Nie wieder Langeweile

von Michael Wolf

9. Oktober 2018. Theater ist ein Glücksspiel. Als Zuschauer gehen wir Abend für Abend Risiken ein. Selbst hochkarätig besetzte Premieren treffen mitunter nicht unseren Geschmack. Mir selbst war oft nach den ersten zehn Minuten bereits klar, dass mich das Bühnengeschehen auch für den Rest der Aufführung nicht mehr interessieren würde.

Scham hinderte mich, den Saal als Störenfried während der Vorstellung zu verlassen. Über die Jahre eignete ich mir stattdessen ein Repertoire an Techniken an, mit denen sich auch der langatmigste Theaterabend unbeschadet überstehen lässt. Sollten Sie bald in einer ähnlichen Situation sein, probieren Sie Folgendes aus:

Verlieben Sie sich

Verlieben Sie sich in eine Schauspielerin oder einen Schauspieler. Nichts wertet eine Vorstellung stärker auf als eine unschuldige Schwärmerei.

Spannen Sie abwechselnd alle Muskelpartien in Beinen und Armen an.

kolumne wolfLutschen Sie ein Bonbon und freuen Sie sich darüber, dass im Dunkeln niemand erkennt, wie blöd Sie dabei aussehen.

Entwickeln Sie Vorfreude auf den Verriss, den Sie am nächsten Tag ganz sicher lesen werden.

Erwägen Sie schon während der Aufführung, welchem Akteur Sie später wie kräftig applaudieren werden.

Versuchen Sie sich zu erinnern, wie es funktioniert, auf den Fingern zu pfeifen.

Ärgern Sie Ihren Sitznachbarn: Erheben Sie Anspruch auf die Armlehne.

Nicken Sie ein. Der Büchnerpreisgewinner und Bundesverdienstkreuzträger Rainald Goetz sagt, Theaterschlaf sei fast noch schöner als Unischlaf. (Nicht für Schnarcher geeignet!)

Machen Sie sich Gedanken erotischer Natur.

Halten Sie die Luft an und stoppen Sie die Zeit.

Zieht sich ein/e Schauspieler/in aus, vergleichen Sie den nackten Körper mit Ihrem eigenen. Kultivieren Sie einen kleinen Komplex.

Husten Sie.

Wenn Sie gehustet haben, schließen Sie eine Wette mit sich selbst ab, wie viele Zuschauer auf Ihr Husten antworten.

Entwickeln Sie einen Hustcode mit einem anderen Zuschauer.

Verlieben Sie sich

Verlieben Sie sich in eine Schauspielerin oder einen Schauspieler. Keine Sorge, haben Sie bereits etwas Erfahrung in der Liebe oder im Theater gesammelt, wird die Leidenschaft zuverlässig kurz nach dem Applaus abebben.

Trinken Sie vor dem Theaterbesuch. Alkohol hebt die Stimmung und fördert das Interesse am Bühnengeschehen. Passen Sie die Dosis an die Länge der Vorstellung an. Übertreiben Sie es nicht; achten Sie aber auch darauf, dass Ihr Alkoholspiegel frühestens zur Pause wieder bei 0,0 Promille liegt. Sind Sie unsicher, besorgen Sie sich ein Blasröhrchen und pusten Sie diskret hinein.

Versuchen Sie im Kopf herzuleiten, warum die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem 23-köpfigen Ensemble zwei Schauspieler am gleichen Tag Geburtstag feiern, bei über 50 Prozent liegt.

Gehen Sie nur mit Menschen ins Theater, mit denen Sie ein romantisches Versprechen verbindet. Fummeln Sie bei Bedarf im Haar Ihrer Begleitung herum.

Denken Sie darüber nach, ob Sie zu Hause den Herd ausgestellt haben.

Steigern Sie sich in den Gedanken herein, den Herd nicht ausgestellt zu haben. Erwägen Sie das Theater nun doch zu verlassen. Es ist schließlich ein Notfall!

Beruhigen Sie sich damit, dass es längst zu spät und Ihre Küche bereits abgebrannt ist.

Denken Sie über neues Mobiliar nach.

Verlieben Sie sich

Verlieben Sie sich in einen Schauspieler oder in eine Schauspielerin. Sorgen Sie sich nicht, dabei als zweifelhafte/r Voyeur/in zu erscheinen. Für niemanden sonst wurde Theater erfunden.

Schlagen Sie doch mal zur Abwechslung das linke Bein über das rechte.

Versuchen Sie sich zu erinnern, wann Sie begonnen haben, Ihre Beine auf diese erwachsene Art übereinanderzuschlagen.

Lachen Sie an Stellen, an denen sonst niemand lacht.

Erfreuen Sie sich daran, dass Ihr Sitznachbar nun sicher darüber nachdenkt, welche Pointe ihm entgangen ist.

Rauchen Schauspieler, suchen Sie nach dem mit Wasser gefüllten Eimer, der aus Brandschutzgründen irgendwo im Bühnenbild stehen muss.

Berechnen Sie den Flächeninhalt der Bühne unter der Annahme, dass ein Schauspieler X 1,80 Meter groß und 40 Zentimeter breit ist und ausgestreckt auf dem Boden liegend 1/7 der Länge und 1/10 der Breite der Bühne besetzt.

Gähnen Sie.

Schließen Sie eine Wette mit sich selbst ab, ob der rechte oder linke Sitznachbar Ihrem Beispiel als erster folgt.

Vor allem aber: Verlieben Sie sich. Das hilft. Versprochen.

 

Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein.

 

Zuletzt stellte Michael Wolf in seiner Kolumne die Hygiene-Frage.

 

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