Strick um den Hoden

von Claude Bühler

Bern, 19. Oktober 2018. "Je höher der Mann in der Hierarchie, desto ausgefallener seine Wünsche." So resümiert eine Berner Edelprostituierte in zwei Büchern ihre Erfahrungen mit Schweizer Politikern allerhöchsten Ranges. Ein Parlamentarier ließ sich etwa gerne am Hundehalsband Gassi führen, ein Bundesrat sogar nackt durch den Wald treiben. Durch eine Untersuchung werden zwei langjährige, im Verborgenen agierende Geheimdienste ans Licht der empörten Öffentlichkeit gebracht: die hätten den Widerstand mobilisieren sollen, wenn die Schweiz besetzt worden wäre.

Abgründe aus dem Blick einer Zugezogenen

Das ist nicht die Story, um die es bei Cihan Inans Inszenierung geht. Aber diese und andere reale Schweizer Skandale stecken in ihr drin und inspirierten den Drehbuchautor Martin Suter in den 1990er Jahren zu einer scharfen Schweiz-Satire. Ein weiterer Geheimdienstler flog gerade dann mit Verdacht auf organisierte Kriminalität und Waffenhandel auf, als der Film "Beresina oder das Ende der Schweiz" 1999 startete. Schadete nicht. Regisseur Daniel Schmid flunkerte, sie hätten das alles im Voraus selber organisiert.

Schmid drehte die Komödie mit ätzenden Dialogpointen, Musicaleinlagen, großem Star-Aufgebot und vielen Klischees über die Schweizer ("Die besitzen alle ein Chalet") und deren Mentalität (bescheidener Auftritt, reich, durchtrieben, abgeschottet). Die Idee ist an sich genial, die verborgenen Zustände im Lande aus der Perspektive einer jungen Russin aufzuweisen, die unbedingt den Schweizer Pass will, um ihre Sippe aus dem moskaunahen Industrieort Elektrostal in das "schönste Land" zu holen. So lernen wir mit Irina, einer eher naiven Domina, die Herrenelite von ihrer abgründigen Seite her kennen.

 Beresina 1 560 AnnetteBoutellier uDie naive Domina und ihr Militär mit den gymnastischen bis grausamen Sonderwünschen: Irina Wrona als Irina, Stefano Wenk als Sturzenegger © Annette Boutellier

Alt-Divisionär Sturzenegger hat seinen großen Moment, wenn er Irina jeweils nach dem immer gleichen Dialogvorspiel "erschießt". Bankdirektor Vetterli liebt es, sich in Hundemaske erniedrigen zu lassen oder unter seinem Anzug einen Strick zu tragen, der es ihm erlaubt, mit dem Heben des Kopfes an seinen Hoden zu reißen. Um ihren Pass zu erhalten, soll Irina ihre Kundschaft nach deren Beziehungen zu einem Waffenhändler aushorchen. Ihre Protegés lassen sie fallen und veranlassen die Ausweisung. Unabsichtlich setzt sie jedoch mit einem Telefonanruf (Code: Der Anfang des Beresinalieds) Sturzeneggers Geheimarmee Kobra in Gang, die in einem uhrwerkmäßig ablaufenden Putsch die Elite auslöscht und sie als Königin des Landes einsetzt.

Ein Militärputsch als Revolution der Frauen

Schon als der Film in die Kinos kam, warf man den Autoren vor, deren Schweizbild sei veraltet, die Klischees seien zu dick aufgetragen. Diese Mängel hat Regisseur Cihan Inan mit seiner Bühnenversion, die der Filmhandlung in groben Zügen folgt, nicht beseitigt. Den lustigen SM-Szenen und Pointen zum Trotz: schweizerisch-behäbig wirkt diese Satire, zumal mit sentimentalen Einschüben beschwert. Die langsamen Szenenwechsel mit dem Bühnenlift bremsen das Tempo zusätzlich. Ernst gemeint sollen die Aussagen zur verbunkerten Schweiz sein, gleichzeitig zeigt man den Nationalbankdirektor im Mafia-Boss-Outfit: Wo sind wir hier?

 Beresina 2 560 AnnetteBoutellier uZuhälter-Anwalt mit Zugezogener vor Schweizer Kreuz: Luka Dimic als Dr. Alfred Waldvogel, Grazia Pergoletti als Bendetta Hösli © Annette Boutellier

Um die rigide Einbürgerungspolitik stärker in den Fokus zu nehmen, lässt Inan in einem Prolog die Italienerin Bendetta wie in einem Verhör im Scheinwerferlicht inquisitorisch ausfragen. Die Realität solcher Prozedere ist bekanntlich gelegentlich lachhafter und frappierender als dieses forcierte Stereotyp. Auch die aktuelle Genderdebatte sollte zum Zuge kommen. So prosten sich Irinas Kupplerin Charlotte und Irinas Zuhälter-Anwalt Waldvogel auf #MeToo zu, "solange die Kassen klingeln". Aber ohne Durchführung im Stück wirkt es aufgesetzt. Immerhin setzt Charlotte mit Dorothy Parkers "Hate Song" einen starken inhaltlichen Akzent, der die Männer als üble Kerle schildert. So sollen wir diese Gesellschaft also sehen. Die Logik gerät aber ins Stolpern, wenn der Putsch am Ende als Revolution der Frauen inszeniert wird. Soll man sie als Utopie werten? Ist Sturzeneggers Militaristen-Club einfach weg?

Das Hauptproblem des Films und der Aufführung bleibt Irina – und beide Male ist die Darstellerin nicht schuld. Wer ist sie? Was tut es ihr an, alte Säcke zu befriedigen? Filmregisseur Daniel Schmid half sich aus der Bredouille, indem er Yelena Panova märchenhaft als kindliches Engelwesen agieren ließ, an dem alles Äußerliche vorbei geht. In der Inszenierung von Cihan Inan zeigt Irina Wrona eine gutmütige, temperamentvolle Frau, die jedoch in Tränen der Verzweiflung und der Wut über dieses Land ausbrechen kann. Wie Wrona dann ein russisches Lied singt, kreuzfalsch in den Tönen, aber mit erfülltem Pathos, das wirkt erschütternd.

 

Beresina oder das Ende der Schweiz
Nach einem Drehbuch von Martin Suter für den Film von Daniel Schmid
Inszenierung und Bühnenfassung: Cihan Inan, Adaption Drehbuch: Michael Gmaj, Bühne: Manfred Loritz, Kostüme: Yvonne Forster, Musik: Nermin Tulic, Niklaus Vogel, Lichtgestaltung: Rolf Lehmann, Dramaturgie: Fadrina Arpagaus, Akkordeon: Nermin Tulic.
Mit Luca Dimic, Lorenz Nufer, Grazia Pergoletti, Milva Stark, Stefano Wenk, Jürg Wisbach, Irina Wrona, Statisterie Konzert Theater Bern.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, eine Pause

www.konzerttheaterbern.ch

 

Kritikenrundschau

"Cihan Inan ist ein Mann des Filmes. Nie war es sichtbarer als in dieser Filmadaption", schreibt Maximilian Pahl in der Neuen Zürcher Zeitung (22.10.2018). Aber er sei kein Mann der Komödie, und auch das Abstauben des Stoffes gelinge ihm nicht ganz. "Cihan Inan inszeniert ein Spiel mit den Fassaden", aber das  alles füge sich nicht organisch zusammen, "Utopie und Komödie beißen einander in den Schwanz".  Fazit: "Im aufgewirbelten Staub blitzen Ernst und Unernst auf, nur leider allzu unglücklich verteilt."

Grösstenteils folge Inan dem Drehbuch von Martin Suter und lasse es, mit wenigen Ergänzungen, recht bieder ab Blatt spielen, so Alfred Schlienger auf republik.ch (26.10.2018). Der "Hate Song" auf die Männer von Puffmutter Charlotte sei ein Glanzpunkt des Abends. Die anderen Hinzufügungen seien harmlos und aufgesetzt, die dreistöckige Bühnenkonstruktion von lähmender Langsamkeit.

 

Kommentare  
Beresina, Bern: NZZ Interview
Ein Link zu dem Interview in der NZZ mit Cihan Inan fehlt hier.
https://www.nzz.ch/feuilleton/cihan-inan-man-sollte-den-gesamten-literaturkanon-aus-frauenperspektive-lesen-ld.1428644

Es präsentiert sich ein Schauspieldirektor, der sich nicht für Klassiker interessiert, nicht erklären kann warum er sich mit Frauenthematik beschäftigt, stattdessen von "seiner" leitenden Dramaturgin spricht und vergessen hat, was er selbst auf den Spielplan gestellt hat, aus Tolstoi wird ein "Dostojewski-Projekt". (...)

(Eine generalisierende sowie insinuierende Passage wurde aus diesem Kommentar gestrichen, weil sie auf eine ungeprüfte Unterstellung hinauslief. Die Redaktion)
Beresina, Bern: Blog-Hinweis
"Die Stimme der Kritik für Bümpliz und die Welt" schreibt in ihrer Besprechung: "Nichts vom teatro povero der freien Szene. Das richtige politische Bewusstsein entfaltet sich hier im Goldportal, und der Abend mit dem Titel 'Beresina oder Die letzten Tage der Schweiz' wird zum staatstragenden Festspiel fürs rot-grüne Bern."
https://p4-r5-04088.page4.com/852.html
Beresina, Bern: Komödie unter Schlafmittel
Aber zumindest weiss Inan, dass das Dostojewski-Projekt von Tolstoi performativ ist... Claude Bühler hat leider recht, die #metoo und Frauenthematik bleibt aufgesetzt. Das Ganze kam mir vor wie eine Boulevard-Komödie unter Schlafmittel, die mit aktuellen kritischen Aspekten aufgewertet werden soll. Man kann nur hoffen, dass Cihan Inan in der Auswahl der Gastregisseure ein glücklicheres Händchen hat als mit seinen eigenen Regien und inhaltlichen Aussagen (seine Penthesilea war auch nicht besonders letzte Spielzeit, da hatte er noch nichts gegen Klassiker), sonst stehen Bern drei traurige Jahre bevor. Mann ohne Eigenschaften in Vidmar hat mich auch nicht überzeugt, viel zu viel technischer Aufwand mit Video und viel zu wenig Theater. Von dem hochstehenden künstlerischen Niveau, das bei seiner Vertragsverlängerung angekündigt wurde, war bisher wenig zu sehen. Kann ja noch kommen, wenn Zino Wey und Mizgin Bilmen inszenieren.
Beresina, Bern: chauvinistisch
Auch wenn vielleicht etwas anderes beabsichtigt war, auf mich wirkte der ganze Abend unfassbar chauvinistisch. Einschließlich dieser unsäglichen metoo Idee.
Beresina, Bern: Bern nun Theaterprovinz?
Nachdem der durchaus erfolgreiche Intendant Stephan Märki aufgrund einer privaten Liebesbeziehung innerhalb des eigenen Hauses zurücktreten musste, holte man Cihan Inan wieder als Schauspielchef zurück. Vor diesem etwas schmuddeligen Hintergrund war ich gespannt, was dieser mit "Beresina oder das Ende der Schweiz", eine Dramatisierung eines Films, zu leisten imstande ist.
Naja, kurz und gut: Man hatte den Eindruck, hier wäre ein Theater ästhetisch aus der Zeit gefallen. Es war, man verzeihe mir den Ausdruck, Provinztheater. So stellt man sich das Theater historisch vor(!) den 1960er Jahren vor.
Lieber Berner Kulturverantwortliche: Bitte seid doch etwas mutiger und engagiert jemanden, der im deutschsprachigen Gegenwartstheater halbwegs auf der Höhe der Zeit ist. Bern ist immerhin die Hauptstadt, kann sich ein erstklassiges Theater leisten und hat es sich als Hort der Demokratie verdient.
Beresina, Bern: Schweiz-Verengung
Es war eine vernünftige Entscheidung, Cihan Inan zu holen, damit Ruhe einkehrt. Und ausserdem hat der durchaus erfolgreiche Märki noch vor einem guten Jahr als grossen Coup präsentiert. Dass Inan als Regisseur kleine Brötchen backt war schon unter Märki zu sehen, jetzt geht es aber um Stabilität für das Ensemble, bis der neue Intendant kommt. Wirklich provinziell finde ich nur dass Inan die Schweiz-Verengung zum künstlerischen Programm erklärt und den gleichen Inländer-Vorrang ausruft wie die rechte Regierung. Im Bund sagt er, dass ihn die politische Inländer-Vorgabe gar nicht so stört, er will sowieso mit regionalen Kräften arbeiten. Keine Klassiker, überwiegend Schweizer Autoren und regionale Stoffe: Das ist für mich Provinz und politisch fragwürdig.
Beresina, Bern: Link
www.republik.ch/2018/10/26/realposse-und-politsatire
Kommentar schreiben