Hau den Johannes

von Martin Thomas Pesl

Wien, 25. Oktober 2018. Freude: Die Hunde sind wieder da!, denkt man. Und dann: Ach nein, falsche Gruppe. Und doch schließt sich irgendwie ein Kreis, als einen am Eingang zur Buschenschank St. Peter, die heute "Das Dorf" St. Peter am Dachstein im Jahre 1964 ist, ein Mann auf vier Beinen im Hundeanzug beschnuppert. Mit der immersiven Performance Wir Hunde war das Kollektiv SIGNA 2016 in Wien bekannt geworden, seither verbucht das Feuilleton "Nesterval" als die verspieltere SIGNA-Variante. Mit oft 30 und mehr Darsteller*innen organisiert die Wiener Kompagnie Schnitzeljagden und Stadtabenteuer, gerne auch im Firmenauftrag.

Mit Theater hatte das lange nicht mehr zu tun als ein "Dinner & Crime"-Event. Mittlerweile jedoch strebt das Kernteam, dessen Mitglieder sich Herr Finnland, Frau Löfberg und Herr Walanka nennen, nach künstlerischem Anspruch. Im Vorjahr tat man sich erstmals mit brut Wien zusammen und entwickelte das Stück "Nesterval's Dirty Faust", eine dionysisch-queere Hommage an den Film "Dirty Dancing" inklusive menschgewordener Melone und Faust'scher Hexenküche. Als Vorlagen für "Das Dorf" dienen nun Marie von Ebner-Eschenbachs Erzählung "Krambambuli" (1883) und das (heute vor lauter Pathos praktisch unlesbare) Drama "Anna Liisa" der finnischen Frühfeministin Minna Canth (1844–1896).

Nesterval Das Dorf2 560 Alexandra Thompson uDer schönste Platz ist immer an der Theke © Alexandra Thompson

Beide Stoffe verbindet der bedrückende Konservativismus des Dorflebens, dessen Atmosphäre sich hier in der Wirtsstube, auf dem spärlich beleuchteten Friedhof, in einer Kapelle und liebevoll altmodisch ausgestatteten Hütten erstaunlich gut vermittelt. Die Spieler*innen tragen Tracht, aber in Schwarz, vollführen freudlose Rituale und sakrale Tänze, grüßen mit "Hau" und geben sich beinhart humorbefreit. Das erst junge Filmgenre des Alpenwesterns à la "Das finstere Tal" findet seine würdige theatrale Entsprechung. Ähnlich wie bei SIGNA folgt man intuitiv den Charakteren in diverse Räume und erlebt so Teile der Haupthandlung intensiv mit, andere dafür gar nicht.

Besagte Handlung folgt ziemlich werkgetreu Canths Stück, nur von hinten nach vorne: Das Publikum ist eigentlich zur Hochzeit von Anna Lisa (Claudia Six) und Johannes (Lino Ortu) angereist und wird entweder der Braut- oder der Bräutigamseite zugewiesen. Zugleich erfährt man, Anna Lisa sei tot und es gebe jetzt einen Leichenschmaus. Der Bräutigam sei fort, und gut so, er sei eh ein "Dosiger" gewesen (womit hier eben gerade kein Einheimischer, sondern ein Fremder gemeint ist). In sieben Kapiteln reist man je einen Tag zurück und rollt den Hergang des Unglücks auf: Der Knecht Mikko (Stefanie Sourial) ist nämlich vor einer Woche mit seiner Mutter (Willy Mutzenpacher) ins Dorf zurückgekehrt und beansprucht die Braut für sich. Einst gebar sie sein Kind und tötete es, nun droht Mikko, alles zu verraten, wenn sie nicht ihn an Johannes' Stelle heiratet.

Nesterval Das Dorf3 560 Alexandra Thompson uDie Dorfgemeinschaft lädt zum Leichenschmaus © Alexandra Thompson

Dass sich in dieser Rivalität zusätzlich jene um den Hund Krambambuli spiegelt, wird den literarischen Vorlagen so verblüffend gerecht wie es aussagekräftig ist: Hund und Frau gelten gleichermaßen selbstverständlich als Ware. Bei allem Abenteuer, das das Umherziehen durchs Dorf und das Interagieren mit seinen zahlreichen Figuren immer noch bieten, lauert da Tieferes. Wenn es am Ende heißt: "Vergesst nicht die Geschichten der Vergangenheit, damit sie nicht Gegenwart werden", ist das in Zeiten wie diesen durchaus ernst zu nehmen.

Überhaupt beeindruckt, wie bei Nesterval jetzt Schluss mit lustig ist, notfalls auf Kosten der Stammklientel. Ehrgeizige Gamer*innen, die bei "Dirty Faust" noch mit plumpem Miss-Marple-tum die poetischsten Szenen kaputtmachen konnten, werden etwa von Laura Hermann als Dorfbewohnerin Ehrentraud erbarmungslos zur Schnecke gemacht, wenn sie sie anfangs in ihrem berührenden Trauermoment um Anna Lisa stören. Lino Ortu weist einem Zuschauer gar die Tür, weil er es wagte, über den sehr zutraulichen und abschleckfreudigen Krambambuli (gespielt von Herrn Finnland selbst) zu lachen. Ein mutiger Schritt, den sich Nesterval aber leisten kann: Alle Vorstellungen von "Das Dorf" sind seit Wochen ausverkauft.

Achtung: Spoiler!

Eine Spielebene gibt es durchaus, die sich aber schön organisch ins Geschehen fügt: Immer wieder kann es passieren, dass man eine Aufgabe gestellt bekommt, deren Erfüllung mit Murmeln belohnt wird. Am Ende sorgt das sogar für eine bittere Pointe: Unter anderem gewinnt nämlich jenes Team, das sich am meisten dazu anstacheln ließ, Johannes, den Fremden, zu schikanieren. Das schmerzt. So ist Nesterval sich treu geblieben und trotzdem im Theater angekommen.

 

Das Dorf
von Nesterval
Immersives Theaterabenteuer
Konzept und Regie: Herr Finnland, Buch: Frau Löfberg, Choreografie: Veza Fernández, Sounddesign: Alkis Vlasakakis, Bühne: Andrea Konrad, Herbert Mayer, Kostüme: Marlena Gubo.
Mit: Denice Bourbon, Lucca Feder, Herr Finnland, Julia Fuchs, Laura Hermann, Romy Hrubeš, Frau Löfberg, Willy Mutzenpachner, Lino Ortu, Pamina Puls, Johannes Scheutz, Claudia Six, Stefanie Sourial, Lorenz Tröbinger, Alkis Vlassakakis, Herr Walanka, Sophie Wegleitner, Anne Wieben, Christopher Wurmdobler.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.brut-wien.at
www.nesterval.at

 

Kritikenrundschau

Nesterval habe eine bewährt abgründige Geschichte zusammengesetzt, deren Kausalitäten das Publikum wie üblich selbst erforschen müsse. "Mitmachtheater, hier funktioniert es", schreibt Margarete Affenzeller vom Standard (27.10.2018). "Der Grundkonflikt von 'Das Dorf', die Ablehnung von Zugezogenen, macht die tief verwurzelte xenophobische Haltung der Bevölkerung zum Thema." Und weiter: "Dass das Dorf eine prononciert sture Gemeinschaft ist, wirkt ein wenig kindisch, ist aber notwendig, damit die Provokation funktioniert."  Die Devise laute: "Spielen als Erprobung des echten Lebens."

Im Wiener Stadtmagazin Falter (44/2018) schreibt Theresa Luise Gindlstraßer: "'Das Dorf' ist in den österreichischen Bergen, in einer 'hiesigen Enge' situiert. Ausstattung (Herr Walanka) und Dialekt (Skript von Frau Löfberg) kommen hin, wegen solcher Atmosphären sind wir doch alle irgendwann nach Wien gezogen. Xenophobie inklusive."

 

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