Ich hab Angst, Angst, Angst!

von Gabi Hift

Berlin, 12. Oktober 2018. Was für Draufgängerinnen, was für unerschrockene Abenteuerinnen! "Gebt mir die Volksbühne den Bundestag das Universum Und ihr werdet sehen, dass ich das bin was euch so lange schon gefehlt hat," schreibt Zelal Yesilyurt im Programmheft. Und jetzt steht der Jugendclub P14 auf der großen Bühne.

P14, das ist der alte Volksbühnengeist, schwer zu beschreiben, aber sofort zu spüren, wenn man in seinen Bann gerät, eine Mixtur aus anarchischer Euphorie, Lametta, Wut und Freude. Bei P14 konnte jede*r nicht nur spielen, sondern auch schreiben, inszenieren, Bühnen bauen, "autonom, aber nicht allein gelassen", unterstützt von der großartigen Leiterin Vanessa Unzalu Troya. Da gabs nicht ein einzelnes, von allen geliebtes Genie, aber auch keine flache Zurückhaltung, sondern alle waren reihum Genies.

Drei Milliarden Schwestern 4 560 Thomas Aurin 2018 1 Schwestern mit Wasserköpfen: Judith Gailer, Yasmin El Yassini, Fee Aviv Marschall, Lilith Krause, Lioba Kippe und Lucia Itxaso Kühlmorgen Unzalu als Komet  © Thomas Aurin

Eins von ihnen war Bonn Park. Vor zehn Jahren bei P14 angefangen, dann an der UdK szenisches Schreiben studiert, Preise gewonnen. Zuletzt hat er sein Stückemarktgewinnerstück Das Knurren der Milchstraße am Theater Bielefeld selbst inszeniert. Und nun – an seiner alten Heimatstätte – "Drei Milliarden Schwestern", große Oper – im wörtlichen Sinn! Der Orchestergraben dicht gefüllt mit mindestens 50 Musiker*innen des Jugendsinfonieorchesters am Georg-Friedrich-Händel-Gymnasium.

Die Falle, der wir nicht entkommen

Das Licht fährt herunter und es ertönt eine veritable Ouvertüre. Ben Roessler hat sich mit viel Spaß am Eklektizismus durch die Stile durchkomponiert. Der Vorhang öffnet sich altmodisch und samten. Wie bei Tschechow sind wir auf der Geburtstagsfeier von Irina, der jüngsten der drei Schwestern. Aber das sind seltsame Wesen, sie haben riesige Wasserköpfe, gekrönt von weißen Watteperücken (Ausstattung: Leonie Falke, Laura Kirst). Über ihnen hoch in der Luft schwebt eine kindliche Seilakrobatin im Reifunterrock (Lucia Itxaso Kühlmorgen Unzalu). Sie singt mit betörend klarer Kinderstimme. Wir erfahren, dass sie ein Komet ist, der auf die Erde zurast und sie vernichten wird, wenn niemand das verhindert.

Wo bei den drei Schwestern die Provinz die Falle ist, der sie nicht entkommen können, ist es in diesem Remake die ganze Erde, die demnächst zugrunde gehen wird. Und auch hier reden und reden bzw. singen alle immer nur und sind unfähig etwas zu unternehmen. Die Texte von Bonn Park sind mal komisch, mal melancholisch. Sie bleiben dabei ungreifbar wie der Rauch, der aus dem riesigen Pappsamowar hinten auf der Bühne austritt. Er tastet nach einer Art romantischer Ironie.

Im Ungewissen schwimmen

"Vernichtung ist nicht mein Sinn, gar nichts ist mein Sinn … Ich bin Zufall",  singt also der Komet. Aber die Erkenntnis der Sinnlosigkeit löst keine Verzweiflung aus. Nur Kopfschmerzen – und heitere Melancholie. Die aber wirkt wie ein Tonfall des Autors, dem die Spielerinnen sich fügen. Nur zwei haben etwas Eigenleben: Nina Nina Werschinina (ein Kalauer zu "Nina Nina tam kartina") ist doppelt so groß wie die anderen, hat Stelzen unterm Plisseekleid, ein tolles Bild. Sie nimmt ständig Videos für ihren Youtube-Kanal auf, in denen sie ihren Selbstmord ankündigt.

Charlotte Brandhorst ist stupend als Sylvia Rieger-look-and-cry-alike. Später flüstert sie eindringlich einen Monolog, bevor sie das mit dem Sterben doch sein lässt. Und Lioba Kippe berührt mit zwei von Irinas Originalmonologen. Sie hat eine ganz eigene, faszinierende Körperkomik, schwimmt mit den Armen im Ungewissen, greift mit den Händen in die Luft: eine tänzerische Dirigentin der eigenen Unsicherheit. So frei und fließend mit dem Körper Hemmungen malen zu können, ist ein ungewöhnliches Talent und sehr vergnüglich anzusehen.
Drei Milliarden Schwestern 3 560 Thomas Aurin uWo bitte geht's denn hier nach Moskau? © Thomas Aurin

Irritierend sind die Auftritte der beiden "Erwachsenen". Anne Tismer erscheint als ernste Clownin und führt einen Hiphop-Tanz vor, bei dem sie in den Spagat stolpert, während die Schwestern sie verständnislos beobachten. Dagobert als Erwachsener 2, der vor ein paar Jahren mit dem Lied Ich bin zu jung ein ganz heißer Undergroundtipp war –  jetzt steht er da, mit seiner langen dünnen Statur, sehr alt vor all den jungen Mädchen und singt ganz verloren ein Lied ins Irgendwo.

Da kommt schon das Finale

Alles hat einen flirrenden, ambiguen Ton, pastell, wie die schicken Kostüme, das wird nie langweilig, ist immer amüsant. Und das ist eine fast unermessliche Leistung für singende Jugendliche auf dieser größten und grausamsten Bühne der Stadt, auf der in der vorigen Spielzeit ein Projekt nach dem anderen elend verläppert ist. Aber es hat nicht die kollektive Kraft und Freiheit, die man sonst oft bei P14-Projekten spürt.

Erst ganz gegen Ende singen die Schwestern: "Das Ende der Welt, ich horche in mich hinein, welches Gefühl das wohl macht, was da passiert in mir. Aber mir ist leider alles scheißegal ... Ich hab Angst, Angst, Angst – vor allem! Außer dem Kometen!" Und auf einmal verschmelzen die spannenden, charmanten lebendigen Darstellerinnen mit den irgendwo im Raum schwebenden Figuren. Und man denkt: Ja, genau, das glaub ich euch! Und jetzt könnte es eigentlich losgehen. Wovor habt ihr wirklich Angst? Erzählt es, ich will es wissen! Aber da kommt schon das Finale – mit einem allerdings sehr poetischen und überraschenden Ende.

 

Der Text wurde am 16.10.18 15:30 Uhr korrigiert. In der Ursprungsfassung hieß es, der Abend wäre die erste von Klaus Dörr programmierte Produktion. Tatsächlich erfolgte die Initiative für die Produktion bereits unter der Intendanz Frank Castorfs, in der sie allerdings nicht realisiert wurde. Der Auftrag an Regie und Komposition wurde dann von Klaus Dörrs Vorgänger Chris Dercon erteilt, der die Arbeit vor seinem Rücktritt auch schon angekündigt hatte.

 

Drei Milliarden Schwestern
Eine Opernentwicklung nach Anton Tschechow
Text & Regie: Bonn Park, Komposition: Ben Roessler, Musikalische Leitung: Knut Andreas, Ausstattung: Leonie Falke, Laura Kirst, Licht: Hans-Hermann Schulze, Ton: Hannes Fritsch, Jörg Wilkendorf, Video: Konstantin Hapke, Jackson Ford, Dramaturgie: Vanessa Unzalu Troya, Hannah Schünemann.
Mit: Lucia Itxaso Kühlmorgen Unzalu, Lioba Kippe, Zelal Yesilyurt, Leonie Jenning, Charlotte Brandhorst, Judith Gailer, Lilith Krause, Yasmin El Yassini, Fee Aviv Marschall, Anne Tismer, Dagobert, Jugendsinfonieorchester Berlin am Georg-Friedrich-Händel-Gymnasium
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.volksbuehne-berlin.de

 

In unserer Video-Interview-Reihe "Neue Dramatik in zwölf Positionen" spricht Bonn Park über Popkultur im Theater und über die Leiden der Jugend

 

Kritikenrundschau

Eine "euphorisierende Kollektivoper" hat Ulrich Seidler erlebt, wie er in der Berliner Zeitung (15.10.2018) schreibt, ein "absolut furchtloses, anspruchsvolles, verspieltes Großkunstprojekt". Seidler preist "herrlich kranke Depressionsballaden, jubilierenden Zwölfton-Weltschmerz mit Paukenwirbel und Beckenschlag, todessehnsüchtige und dabei gutgelaunte Pop-Nummern". Und ist auch sonst sehr begeistert: "Zarte Rufe verhallen im Nebel, Wutschreie dringen aus Grabkammern − und ein seltsamer, ratloser, nie ganz verzweifelter Humor beschenkt Erwachsene mit einer Unsicherheit, die sie in die eigene Umbauphase zurückversetzt und der tief in die einst abgeschalteten Nervenbahnen fasst."

Der Witz des Abends entspringe vor allem den Wortkaskaden, die die Schauspielerinnen "im Stile der großen Volksbühnendiven brüllseufzen", schreibt Georg Kasch in der Berliner Morgenpost (13.10.2018). Die Aufführung sei auch eine große Opern-Parodie. "Überhaupt ist der Abend auf ziemlich vielen Ebenen sehr unterhaltsam, auch wenn Park als Regisseur sicher noch mehr hätte rausholen können. Aber es macht Spaß, den vielen Volksbühnen-Zitaten nachzuspüren." Es entstehe hier darüber hinaus etwas Eigenes, Neues, Junges.

"Aufmüpfig, sinnstürzend, respektlos und hirnwindend" sei diese "zwischen Klassiker-Bewunderung und Nonsens changierende Opern-Collage", so Bernd Noack in der Neuen Zürcher Zeitung (19.10.2018). Die "knallige, zum Niederknien komische, mit enormem Sprachwitz aufgepeppte musikalische Revue sehr frei nach Tschechow" könne "sich wunderbar sehen und hören lassen".

Kommentare  
Drei Milliarden Schwestern, Berlin: danke
"wir haben das nicht für euch gemacht,
wir haben es für uns gemacht.
macht es für euch ! "

wem dieses bekannt vorkommt,der darf mit freude die VB betreten und wieder verlassen und sogar etwas im herzen mit nach hause nehmen.

bleibt bunt,bleibt laut,bleit tiefsinnig und optimistisch.

danke für diesen abend !
Drei Milliarden Schwestern, Berlin: ganz großes Theater
(...)

Und so fehlt den Drei Milliarden Schwestern vor allem das, was sie ständig behaupten: Verzweiflung. Stattdessen: jugendliche Wut, neugieriger Forscherdrang, anarchische Albernheit und eine sanfte, fast optimistisch zu nennende Melancholie. Am Ende wird der Samowar zur Rakete, die ausgiebig zelebrierte Langeweile zum poetischen Märchen, die Jammerrituale zum notwendigen Emanzipationsinstrument. Hier wird Altes zelebriert und aus ihm Neues geschaffen. Eine Metapher fürs Erwachsenwerden, wenn man möchte, aber auch ein Kommentar zu und Anspruch an dieses Haus, das, so sagen es uns Bonn Park und P14 noch lange nicht fertig ist. Mit sich, der Welt und uns. Moskau ist längst nicht mehr genug, der Komet – wunderbar interpretiert von der kindlichen Sängerin Lucia Itxaso Kühlmorgen Unzalu – ein ebenso rat- und hilfloser Verbündeter. „Erwachsene“ können nicht helfen, sie fallen aus der Zeit, wie der ungläubig angestarrte Dagobert oder die stumm zum Ghettoblaster ihre eigene Irrelevanz tanzende Anne Tismer. Die Erneuerung kommt nicht von außen, sie müssen sie selbst stemmen: der junge Regisseur und Autor, die jugendlichen Spieler*innen, der Musiker*innen-Nachwuchs. So leicht, so assoziationsstark, so sympathisch in seinem Größenwahnsinn und so substanziell in seiner ironischen Collagenhaftigkeit: Dieser dieser Abend ist ein Hoffnungsschimmer an einem gebeutelten Haus. Sich selbst nicht so ernst nehmend gelingt ihm ganz großes Theater. Gespielt von einem reinen Frauenensemble – auch das ein Statement an diesem, Alpha-Männer gewöhnten Ort. Auf, auf! Nach Moskau! Ins All! Egal!

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/10/18/because-they-got-high/
Drei Milliarden Schwestern, Berlin: Kunst und Freude
"Tatsächlich erfolgte die Initiative für die Produktion bereits unter der Intendanz Frank Castorfs, in der sie allerdings nicht realisiert wurde."

Echt schrecklich, wie dieser alte, weiße Macho diese jungen KünstlerInnen inspirieren konnte - gar nicht vorzustellen, was er bzw. seine geistig-künstlerischen "Erben und Geschwister" alles noch hätten realisieren können ... "euphorisierende Kollektivopern" + "absolut furchtlose, anspruchsvolle, verspielte Großkunstprojekte" (Seidler) ... so eine zukunftlose, rückwärtsgewandte Ensemble-Kunst

*** Ironie aus

Dank an alle, die Kunst und Freude in ihrer Tradition bewahren und lebendig halten WOLLEN UND KÖNNEN ... BRAVO!
Drei Milliarden Schwestern, Volksbühne: großartig
Ganz großartig, was an diesem Abend passiert. Nicht nur wunderbar größenwahnsinnig und unterhaltsam, eigentlich auch eine gute Antwort auf: wie heute Oper machen? Die meisten Darstellerinne singen zwar nicht sonderlich gut, ist aber total egal und deutlich näher dran und mit mehr Witz als die 735ste Neufassung der Traviata allemal.

Darüberhinaus so viele gute Einfälle und Szenen, dass man sie nicht alle aufzählen kann, z.B.: Akt IV (Dauer: 5 Sekunden); oder: die Kunst der Pause und des Schweigens.

Die Umstände des Entstehens waren wohl besonders, aber dies ist eine gute Vorlage für die anderen großen Schauspielhäuser Berlins: was wäre alles möglich, wenn man den mutigen und fähigen jungen Ensembles und Theaterclubs mal selber mutig die große Bühne gibt?
Drei Milliarden Schwestern, Berlin: Bravo
JA JA JA.
Möchte mich einklinken ins BRAVO
über DIE DREI MILLIRADEN SCHWESTERN.
Das war wirklich eine Erfrischung,
insbesondere diese kleinen Intermezzi,
die sich zur Perfektion neigende AutorInnen eher nicht leisten würden.

Überhaupt wäre es sehr begrüssenswert
wenn die Volksbühne noch mehr jüngeren bzw. bislang vernachlässigten AutorInnen endlich RAUM für neues Drama or Raum für neue Oper einräumte, den es unter Casdorfer nicht wirklich gab.

Und zwar auf großer wie auf kleiner Bühne.
Drei Milliarden Schwestern, Berlin: unterhaltsam
Normalerweise ist die kleine Bühne im 3. Stock die Spielstätte des P14-Jugendclub-Kollektivs der Volksbühne. Mit „Drei Milliarden Schwestern“, einer popfeministischen Parodie auf den Tschechow-Klassiker und melodramatische Opern, durften sie erstmals auch auf der großen Bühne ran.Bonn Park (Text/Regie), der selbst aus der P14-Kaderschmiede stammt und später an der UdK Szenisches Schreiben studierte, und Ben Roessler (Komposition) schufen einen schräg-versponnenen Abend.

Er endet konsequenterweise damit, dass ein Tschechowscher Samowar als Rakete ins All geschossen wird. Er verfehlt sein Ziel, einen Kometen, ebenso wie auch der Komet an der Erde vorbei schrammt. So viel geballte melancholische Vergeblichkeit bringt sonst höchstens Tschechow in seinen Dramen unter.

Bis zu diesem Finale zieht das Ensemble augenzwinkernd alles Mögliche durch den Kakao: von den BVG-Ansagen über Tschechow-Szenen bis zu Opern-Konventionen (der 4. Akt dauert nur ein paar Sekunden und besteht aus einem Konfettiregen).

Als Nummernrevue ist der knapp zweistündige Abend nicht immer stringent, aber durchaus unterhaltsam.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/12/20/drei-milliarden-schwestern-volksbuehne-kritik/
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