Theater Made by Characters

von Oliver Kranz

Oktober 2018. So viel Georgien war noch nie. Es gibt Theatergastspiele, Lesungen und touristische Werbeveranstaltungen. Szene-Magazine erklären Tiblissi zum neuen Berlin. Die Frankfurter Buchmesse macht's möglich. Das winzige Land am Südrand des Kaukasus kann sich als kulturelles Zentrum präsentieren – mit Folklore und Technoclubs, alten Kirchen, gutem Essen und viel unberührter Natur. "Made by Characters" ist der Slogan unter dem Georgien für sich wirbt – ein Wortspiel, das vor allem im Englischen funktioniert, weil dort "character" auch Buchstabe bedeutet. Die Georgier haben ein eigenes Alphabet, das ihnen geholfen hat, trotz der jahrhundertelangen Besetzung ihres Landes ihre kulturelle Identität zu bewahren.

Die Alten: im Land Stalins

"Die Buchmesse ist ein Geschenk", sagt Ekaterina Mazmishvili, die das georgische Theaterprogramm für Frankfurt zusammengestellt hat. Die kleine, resolute Frau, die in Tiblissi das staatliche Marjanishvili-Theater leitet, macht sich für kulturellen Austausch stark. Sie organisiert seit zehn Jahren den "Georgian Showcase", ein georgisches Theatertreffen zu dessen Zielpublikum ausländische Theatermacher und Festivaldirektoren gehören. Gezeigt werden Produktionen des letzten Jahres, die von einer Jury ausgewählt wurden. "Wir wollen die georgischen Bühnen in der modernen Theaterwelt verankern. Durch den Showcase haben wir schon viele Gastspieleinladungen bekommen und Kooperationen auf den Weg gebracht – zum Beispiel die Produktion Tiger und Löwe bei der das Badische Staatstheater Karlsruhe und das Royal District Theater Tiblissi zusammengearbeitet haben." 

tiger2 560 FelixGruenschloss u"Tiger und Löwe" von Davit Gabunia am Badischen Staatstheater Karlsruhe   © Felix Grünschloß

Die Inszenierung, die im Mai in Karlsruhe Premiere hatte und danach in Tiblissi lief, berichtet über die Ermordung von 110 georgischen Schriftstellern im Jahr 1937 – ein hochemotionales Thema. Obwohl das Stück in Tiblissi auf Deutsch, mit georgischen Übertiteln gespielt wurde, hatten viele Zuschauer Tränen in den Augen. - "Wir haben gerade erst angefangen, offen darüber zu sprechen", erklärt Ekaterina Mazmishvili. "Stalin hat die gesamte georgische Intelligenz vernichtet. Fast jede Familie hat Angehörige zu beklagen, die nach Sibirien deportiert oder ermordet wurden." Trotzdem gibt es in Stalins Geburtsstadt Gori immer noch ein Museum, in dem der Diktator verherrlicht wird. Zu sehen sind Stalin-Fotos, Stalin-Skulpturen und Stalins Totenmaske. Hinweise auf Stalins Verbrechen fehlen. Nach dem Kaukasuskrieg 2008 forderte der damalige georgische Kulturminister zwar eine Umgestaltung der Ausstellung, doch die Stadt Gori, die das Museum trägt, stellte sich quer. Das Haus sei schließlich ein Touristenmagnet.

Die Jungen: genervt von den Phrasen

"Ich war noch nie dort", beteuert Ekaterina Mazmishvili. "Für die meisten Georgier ist Stalin ein Symbol ihrer Angst. Meine Mutter meint immer noch, dass ich bestimmte Dinge nicht in der Öffentlichkeit sagen soll. Das ist ein Gefühl von früher, wo man sich durch unvorsichtige Äußerungen wirklich schaden konnte." - Den jungen Theatermachern, die in Tiblissi zurzeit die Bühnen erobern, sind diese Ängste fremd.

Avtandil Diasamidze hat im Studio des Marjanishvili Theaters ein Stück inszeniert, in dem Jugendliche einen Minister nachahmen. "Stellen Sie sich Georgien als Produkt vor", sagt er. "Mit welchem Werbetext könnte man es verkaufen?" – Doch die Jugendlichen zucken mit den Schultern. - "Wir zeigen eine typische Verhaltensweise der jungen Generation in Georgien", erklärt der Regisseur. "Wir sind genervt von den Phrasen, mit denen für unser Land geworben wird. Immer wird auf den guten Wein verwiesen, auf die schöne Landschaft und unsere alte Kultur. Das bringt doch niemanden weiter! Wir müssen über unsere Probleme reden und uns nicht immer versichern, wie toll wir sind!"

Georgian Showcase 2018 The Land 1 "The Land" von Alex Chigvinadze, Regie: Avtandil Diasamidze, Marjanishvili State Drama Theatre. Jugendliche erzählen darin Märchen nach. © Georgian Showcase

Im Stück fangen die Jugendlichen an, Märchen zu erzählen. Sie verkleiden sich als Ritter und wackeln wie schlecht animierte Comicfiguren über die Bühne. Zuerst wirkt alles wie ein Jux, doch dann werden die Geschichten, mit der georgischen Wirklichkeit kurzgeschlossen. Nach dem Auftritt eines Märchenhelden, der den Tod einfach wegschickt und so lange weiterlebt, bis er selbst sterben will, wird von einem heutigen Bäcker erzählt, der nach 40 Jahren Arbeit dringend eine Operation braucht. Doch die staatliche Gesundheitsversicherung will nicht dafür zahlen. Anders als das Märchen hat die Geschichte kein glückliches Ende …

Überzeugend: die Intensität des Spiels

"In Georgien gibt es heute einen riesigen Unterschied zwischen der jungen und der älteren Generation", sagt Avtandil Diasamidze. "Wer jung ist, kann sich etwas aufbauen. Es gibt Gesetze und halbwegs stabile politische Verhältnisse. Als unsere Eltern jung waren, ging es viel chaotischer zu. Erst kam die Unabhängigkeit, dann der Bürgerkrieg. Da konnte sich niemand um seine Karriere kümmern." – Die Über-50-jährigen gelten heute in Georgien als verlorene Generation, die 20- bis 30-jährigen als große Hoffnungsträger – auch im Theater. Während es in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks ein Establishment gibt, das junge Künstler am Aufstieg hindert, stehen in Georgien viele Türen offen.

Marat 560 Georgian Showcase 2018"Marat / Sade" von Peter Weiss, Regie: Saba Aslamazishvili, Theater der Ilia-Universität
© Georgian Showcase

Am Theater der staatlichen Ilia-Universität in Tiblissi hat Saba Aslamazishvili das Weltanschauungsdrama "Marat / Sade" von Peter Weiss herausgebracht. Die Produktion ist seine erste große Inszenierung und wurde prompt zum Georgian Showcase eingeladen. Dabei wirkt sie auf den ersten Blick eher konventionell. Die Kostüme sehen aus, wie die der Uraufführung vor mehr als 50 Jahren und auch das Bühnenbild bietet nichts Überraschendes. Weiße Vorhänge deuten das Irrenhaus an, in dem der Marquis de Sade nach der französischen Revolution festgehalten wird. Er darf mit den anderen Patienten ein Stück über die Ermordung Jean-Paul Marats einstudieren. Alle tragen weiße Kittel, der Revolutionär sitzt in der unvermeidlichen Blechwanne. Man könnte gelangweilt abwinken, doch was überzeugt, ist die Intensität des Spiels. Aufgestachelt durch Marats Reden, beginnen die Patienten nach der Revolution zu rufen - erst zaghaft, dann mit voller Kraft. Am Ende töten sie die Pfleger und stürmen nach draußen - ein Horrorbild, das Peter Weiss so nicht vorgesehen hat, doch bei Saba Aslamazishvili geht das Stück noch weiter. "Die Patienten kommen nach ihrer Flucht zurück und blasen bunte Luftballons auf. Damit wollen wir sagen: wenn das Alte stirbt, entsteht Raum für neues Leben. Das ist eine Botschaft, die sich auf das heutige Georgien bezieht. Wir brauchen Hoffnung und wir glauben an Hoffnung."

Tiblissis Off

Hoffnung gibt es in Georgien, obwohl das Land unübersehbare Probleme hat. Überall bröckeln die Häuserfassaden, die Infrastruktur ist marode, in Straßenunterführungen und vor den Kirchen sitzen bettelnde Menschen. Nach der Loslösung von der Sowjetunion ist die Industrie des Landes komplett zusammengebrochen. Kriege, dadurch ausgelöste Flüchtlingsströme und hohe Militärausgaben taten ein Übriges. Doch inzwischen hat sich die Lage stabilisiert. Neue Hotels schießen aus dem Boden, die Touristenzahlen steigen, die Kulturszene boomt. Es entstehen neue Galerien, Theater und Technoclubs. Und alles ist gut besucht. "Das hat mit unserer georgischen Identität zu tun", sagt Ekaterina Mazmishvili. "Wir feiern gern und gehen gern ins Theater. Die Karten sind nicht viel teurer als ein Busfahrschein. Und wenn wir die Wahl haben, mit dem Bus zu fahren oder ins Theater zu gehen, würden wir uns immer für's Theater entscheiden."

Zu denen, die eine neue Bühne gegründet haben, gehört Mischa Charkviani. Er hat in einer alten Fabrik am Rand von Tiblissi das Open Space Theater errichtet, das experimentelle Stücke zu hochpolitischen Themen anbietet. Die aktuelle Produktion heißt "Reisepass" und setzt sich mit der Situation an der Grenze zu Südossetien auseinander, einem Gebiet, das zwar zu Georgien gehört, aber seit dem Krieg 2008 de facto unabhängig ist. "Der Grenzzaun wird von den Separatisten immer weiter auf unser Territorium verschoben", erklärt der Regisseur. "Es kann vorkommen, dass ein Bauer morgens seine Wiese mähen möchte und auf einmal liegt sie im Grenzgebiet. Wer protestiert, wird von den Separatisten festgenommen und nur gegen ein Lösegeld wieder freigelassen. Im Stück erzählen wir von Archil Tartunashvili, den man an der Grenze entführt und später ermordet hat."

Passport 560 Georgian Showcase 2018"Passport", Open Space of Experimental Art, Regie: Mischa Charkviani  © Georgian Showcase

Mischa Charkviani hat auf der Bühne ein Zelt aufstellen lassen, wie es Georgier von traditionellen Beerdigungsfeiern kennen. Die Zuschauer nehmen an einer langen Tafel Platz, an deren Kopfende der Tote aufgebahrt wird. Männer in schwarzen Anzügen waschen ihn und berichten, wie er gefoltert wurde. Die genauen Fakten zitieren sie aus einem gerichtsmedizinischen Protokoll. Danach sprechen sie die Zuschauer an: "Möchtest Du ein Held werden?" – Ohne die Antwort abzuwarten, meldet sich der Tote selbst zu Wort: Für ihn hätte es gar keine andere Wahl gegeben. Wenn die Heimat bedroht sei, müsse man sie verteidigen. – Das klingt kämpferisch, doch es bleibt nicht unwidersprochen. Ein junger Schauspieler erklärt, dass Heroismus nicht seine Sache sei. Wenn Heldentum den Tod bedeute, wolle er lieber leben.

Krise, Krieg, Kritik

"Das Stück soll keine Antworten geben, sondern Diskussionen auslösen", betont Mischa Charkviani. "Wir bieten nach jeder Aufführung ein Publikumsgespräch an. Deshalb habe ich das Theater auch Open Space genannt. Der Raum ist offen für die Auseinandersetzung mit schwierigen Fragen. Wie soll Georgien reagieren, wenn das nächste Mal jemand entführt wird? Natürlich können wir Südossetien nicht angreifen. Die Separatisten werden von Russland unterstützt und einen neuen Kaukasuskrieg können wir nicht riskieren. Doch einfach nichts zu tun, wie unsere Regierung, ist auch nicht richtig. Das ermutigt die Separatisten doch nur zu noch dreisteren Provokationen." – Der Regisseur verweist auf ein YouTube-Video, in dem die Entführer Archil Tartunashvilis stolz seinen Reisepass präsentieren: "Das war für mich der Anlass für das Theaterstück. Mit einem georgischen Pass ist man an der Grenze zu den besetzten Gebieten nicht sicher, und die georgische Regierung ignoriert das."

Kritik an der Regierung ist in Georgien heute kein Problem mehr. Das Stück "Reisepass" wurde beim diesjährigen Georgian Showcase präsentiert, eine ältere Produktion des Regisseurs ("Parent's Meeting" – mehr darüber im Theaterbrief Georgien aus dem Jahr 2017) gehört zum Theaterprogramm der Frankfurter Buchmesse. Georgien zeigt seine kritischen Künstler gern vor – auch daran kann man erkennen, wie westlich das Land inzwischen geworden ist.

 

Kranz Oliver 120 karo kraemerOliver Kranz, geboren 1967 in Ostberlin. Studium der Theaterwissenschaft, Anglistik und Kulturmanagement in Leipzig, Berlin und London. Seitdem Journalist und Theaterkritiker – vor allem fürs Radio (DLF, RBB, NDR, SRF). Fünfmal pro Woche im Theater und immer noch neugierig.
(Foto: Karo Krämer)

 
Von Davit Gabunia besprachen wir die Premiere "Tiger und Löwe" am Staatstheater Karlsruhe im Mai 2018.

Über den letztjährigen Showcase in Tiblissi und den Aufbruch der jungen Theaterszene berichtete Dorothea Marcus für uns.

Mehr Theaterbriefe aus der Bühnenwelt jenseits des deutschsprachigen Raumes gibt es in der Rubrik "International".