Müllmann des Internets

von André Mumot

30. Oktober 2018. Sein Theater beginnt in der Nacht, das erfahren wir gleich auf den ersten Seiten. Falk Richter grübelt bei künstlichem Licht. Er denkt. Schaut sich Videos auf Youtube an und liest die Kommentare darunter, nimmt digitale Tuchfühlung auf mit einer aggressiven, feindselig gestimmten Wirklichkeit und beginnt sich hineinzusteigern in all das, was sich dort aufbäumt und brüllt und wettert.

In solchen Momenten fühlt er sich erinnert an "eines der bekanntesten deutschen Dramen und seinen Titelhelden, der am Anfang der Tragödie Fragen stellt, auf die er keine Antworten findet, und der sich dann auf eine Reise begibt, die ihm mehr offenbart, als er sich am Ausgangspunkt seiner rauschhaften Nacht in seinem engen Studierzimmer hätte erträumen lassen".

DisconnectedWütender Protestkarneval

Ist Richter ein Faust des Gegenwartstheaters, ein verzweifelter Metaphysiker auf der Suche nach den letzten Wahrheiten der menschlichen Existenz? In jedem Fall ist er, laut Kritikerumfrage der "Theater heute", Regisseur des Jahres 2018, hat mit der Hamburger Inszenierung von Elfriede Jelineks "Am Königsweg" das Stück des Jahres uraufgeführt und sich ihren großmäandernden Text dabei ganz zueigen gemacht, zu einem wildwütenden, schrill schreienden Anti-Trump-Protestkarneval. In "Disconnected", soeben erschienen im Alexander Verlag Berlin, wird diese Arbeit nicht erwähnt, schließlich enthält der 180 Seiten umfassende Band Richters (hier teils online dokumentierte) Saarbrücker Poetikdozentur für Dramatik, drei umfangreiche Vorträge, die Richter bereits im Januar 2016 gehalten hat, als das Jelinek-Projekt noch nicht in Reichweite war: In ihnen erklärt er, wie er arbeitet, mehr aber noch referiert er, was er beobachtet da draußen, was ihn anstößt, was ihn wütend macht. Schreibt von der AfD, von Homo-Hassern, vom Widerstand.

Gewechselte Tonlage

Falk Richters Theater ist immer und vor allem Reaktion auf gesellschaftliche Missstände, die es aufsaugt, an denen es sich waidwund reibt, die es nötig hat, um zu ästhetischen Ideen und wütenden Gegenreden zu finden. Früher, in den sanfteren, weicheren Arbeiten, die hier ebenfalls ausführlich zur Sprache kommen, waren es die Prinzipien der Leistungsgesellschaft, die Optimierungsdiktate des Kapitalismus und seine Auswirkungen auf Arbeitsprozesse und zwischenmenschliche Beziehungen der "hyperflexiblen Menschen". Mit "Small Town Boy" (2014) und umso eindringlicher mit "Fear" (2015) hat er die Tonlage gewechselt und das Sujet gefunden, das ihn nicht mehr loslässt: der Aufstieg der neurechten Ideologen. "Ich sehe mich immer auch als Chronist meiner Zeit und frage: Wie verschiebt sich gerade in unserer Gesellschaft die Art zu denken, zu fühlen, zu kommunizieren?"

Niemand, der mal einen Falk-Richter-Abend gesehen hat, wird überrascht sein von Sätzen wie: "Ich verstehe mein Schreiben auch immer wieder als Angebot zum Dialog mit anderen Künstler*innen und Kunstformen." Oder: "In den letzten Jahren schreibe ich vor allem Materialsammlungen, die ich dann als Ausgangspunkt für meine Inszenierungen nehme." Richter arbeitet mit Tänzer*innen zusammen, hat wichtige Abende mit der Choreografin Anouk van Dijk entwickelt, verwandelt Kommunikationsstörungen in expressive Bewegungsstürme und lässt seine Schauspiele*rinnen ihre eigene Persönlichkeit, ja, ihre eigenen Biographien einbringen. "Ich bin der Autor, der Initiator. Ich komme mit den ersten Ideen. Ich bringe die Leute zusammen. Ich stelle die Fragen, höre zu, schreibe mit. Ich lege meine ersten Notizen vor. Ich werfe Ideen in die Runde. Es wird geredet, improvisiert, ein Tänzer steht auf und macht etwas, nachdem er mir zwei Stunden lang zugehört hat, z. B. wie ich über den Körper im Widerstand rede."

Kassandrisches Insistieren

Viel Kollektiv, viel ich. Noch mehr Wiederholungen. Aber ums wie geht es ohnehin nicht wirklich, eher ums warum. "Disconnected" (Untertitel: "Theater Tanz Politik") dokumentiert ein Selbstverständnis des Künstlers als politischer Widerspruchs-Instanz: "Theater kann in die Realität wirken", davon ist Richter offenkundig überzeugt. Und genau hier liegt die größte Bedeutung seiner Stückentwicklungen. Es ist das kassandrische Insistieren, sein entgeistertes, fassungslosen Rufen von dem, was in unserer Gesellschaft passiert, wie sich unsere Demokratie rechten Hetzern in die Arme wirft. In der letzten der drei Vorlesungen schildert er dann auch noch einmal ausführlich, was ihn dazu gebracht "Fear" zu konzipieren und wie es zu den abgewiesenen Klagen, den Zensurversuchen durch Rechtspopulisten wie Beatrix von Storch gekommen ist, wie er Hassmails und Morddrohungen erhalten hat.

Dabei sind seine neuesten Arbeiten keine pädagogischen, nicht einmal besonders aufklärerische Inszenierungen. Es sind, wie auch der "Disconnected"-Band, Selbstversicherungen derjenigen, die bereits sehr genau wissen, woher das Unheil droht. Ihre Aufgabe ist klar. Die Vorlesungen ebenso wie die Stücke stecken das Theater emphatisch ab als notwendigen Gegenraum: "Gesellschaftliche Vielfalt, diversifizierte Lebensentwürfe sind gelebte Realität. Das Theater kann von ihnen erzählen, ihnen einen Raum, eine Bühne, einen Rahmen geben und die Angst vor ihnen auflösen durch Begegnung, Erfahrung, Austausch, Empathie."

Gegen die Drecksgedankenzombies

Richters Theater trägt sein Herz auf der Zunge, ebenso seine Überzeugungen, seine Wut und bisweilen, in seinen besten Momenten, auch seine eigene Verunsicherung und Überforderung. Es brüllt und tanzt und albert all das heraus bis zur Erschöpfung. Seine Theaterabende sind beinahe vollständig transparent und gerade deshalb so zeitgenössisch, so erfolgreich, so notwendig. Die nun veröffentlichten, mit zahlreichen Stück-Ausschnitten gespickten Vorlesungen dagegen sind für Außenstehende eine trockene, wenig mitreißende Angelegenheit und enthalten keine Überraschungen.

Erst ganz am Schluss münden sie in einer intimen poetischen Selbstbetrachtung, die zurückführt in die rauschhaften Nächte der ersten Erregungen. Der Autor hat Angst um seine Seele, bezeichnet sich und seine Mistreiter als "Müllmänner des Internets und des öffentlichen Raums", die "jeden widerlichen Drecksgedankenzombie mit unglaublich aufwändigen Gegenargumenten und sehr viel Geduld und Ruhe einzeln entsorgen müssen".

Es ist spät geworden. Faust Richter ist wütend, immer noch, mehr denn je, sagt: "Ich muss jetzt raus aus dieser Wohnung, weg von diesem Computer." Gut so. Der Weg wird zum Theater führen. Es ruft nach ihm und seiner Wut.

Disconnected. Theater Tanz Politik
von Falk Richter
Mit einem Nachwort versehen und herausgegeben von Johannes Birgfeld
Alexander Verlag Berlin, 180 Seiten, 16 Euro

 

Kommentare  
Buchkritik Disconnected: Entsorgung?
Die "Drecksgedankenzombies" also, die Falk Richter "entsorgen" will. Nanu? Entsorgen? Ist das denn eine Lösung? Ich habe mal gelesen, dass ein Mensch, der nur auf andere reagiert, keine Beziehung aufbaut und sich so die Chance nimmt, vor allem sich selbst in Beziehung zu anderen weiterzuentwickeln. Denn "die anderen" kann man wohl manchmal einfach nicht verändern, sich selbst aber schon. Und darum geht es.
Buchkritik Disconnected: optisches Desaster
Toll geschriebene Rezension und sicher auch ein interessantes Buch. Nur unverständlich, warum es in so ein häßliches Cover gesteckt wurde - das wie ein verunglückter Versuch wirkt, das Corporate Design der FDP zu immitieren. Das optische Desaster turnt schon ab, die Rezension bei der Nachtkritik hier überhaupt anzuklicken.
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