Aufrechter mit Tendenz zum Bockigsein

von Wolfgang Behrens

15. Juli 2008. Zum ersten Mal habe ich Fritz Marquardt 1990 in Frankfurt am Main gesehen. Marquardts Inszenierung "Germania Tod in Berlin" vom Berliner Ensemble war zu der Heiner-Müller-Werkschau "Experimenta 6" eingeladen worden, und an einem Sonntagnachmittag fand eine dieser meist so fruchtlosen Publikumsdiskussionen statt. Diese jedoch sollte sich einprägen.

Fritz Marquardt wirkte in der Stadt der Finanzen und des Kapitals allein schon durch sein Äußeres fremd und seltsam: Ein kleiner, drahtiger, zäher Bursche mit proletarischer Mütze über den unbeschreiblich buschigen Augenbrauen – markantestes Merkmal in einem überaus markanten, von Lebens- und Arbeitsstürmen gegerbten Gesicht. Ich hätte diesen Mann eher auf einer russischen Kolchose denn in einem westdeutschen Theaterfoyer im Schatten der Bankentürme vermutet.

Und plötzlich explodierte dieser Mensch: Er tobte, er schrie, er hieb wild auf den Tisch ein. Heiner Müller hatte nämlich bei der Podiumsdiskussion erklärt, dass er nie ein DDR-Schriftsteller gewesen sei – und das war für Marquardt eine faustdicke Lüge, ein Verrat.

Später erzählte er: "Ich wusste natürlich, was Müller meinte: dass er nie ein vom Staat ausgehaltener Schreiber gewesen sei. Aber er konnte doch nicht behaupten, wir hätten alle mit dem Land DDR im Grunde gar nichts zu tun gehabt."

DDR als Arbeitsbedingung

Ich weiß nicht, ob ich Marquardt damals richtig verstanden habe: Es konnte der Eindruck entstehen, dass hier einer lautstark die DDR, einen gerade aus guten Gründen untergehenden Staat, verteidigte. Doch Marquardt ging es um etwas anderes: Er verabscheute es, dass man angesichts einer neuen historischen Situation seine Biographie verbog. Die DDR war für ihn wie für Müller eine Arbeitsbedingung gewesen, im Guten wie im Bösen – und dazu galt es zu stehen.

Spricht man mit Menschen, die mit ihm gearbeitet haben, dann begreift man bald, was für eine singuläre Erscheinung Marquardt war und ist: Einer, der nicht wegging (wie Palitzsch, wie Schleef, Dresen, Tragelehn oder Gosch), aber auch einer, der immer integer und in seiner Arbeit kompromisslos bis zur offenen Kampfansage blieb. "Ich hatte immer eine Tendenz zum harten Bockigsein", lautet eine treffende Selbstcharakterisierung Marquardts.

Lebenswege

So singulär der Mann, so einzigartig die Biographie. Worüber Heiner Müller oder Peter Hacks in ihren Produktionsstücken bloß schrieben, das hat Fritz Marquardt selbst erlebt. 1928 auf einem Gutshof im Warthebruch geboren, 1945 als Zivilgefangener nach Sibirien verschleppt, nach seiner Rückkunft zwei Jahre lang Neubauer, dann Studium an der Arbeiter- und Bauernfakultät und schließlich Philosophie-Diplom in Berlin bei Wolfgang Heise.

Der Diplom-Student jedoch hat Schwierigkeiten mit der starren Terminologie des Marxismus-Leninismus, bekommt reichlich Ärger und landet schließlich Ende der 50er Jahre aus freien Stücken auf einer Großbaustelle im Erdölkombinat Schwedt – sicherlich nicht der klassische Weg, Theaterregisseur zu werden.

Ein Zufall führt Marquardt in die Redaktionsstube der Zeitschrift "Theater der Zeit". Von hier aus startet seine Theaterkarriere: Marquardt wird Archivar an der Volksbühne, dann Dramaturg am Landestheater Parchim, wo er einen "Woyzeck" inszeniert (mit Jürgen Gosch als Doktor!), dessen expressive, nicht realistische Darstellungsweise für einige Verstörungen und seine Entlassung sorgt.

Als Dozent für Szenenstudium an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg wiederholt Marquardt diesen "Woyzeck". Die Aufführung wird nach einer einzigen Vorstellung abgesetzt, sie ebnet ihm aber den Weg an die Volksbühne von Benno Besson.

Dort erlebt Fritz Marquardt in den 70er Jahren seine größte Zeit: Die Uraufführungen von Müllers "Die Bauern" und "Der Bau", Molières "Menschenhasser" werden Marksteine der Theatergeschichte.

Mitte der 80er Jahre wechselt er ans Berliner Ensemble, dessen Leitung er nach der Wende gemeinsam mit Heiner Müller und Peter Zadek übernimmt: Für Marquardt wird diese neue Aufgabe zu einer quälenden Erfahrung des Scheiterns. Nach einigen schwächeren Inszenierungen gelingt ihm jedoch 1995 mit Ibsens "Eyolf" eine letzte große Arbeit. Seitdem ist der Regisseur Fritz Marquardt stumm geblieben und lebt zurückgezogen in der Uckermark.

Schauspieler-Bildhauer

So sehr Marquardt die Dinge, von denen sein Theater handelt, am eigenen Leib erfahren hat, so wenig war er daran interessiert, sie naturalistisch abzubilden. Heiner Müller schrieb, er gehe "mit seinen Schauspielern um wie ein Bildhauer mit seinem Material, Gips Stein oder Bronze."

Als vor drei Tagen an Frank Castorfs Volksbühne der Geburtstag Marquardts im Kreise vieler, vieler Weggefährten vorgefeiert wurde, steuerte die Maskenbildnerin der "Bauern"-Produktion von 1976 eine Anekdote bei, die Marquardts Abneigung gegen puren Naturalismus auf den Punkt bringt: Sie sollte, so erzählt die Maskenbildnerin, ein Pferd, ein echtes Pferd schminken. Also wurde das Tier zurecht gemacht, mit bunten Haaren behängt und was noch alles. Nach all diesen aufwändigen Zurichtungen brummelte Marquardt: "Ach verdammt, das sieht ja immer noch aus wie ein Pferd!"

Heute wird Fritz Marquardt 80 Jahre alt. Frank Castorf sagt, dass er nun endlich so alt sei, wie er schon immer aussah. Marquardt hat sich nicht verbiegen lassen. Und er hat seine eigene Biographie – ganz so, wie er es 1990 bei jener Publikumsdiskussion so hitzig und lärmend forderte – nie zurechtgebogen. Da kann man schon einmal alt aussehen.

Anfang August erscheint im Verlag Theater der Zeit das Buch "Fritz Marquardt. Wahrhaftigkeit und Zorn", hrsg. von Michael Laages und Wolfgang Behrens.

 

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