Männer, rückt mal beiseite

von Martin Krumbholz

Düsseldorf, 12. Oktober 2018. Es ist ein starker Abend. Was man bei der Lektüre des Textes von Lot Vekemans nicht unbedingt erwartet hätte. Denn "Momentum" ist nicht frei von Schwächen – oder genauer gesagt, es hat eine offene Flanke. Das sind die Figuren: Meinrad Hofmann, Partei- und Regierungschef in einem ungenannten Land, der in eine Depression abgleitet. Ebba, seine Frau und "First Lady", immer selbstlos an der Seite ihres Gatten, und doch zugleich voller unausgeschöpfter Energien. Dieter, der "Spin-Doctor", eine Art Herbert Wehner: zweifellos trägt er den Dolch im Gewand. Ein junger Dichter, der sich selbst mit Pablo Neruda verwechselt. Und ein ungeborenes – besser: totgeborenes – Kind von Ebba, das nur mit seiner Mutter spricht und sonst von niemandem gesehen wird.

Heikel

Die Sprache ist bisweilen so heikel wie die Personenkonstellation. Ebba deklamiert beispielsweise: "Wenn wir den guten Absichten ausweichen/ Wenn niemand mehr wagt utopisch zu denken/ Wohin führt dann unser aller Weg?" Es gibt nicht sehr viele Schauspielerinnen, die so etwas von sich geben können, ohne peinlich zu wirken. Und – beim Lesen – fragt man sich dann doch, wen dieser Meinrad eigentlich repräsentiert. Ist er links, rechts, einer à la Macron? Zwar ist oft von Idealen die Rede, aber auch die Rechten haben ja ihre "Ideale". Der Verzicht auf eine konkrete Verortung wirkt schwammig und vage. Macht es, was den Umgang mit Macht betrifft, gar keinen Unterschied, ob einer sich als rechts oder links versteht, als national oder liberal?

Momentum 2 560 SandraThen uShe ain't heavy, she's my mother: Jana Schulz, André Kaczmarczyk, vorne Christian Erdmann
© Sandra Then

Und dann, siehe da, das Theaterwunder: Mit dem ersten Monolog von Jana Schulz, die ihren Gatten vertritt und sich an "das Volk", also an uns wendet, lösen sich die Bedenken auf. Nicht ganz vielleicht, aber zum größeren Teil. Das Düsseldorfer Schauspielhaus hat eine Top-top-top-Besetzung aufgeboten, um das Vekemans-Stück uraufzuführen, das ist ein Statement und eine unübersehbare Reverenz an die Autorin aus dem Nachbarland. Jana Schulz, Christian Erdmann, André Kaczmarczyk: Das Dreigestirn leuchtet und bringt Vibrationen hervor, die dramaturgische Mäkeleien kleinlich erscheinen lassen. Dazu Wolfgang Michalek als Dieter (allerdings die unsympathischste Figur) und Kilian Land als junger Autor, der kein "Gelegenheitsdichter" sein will (gemeint ist wohl: "Auftragsdichter").

Das Leuchten der Spieler

Erdmanns Meinrad ist weniger ein Macbeth (Selbstauskunft Vekemans) als ein neuer Danton. Er hat den Glauben an die "Revolution" verloren, weil Revolutionen sich irgendwann immer in ihr Gegenteil verkehren, wie es einmal heißt. "Sie werden's nicht wagen": Der schöne Büchner-Satz würde auch hier passen. Sie werden’s nicht wagen, über ihn als Parteichef abzustimmen, denn Meinrad ist charismatisch und beim Wähler beliebt. Aber sie wagen's doch. Der Spin-Doctor, der auch ein Auge auf Ebba geworfen hat, was Roger Vontobels Regie dankenswerterweise vernachlässigt, treibt ein zweideutiges Spiel. Meinrad verschweigt seine Depression, das macht ihn so oder so verletzbar. Erdmann spielt den Politiker mit Emphase und großer Emotion – spielt sich ins Herz des Publikums. Man fühlt durchaus mit ihm, gerade weil er offensichtlich schwach ist.

Momentum 3 560 SandraThen uIm Licht und auf der Bühne von Klaus Grünberg: Jana Schulz und Wolfgang Michalek 
©  Sandra Then
Das totgeborene Kind, die Figur, mit der Vekemans eine Art von "magischem Realismus" in ihren Plot einführt, was leicht ins Bizarre abgleiten könnte, wird durch das quirlige Spiel von André Kaczmarczyk aufgewertet zu einer diabolischen, mephistophelischen, ganz natürlich wahrnehmbaren Spiegel-Instanz, die Ebba zunächst in Angst versetzt und später tröstet und pusht. Denn mit Ebba kommen wir zu dem, was man Vekemans' eigentliches Anliegen nennen könnte – der feministischen Botschaft, die da heißt: Nun, ihr Männer, rückt mal beiseite, es ist Zeit, dass Frauen das Ruder übernehmen, in der Politik und überhaupt. Frauen bohren einander bekanntlich keine Dolche in den Rücken, sondern gehen stets hübsch solidarisch mit ihresgleichen um.

La Schulz grandios

Wenn es eine Schauspielerin gibt, die eine Figur mit derartigem moralischem Gepäck ohne Peinlichkeit spielen kann, dann ist es Jana Schulz. Fragil und selbstbewusst zugleich, luzide, ironisch, pathetisch, alle denkbaren Widersprüche mühelos und beiläufig in sich vereinend – das ist schon grandios. Man darf sich nicht wundern, dass Vontobel, der ein Könner ist, aber kein Genie, der Arbeitssymbiose mit Schulz auch nach fast zwanzig Jahren noch nicht überdrüssig geworden ist. "Wir sind jetzt zwanzig Jahre verheiratet", sagt Ebba auch über sich und ihren Mann. Dann bittet sie ihn, der darauf ziemlich konsterniert reagiert, einen Schritt zurückzutreten, um ihr den Rücken zu stärken. Nur ein kleiner Rollentausch. Es endet mit einem hübschen Wortspiel: "Weil es in deiner Macht liegt", sagt sie. Und das Publikum jubelt.

 

Momentum
von Lot Vekemans
Deutsch von Eva M. Pieper und Alexandra Schmiedebach. Uraufführung
Regie: Roger Vontobel, Bühne und Licht: Klaus Grünberg, Kostüm: Tina Kloempken, Musik: Matthias Herrmann, Dramaturgie: Janine Ortiz.
Mit: Christian Erdmann, Jana Schulz, Wolfgang Michalek, Kilian Land, André Kaczmarczyk.
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.duesseldorfer-schauspielhaus.de

 

Mehr dazu: die letzten gemeinsamen Unternehmungen von Jana Schulz und Roger Vontobel, die auf nachtkritik.de besprochen wurden, waren Kampf des N***** und der Hunde in Bochum im Mai 2017, Medea, im März 2017 in Düsseldorf und Rose Bernd, im Oktober 2015 in Bochum.  

 

Kritikenrundschau

In kultur west, dem NRW-Kulturmagazin (11/2018) schreibt Andreas Wilink: Das Stück von Lot Vekemans habe nur nebenbei mit "einem Plädoyer für Frauenpower zu tun". Das sei alles nicht "so interessant", mache aber viele Worte, "die den Text nicht eben gebrauchsfähig erscheinen" ließen. Die darunter liegende zweite Erzählung indes sei spannend, die von Ebbas Wandlung von der "beherrscht kühlen, rhetorischen Strategin" zur 'Dark Lady' zur "körperlich weich werdenden Pietà" und zur "unaggressiv souveränen Herausforderin des Mannes". Schulz zeige den "Sprung im Panzerglas, bis es splittert und birst". Ihr verlorenes Kind sei beständig anwesend als "Artist im Irrealis der Existenz, Fleisch gewordenes Trauma", André Kaczmarczyk gebe ihm "Soul". Schulz und er kämpften ein Duell aus und fänden im Duett zu "Innigkeit und Intimität".

Eine "treffende Parabel auf komplexe Zeiten, in denen es keine wirklichen Gewinner gibt" hat Marion Meyer gesehen und schreibt in der Rheinischen Post (15.10.2018): "Lot Vekemans hat eindrückliche Figuren entworfen, die in der Düsseldorfer Inszenierung von starken Schauspielern getragen werden, und sie psychologisch so glaubwürdig ausgestaltet, dass sie nicht zum Sprachrohr politischer Phrasen werden."

"Ein Blick hinter die Kulissen der Macht soll es sein" – vor den Kulissen der Uraufführung von Roger Vontobel herrschten allerdings "vor allem Desillusionierung und ein etwas verlorener Magischer Realismus", schreibt Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (15.10.2018). Vontobels psychologisch genaue Arbeitsweise, die gerade Klassikern oft etwas unerwartet Menschliches entlocke, ermögliche zwar starke schauspielerische Momente. "Er verpasst aber die Chance, dem für Lot Vekemans' Verhältnisse schwachen Text eine eigene Lesart entgegen zu setzten", so Fiedler. "Momentum" zeichne nicht nur "das tendenziell populistische Bild einer politischen Kaste, der es allein um den Machterhalt geht", sondern auch ein "esoterisch angehauchtes Frauenbild": wenn Ebba sich mit ihrem ungeborenen Kind versöhnt, dann auch "damit, dass zum Frausein offenbar die (mögliche) Mutterschaft gehört. Das soll wohl Feminismus sein, wirkt aber eher altbacken biologistisch."

Es gehe in Vekemans Stück auch um den Preis, den die Macht fordere: "Der politische Führer eines Landes steht permament in der Öffentlichkeit, darf nicht er selbst sein, sondern muss eine Rolle spielen", schreibt Thomas Frank in der Westdeutschen Zeitung (15.10.2018). "Mit ihrem Spannungsreichen Zusammenspiel erzeugen alle Akteure eine Sog, der die Zuschauer in die Abgründe des Politikergeschäfts hineinzieht."

Ulrike Gondorf zeigt sich auf WDR 3 (13.10.2018) enttäuscht. Es werde sehr floskelhaft geredet. Vekemans gewähre mit ihrem Stück nicht, wie im Vorfeld angekündigt, einen Blick hinter die Kulissen der Macht. Es laufe im Grunde nur auf die persönlichen Empfindungen der Hauptfiguren hinaus. Das psychologische Stück sei zudem vielleicht nicht der richtige Stoff für Regisseur Vontobel.

Als "'House of cards' extra light'", als "Abfolge von Gemeinplätzen" und "von Worthülsen und Plattitüden", bezeichnet Andreas Rossmann in der FAZ (16.10.2018) das Stück. Roger Vontobel versuche dem thesenhaften Stück psychologische Feinheiten und Spannungen abzugewinnen. Jedoch: „"Für ein zweistündiges Kammerspiel fehlt dem Stück die Substanz. 'Momentum' bleibt weitgehend Behauptung."

 

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