Pseudologia fantastica sovietica

von Silke Horstkotte

10. Oktober 2018. Dieses Buch ist eine Zumutung. Auf 820 dichtbedruckten, handlungsarmen Seiten breitet Steffen Mensching, Intendant am Theater Rudolstadt, eine Detailskizze des Sowjet-Gulags Artek und seiner Häftlinge vor uns aus. Schon das Buch zu halten stellt eine körperliche Herausforderung dar. Eigentlich brauchte man ein Lesepult, oder Handgelenkstützen. Auch sich selbst hat der Autor Mensching einiges abverlangt. Über zehn Jahre hat er für "Schermanns Augen" recherchiert und dabei eine Fülle an Wissenswertem und auch an nicht-ganz-so-Wissenswertem angehäuft über seinen Helden, den (angeblichen) Graphologen und (vermutlichen) Hochstapler Rafael Schermann (1874-1943), sowie über das sibirische Lagersystem, in dem Schermann endete.

Überleben als Dolmetscher

Über die genauen Umstände dieses Endes ist nichts bekannt. Das gibt Mensching die Freiheit, sie zu erfinden. Im Roman schreiben wir das Jahr 1940: nach der Unterzeichnung des Ribbentrop-Molotow-Pakts, vor dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion, mit dem der Pakt gebrochen wurde.

Cover Mensching Schermanns Augen Dieser prekären Atempause hat der junge Deutsche Otto Haferkorn es zu verdanken, dass er wegen trotzkistischer Umtriebe nicht vor einem Erschießungskommando landet, sondern zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt wird. 1935 war Otto als Kommunist vor den Nazis geflohen. Nun hungert und friert er im Lager ITL 47, das sich Mensching für den Roman ausgedacht hat. Eine Ironie des Schicksals, denn wahrscheinlich wäre es Otto im deutschen KZ besser ergangen als im sibirischen Gulag, in dem neben Hunger, Krankheiten und Erschöpfung vor allem Kältegrade von bis zu minus 50 Grad Celsius das Leben der Häftlinge bedrohen.

Als er wegen einer Pilzvergiftung in der Sanitätsbaracke landet, trifft Otto auf "den Polen" Schermann, den man unter unklaren Umständen aus einem Transport staatenloser Flüchtlinge herausgeholt hat. Otto filzt den Bewusstlosen und findet dessen Adressbuch, in dem alles steht, was Rang und Namen hat, von Adolf Loos über Alfred Döblin bis zu Sergej Eisenstein. Otto hat fünf Jahre als Setzer für die Moskauer Deutsche Zentral-Zeitung gearbeitet; er erkennt zwar nicht alle, aber doch genügend dieser Namen, um sich für den Fremden zu interessieren. Auch die Lagerleitung zeigt Interesse an Schermann. So wird Otto zum Dolmetscher zwischen dem polnischen Juden, der kein Russisch, sondern nur Deutsch spricht, und dem Kommandanten Kosinzew. 

Umstände stalinistischen Terrors

Die Verhöre zwischen Schermann, Otto und Kosinzew nehmen einen Großteil des Romans ein. Ähnlich wie in Boccaccios Decamerone dient das Lager Artek mit seinen Baracken, seinem Ungeziefer und seinen Seuchen, seinen Rivalitäten zwischen politischen "Seki" und kriminellen "Urki" und seinen Liebschaften vor allem als Staffage für die Erzählungen Schermanns. Über hunderte von Seiten breitet der seine Erlebnisse und Bekanntschaften im Okkultismus-affinen Caféhaus-Milieu aus und gibt Kostproben seiner Hellseherei. Umgekehrt berichtet auch Otto dem Polen von seinen Begegnungen in der Moskauer deutschen Exilantenszene und davon, wie er nach nur einer einzigen Liebesnacht mit der Journalistin Maria Osten verhaftet wurde.

Dabei weiß Otto selbst nicht, ob er einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war oder ob er gezielt verhaftet, vielleicht sogar von Maria verraten wurde. Oder ist Otto, wie der NKWD vermutet, tatsächlich ein Konterrevolutionär, der bei seiner Flucht von Prag nach Moskau die Briefe eines deutsch-französisch-polnischen Trotzkistenrings mit Plänen zur Ermordung Stalins transportierte? Was steckt hinter Ottos Interesse an Schermann, und warum vertraut dieser sich Otto an?

Gegen alle Genre-Erwartung

"Schermanns Augen" ist glänzend geschrieben und voller überraschender Wendungen, will aber zu viel zugleich. Die meisten seiner Erzählfährten führen deshalb ins Nichts. Immer wieder zerbricht die Balance zwischen den Genre-Erwartungen des Gulag-Romans, des Gesellschaftspanoramas und des Schelmenromans über das unzuverlässige Erzählen. Mit der Figur Schermann knüpft Mensching an Betrüger- und Hochstaplergeschichten von Felix Krull über Dr. Mabuse, der Spieler bis zu Woody Allens Zelig an, und er fragt nach der Möglichkeit der Wahrheit in totalitären Systemen.

Ist Schermann ein "weltfremder, hilfloser Charakter" oder der gerissene Agent einer internationalen trotzkistischen Operation? Kann er wirklich hellsehen? Warum ließ der Kommandant Kosinzew Schermann erst aus dem Transport herausholen und unterstellt nun Schermann und Otto, unter einer Decke zu stecken? Ermittelt Kosinzew etwa auf eigene Faust im Fall Trotzki? Als der Kommandant in der Mitte des Buchs plötzlich verschwindet, werden diese Fragen mit einem Schlag irrelevant. Nun zeigt sich: Es gibt im Fall Trotzki nichts aufzuklären, denn in der Sowjetunion gelten nicht die Regeln des Detektivromans, sondern eine Tat "ist bewiesen, wenn sich der Angeklagte zu seiner Schuld bekennt. Basta."

Überraschungsreiche Geschichte

Im zweiten Teil des Romans finden sich Otto und Schermann in der Baracke des Urka-Paten Uspechin wieder. "Wir müssen uns damit abfinden, sagte Schermann, dass in dieser Geschichte immer wieder Wendungen auftreten, die nicht sofort zu durchschauen sind." Otto ist nun Sympathieträger und Schermann ein liebenswerter Trickbetrüger, der die Urka mit Moritaten aus dem Kleinbürgermilieu unterhält. Am Ende kommt doch noch eine Handlung in Gang. Der Urka Aksjonow wird ermordet, Uspechins Braut will unbedingt schwanger werden, und die Ganoven spielen Poker um Ottos Arsch.

Mit solchen Überraschungsmomenten schafft es der Roman, einen immer wieder bei der Stange zu halten. Die langen Monologe Schermanns im ersten Teil stellen die Geduld dagegen auf eine harte Probe. Hier ist der Autor Mensching der Versuchung erlegen, alles, was er recherchiert hat, auch lückenlos zu dokumentieren, ohne zwischen Wichtigem und Unwichtigem, Glaubwürdigem und Abwegigem abzuwägen. So erweist sich "Schermanns Augen“ am Ende als eben das, was er seinem Helden andichtet: eine Pseudologia fantastica sovietica. 

Große Wahrheitsfrage

"Weißt du was, sagte der Pole, ich gebe dir einen guten Rat, vergiss diese ganze Gesellschaft, du wirst nie herausfinden, wer wen ausspähte, wer wen auf dem Gewissen hat oder ans Messer lieferte. Sie haben alle geglaubt, es ginge um Vernunft, Wahrheit, Ergebenheit. Alles Unsinn. Es geht nur darum, wer zum richtigen Zeitpunkt den Finger am Abzug hat."

Schermanns Absage an die Wahrheit könnte als Verweis in unsere Gegenwart verstanden werden, in der die Wahrheitsfrage einmal mehr zugunsten post-faktischer "alternative truths" verabschiedet wird. Der Roman allerdings zieht diese Analogie nicht, sondern belässt die Abwägung von Wahrheit, Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit strikt in den besonderen historischen Umständen des stalinistischen Terrors. Das ist auch gut, denn solche Vergleiche verschleiern oft mehr, als sie erhellen. Ein NKWD-Verhör ist eben kein Trump-Tweet.

Schermanns Augen
von Steffen Mensching
Wallstein Verlag Göttingen 2018, 820 S., 28 Euro