in 10/50/100 Jahren erinnern wollen? Ist nicht das unselige Speichervermögen unseres Gehirns, dieses beständige Leben und Abgleichen in und mit der Vergangenheit, der zentrale Verursacher jedweden Schlamassels? Bin ich meine Erinnerungen? Wenn ja, was heißt das?
Dionysos Stadt, München: Nachtvorstellung
Dionysos Stadt/Nachtvorstellung 20 Uhr bis 6 Uhr, 8. Februar

1. Viel, sehr viel, praktisch ausschließlich junges Besuchertum. So eine Nachtvorstellung ist die perfekte Selektionsschranke gegenüber dem ungelittenen alten Publikum weißer Abo-Männer und weißer Abo-Frauen. Ein Drittel der Gäste waren bestimmt Schüler und Schülerinnen um die 17, die direkt von der ‚Rettet die Bienen‘-Demo herüberkamen. Nachteil Notarzteinsatz: Leider steigt mit dem späten Abend auch die Gefährdung für das eigene Personal.

2. Die Bühnenarbeiter, denen die Küche um halb Zwei noch frischen Schweinebraten kredenzt, merken kritisch an, dass mit fortschreitendem Nachteinsatz sich auch die Fehler häufen würden und allzu oft dürfe man so eine durchspielte Nacht nicht veranstalten.

3. Intendant Lilienthal durchstreift das Foyer und würde ich mich trauen, könnte ich ihn ansprechen und ihm für das Frühstück danken, Kaffee, Brezn, Croissant, Mandarinen. Sehr schöne Geste. Der Cappucino in den Pausen war auch umsonst.

4. Vier verschiedene Stücke von immerdenselben Schauspielern hintereinander gespielt erlauben einen unerhörten Eindruck in menschliche Wandlungskunst. Da ist diese Kassandra, deren Spiel - ist das noch Spiel? - mich zu Tränen rührt. Oder Klytämnestra, die eine knallige Farcefigur hinlegt, aber darunter eine Verzweiflung zeigt - und man sieht das in Großaufnahme auf der Leinwand - so still, so wahrhaftig, dass ich mich frage: Was eigentlich ist an mir echt; und darüber keine Ruhe mehr finde. Ich sage mir, das ist alles falsch da oben, das ist alles nur gespielt, hinterher gehen die duschen und legen sich ins Bett. Ich glaube, dass das Bühnenleid wirkmächtiger ist als das real erlebte, einfach deshalb, weil es nicht mit Fremdmotiven unterlegt ist, sondern - sozusagen - rein, kondensiert, geläutert. Ich sitze dann da unten, schaue nach oben und denke mir, das alles ist Fiktion, aber: So ist es. Verdammt, verdammt, verdammt.

5. Manche Stücke schaue ich zuerst allein an, dann mit den Kindern und später gar mit Freunden oder der ganzen Familie. Manche Stücke sehe ich deshalb zwei-, drei-, gar viermal, ‚Hamlet‘ etwa. Das ist nicht ungefährlich. Anfängliche Begeisterung verfällt womöglich in Ratlosigkeit. ‚Dionysos Stadt‘ aber war mir jetzt in der Wiederholung eine Einladung, dieses ganze Ding nicht dem bloßen Sehen, also einem Nachverfolgen von Handlung preiszugeben, sondern wie nach Jahren die Wiederbegegnung mit einer verflossenen Liebe: Also ein Hineinhorchen in sich selbst, was da an Gefühlen und Ge- und Berührtheit noch vorhanden ist und belebt oder endgültigem Schlummer anheimgegeben werden will.

6. Dieses endlose Fußballspiel ist ein echtes Einschlafteil und zerstört, finde ich, den ganzen Zyklus. Es ist eine Zwangsüberführung des Zuschauers in sein Alltags-Erleben, indem das ‚gute‘ Schau-Spiel durch furchtbar ‚schlechtes‘ Fußball-Spiel gebrochen wird. Diesen Übergang hätte ich gerne alleine mit mir selbst in eigener Zeit und eigener Alltagsannäherung bewerkstelligt.

7. Ich weiß nicht, vor welche logistischen Schwierigkeiten solch eine Nachtvorführung die Kammerspiele stellt; ich merke auch, bin ja keine 17 mehr, zwar weiß, aber noch nicht sooo alt und auch ohne Abo, dass so eine durchgemachte Nacht mittlerweile doch schon einige leidliche Nachwirkungen und Irritationen mit sich bringt, aber ich würde doch anregen, so was zu wiederholen. Nicht zu oft; bloß nicht verregelmäßigen! Aber ich glaube, dass sich in dieser mitternächtlichen Intimität einer Begegnung von Schauspieler und Zuschauer in gewisser Weise diese Rollentrennung aufhebt und eine seltsame Übereinkunft entsteht, eine Teilhabe an einem Gemeinsamen, gleich ob die einen da oben, die anderen da unten. Darin ist der Anflug eines Segens. Gerade in tiefster Nacht.
Dionysos Stadt, München: verdutzte Frage
Bin ich der einzige hier, der nach einem starken ersten Prometheus-Teil nur noch ideenlosen, aufgeblasenen Kitsch gesehen hat?
Dionysos Stadt, München: Lesetipp
Sehr geehrter/geehrte L,

so ist das wohl.

Ein Tipp: Die Zeit 1958 „Was ist Kitsch?“
Dionysos Stadt, TT Berlin: nicht allein
Sehr geehrte L. und I.W.,

Die Person L. ist mit ihrer/seiner Sicht auf die Inszenierung nicht allein auf der Welt... Nur dass ich auch den ersten Teil nicht als besser empfunden habe.
Dionysos Stadt, Theatertreffen: vielseitig, klar, präzise
Sehr geehrter Herr L und sehr geehrter Herr Wrobel,

haben Sie wirklich 9 1/2 Stunden durchgehalten, um zu diesem vernichtenden 1-Satz-Urteil zu gelangen? Das würde ich unter dem Krankheitsbild "Masochismus" einreihen...
Oder sind Sie (ehrlicherweise) doch früher gegangen? Dann sollten Sie solche 1-Satz-Kommentare einfach nicht schreiben...

Beim gestrigen Berliner Theatertreffen waren um 23:30 (Beginn der Vorstellung war 14:00) ungefähr 90 % des Hauses noch da und bei Weitem die Mehrheit stand auf für 10 Minuten Standing Ovations.
Natürlich muss die Mehrheit nicht "Recht" haben - aber darum geht es ja wohl bei einer künstlerischen Produktion ohnehin überhaupt nicht.

Was also bleibt (ich denke für die meisten Zuschauer*innen unbestritten):
- eine vielseitige Aufführung, in deren Mittelpunkt die antiken Erzählungen (in verschiedenen Übertragungen und Übersetzungen) stand, Erzählungen, die die grundsätzlichen Fragen des Mensch-Seins betreffen
- eine wunderbare Klarheit der Texte (zwischen Aischylos und Heiner Müller)
- eine ungeheuer präzise gedankliche, formale und theatrale Ausgewogenheit zwischen Tragödie und Komödie
- ein Abend, der viel Raum zum selber Nachdenken ließ und nie oberlehrerhaft wurde
- ein paar misslungene Details (z.B. das unsägliche Video bei der Schlacht Achill-Hektor) - aber wer will denn hier beckmesserisch werden?

Ich war vor einigen Jahren bei Herrn Rüpings Version von DAS FEST sehr enttäuscht und missvergnügt; in meinen Augen war das besseres Studententheater. Gestern aber hat mich dieser Regisseur mit seinen Schauspieler*innen bereichert, beschenkt - und mit mir (wie gesagt) die große Mehrheit des Auditoriums / der Spectatores.

So, lieber Herr L und lieber Herr Castor&Pollux, jetzt nehmt Euch bitte die Zeit und formuliert Eure Kritik etwas präziser. Danke.

Beste Grüße, Hans Piesbergen
Dionysos Stadt, München: Ein Satz Kritik
„So ist das wohl“ bezieht sich nicht auf das Stück sondern auf L, der als einziger die Inszenierung als Kitsch bezeichnet.
Dionysos Stadt, Berlin: ein Satz Kritik
Man darf die Inszenierung durchaus kritisieren, vor allem Troja, das auf unangenehme Weise ausschließlich auf große Geste setzt. Peter Brombacher kann auch einen Schiffskatalog lesen, ohne daß gedoppelt werden muß mit einer Stimme, die signalisiert, jetzt wird es wichtig. Jochen Noch, der inzwischen für Peter eingesprungen ist, kann das auch. Der Applaus am Ende ist auch ein sichselbstfeiern, das passt aber in die Zeit des Mitfeierns, mitdabeisein, meinetwegen noch des Miterlebens (evtl war das in Athen auch so). Es passt aber auch dazu, Kommentare, die schlicht sagen, daß es nichts war, so anzugehen. Dies ist genauso unreflektiert. Noch etwas zur Ästhetik: die große Geste in Troja läuft massiv Gefahr, inkl.. Schlagzeugsolo, in die Ästhetik eines Ulrich Rasche abzurutschen. Intelligentes Theater ist das nicht, aber naja, Theater. Und Christopher Rüping halte ich zu gute, daß er Formate ausprobiert in diesen 10h Theater, bzw. 8h, die Pausen sind ja Pausen.
Dionysos Stadt, Berlin: Berliner Nobilität
Liebe Berliner,
lest die Münchner Kommentare. Sie beschreiben wunderschön, was das für ein Abend war.
Für mich war es ein dionysisches Fest mit vier so unterschiedlich gespielten Dramen, echt theatral, auch kitschig, schön poppig, verspielt, voller Einfälle mit einem großartigen Ensemble.
10 Minuten Standing Ovations von allen 95% der Dagebliebenen und das gleich nach dem ersten Vorhang. So etwas gab es lange nicht mehr beim Berliner Theatertreffen.
Und dann liest man hier, was die Berliner Boheme der Schreiberling-Möchtegerne zu sagen hat, was sie wissen oder zu wissen glauben. Das ist mitunter undankbar, ungerecht bis unerträglich.
Für mich bedeutet Theater, wenn es mir nicht gefällt, gehe ich nach der Vorführung (niemals während) und schweige, weil sich mir dieser Abend aus welchem Grund auch immer, nicht erschloss. Das ist einfach mein Problem, nicht das der Regisseur*innen oder gar der Schauspieler*innen. Das gehört zur Achtung vor der Arbeit des anderen, die sich mir nicht erschloss. Dafür kann der andere nichts. Manchmal gibt es in dieser Ansicht auch eine größere Schnittmenge mit anderen Zuschauern, manchmal auch nicht.
Mich machen diese polternden, überheblichen Zuschauer*innen wütend, die während des Spiels das Theater verlassen und dann auch noch die Türen knallen. Das ist eine unerträgliche Selbstüberschätzung der Egoisten.
Lieben Dank an die Münchner Zuschauer, die sich hier verewigt haben.
Zum Glück war ich in Berlin am ersten Abend dabei und habe das Stück, die gute Pausenversorgung, die übrigens auch zur Inszenierung dazugehört, darum bleiben es für mich 9 1/2 Stunden, plus 30 Minuten Einührung, plus 15 Minuten bis zum Beginn des großartigen Abends plus 30 Minuten Warten auf die Ehrung, die dann auch noch 15 Minuten dauerte, insgesamt also 11 Stunde im Haus der Berliner Festspiele, erleben dürfen.
Von mir auch nur zwei Sätze:
Ich möchte keine Minute missen. Danke an Rüping, an das Ensemble, die Technik, die Jury, an die Berliner Festspiele, an die Münchener Kammerspiele, an die Münchner Zuschauerkommentatoren und an die 95% der Berliner Zuschauer, die diese Inszenierung feierten.
Dionysos Stadt, München: Bekenntnis
Also, ich bin Münchner.
Dionysos Stadt, Berlin: nicht so empfindlich
Mannomann, bei aktuell 19 Kommentaren sind vier dabei, die minimal-invasiv negative Kritik äußern. Darauf so empfindlich zu reagieren, @Olaf, muss man erstmal bringen. Macht Ihnen das den Abend kaputt, wenn statt 100% nur ihre gefühlten 95% jubilieren?

Ich kann sagen, daß ich da mit einigen anderen ein bisschen verloren im Jubel stand, weil so schlecht, daß ich demonstrativ sitzen geblieben wäre, fand ich's nicht. Aber gut war's ab irgendwie Mitte der Hochzeit auch nicht mehr, gutes Konzept und tolle SpielerInnen hin oder her. Ein Ereignis war es aber ganz bestimmt, und ich bin such froh, den Abend gesehen zu haben.
Zu kurz ist mir übrigens bei allen Kritiken der Videoteil von Susanne Steinmassl gekommen, die hier bei nachtkritik ärgerlicherweise nicht mal genannt wird: da wird auf sehr raffinierte Art mit digitalen Mitteln gearbeitet, allein es nervt dann irgendwann doch, weil außer Text-, Bild- und Schlagzeug-Gewitter szenisch so wenig passiert. Trotzdem stark!
Dionysos Stadt, München: nach Troja fort
Der Teil "Troja" ist als Konzert angelegt, wobei ein Schlagzeuger auf der Bühne und gewalttätige Lautsprecher die denkbar grässlichste Musik liefern. Das und eine nachfolgende Szene der männerlosen Troerinnen dauert 2 Stunden, ist (meiner Meinung nach) sehr langweilig und deswegen auch sehr nervig, soll dauernd "aufrütteln", verkneift sich aber auch keinen Gag (der jedesmal mit einem Lacher vom Publikum quittiert wird) und ist schuld, dass ich danach das Haus verlassen habe.
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