Sechs Personen suchen einen "Faust"

von Falk Schreiber

Rendsburg, 26. Oktober 2018. "Von Zeit zu Zeit seh’ ich den Alten gern." Dieses Vorspiel im Himmel hat alles, was ein ordentlicher "Faust" braucht: Pathos. Ironie. Goethe-Text. Und zwei Schauspieler, die aussehen wie Will Quadflieg und Gustaf Gründgens. Bloß irritierend, dass die beiden nur als Videoeinspielung zu sehen sind. Und der Text ist zwar original Goethe, aber die Lippen der Darsteller bewegen sich nicht. Nein, einen ordentlichen "Faust" gibt es an diesem Abend in den Rendsburger Kammerspielen nicht.

Humor mit Haut und Haar

Auftritt Ensemble. Freundliche Vorstellung: "Hallo, ich bin's, Faust, und ich freue mich sehr darauf, heute den Faust zu spielen", lächelt Meike Schmidt. Applaus. "In meinem 'Faust' geht es um Liebe. Es geht um große Gefühle, um Triebe, um Sex", tut Christian Hellrigl wichtig. Kichern. "Tach. In meinem 'Faust' geht’s um so 'ne Wette zwischen Gott und Mephisto", schnoddert Timon Schlehek. Gemurmel. Sechs Personen suchen einen "Faust": Regisseurin Anna-Elisabeth Frick hinterfragt Goethes "Faust" radikal – warum nicht, niemand braucht die x-te Regietheaterinszenierung des deutschen Nationaldramas, und wenn sich in "Faust" tatsächlich drängende Fragen verstecken, Gottsuche, Lebenssinn, Altherrensexismus, dann ist es wirklich eine originelle Idee, diese Fragen auch mal direkt zu stellen. Was den Abend freilich zu einer Art dramatisiertem Konzeptionsgespräch werden lässt, aber immerhin: Dieses Konzeptionsgespräch macht weitgehend großen Spaß.

faust2 560 HenrikMatzen uSuper-Faust aus Schleswig-Holstein © Henrik Matzen

Auf der Bühne ist dieser "Faust" vor allem ein Ausprobieren einzelner Szenen. Mal tänzerisch, mal mit gnadenlosem Overacting, streckenweise ganz grauenvoll, aber das ist ja nur ein Versuch, nicht ernst gemeint, und was wirklich wichtig ist, wird vom Schminktisch aus reingerufen. Ansonsten darf jeder, darf jede mal Faust sein, und damit man diese Rollenverteilung versteht, trägt er beziehungsweise sie dann einen zum Gotterbarmen hässlichen Strickpullover mit der Aufschrift "FST". Von dem es zwei Exemplare gibt – der eher schmal gebaute Nenad Subat bekommt einen viel zu weiten, der bullige Schlehek einen sehr eng geschnittenen. Was einiges über das Humorniveau des Abends sagt. Andererseits funktioniert auch solch ein abgedroschener Witz zuverlässig, was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass die Schauspielerinnen und Schauspieler sich mit Haut und Haaren auf ihn einlassen.

Konsequent auf links gedreht

Am deutlichsten wird das an der dritten Ebene, die bei Goethe als "Vorspiel auf dem Theater" läuft und bei Frick augenrollende Dramaturgenparodie ist, mit Überbiss und Glasbausteinbrille. Ist billig, geht hier aber durch, weil Meike Schmidt und Katrin Schlomm sich an keiner Stelle zu schade sind, richtig doof und damit eben auch richtig toll zu übergeigen. Inhaltlich provoziert diese Bereitschaft zum Knaller allerdings mehr Lacher als Diskurs – wenn Christian Hellrigl als Faust sich zum Beispiel ein "Mädchen geknetet und zugericht" imaginiert, dann ist das übler Sexismus, über den man sich ein Nachdenken gewünscht hätte, das nicht weggeschwemmt wäre von der eigenen Begeisterung, ein kanonisches Stück auf links gedreht zu haben. Gleichwohl wird hier eben auch wirklich konsequent auf links gedreht, und auch wenn einzelne Zuschauer murrend den Saal verlassen – die Mehrheit des Rendsburger Publikums lässt sich darauf ein.

faust1 560 HenrikMatzen uRendsburg guckt auf Goethes Gretchen © Henrik Matzen

Regisseurin Frick, Absolventin der Theaterakademie Baden-Württemberg und Preisträgerin beim Körber Studio Junge Regie 2016, inszeniert erstmals am Schleswig-Holsteinischen Landestheater. Die Premiere fand statt in Rendsburg; weil aber das Landestheater die kulturelle Grundversorgung für das gesamte Bundesland sicherstellt, ist die Inszenierung nicht auf den knapp 30.000 Einwohner zählenden Verkehrsknoten am Nord-Ostsee-Kanal beschränkt. Der Abend muss genauso im Schleswiger Slesvighuis, im Stadttheater Flensburg und auf Abstechern von Itzehoe bis Niebüll funktionieren, und vor diesem Hintergrund kann man nur den Hut ziehen vor dem Mut, hier solch eine pointierte Regieposition zuzulassen. Dass Fricks Arbeit am Ende leichter daherkommt als angestrebt, dass Vieles weniger echtes Nachdenken ist als Verjuxung, dass man sich einige Stellen feiner gearbeitet wünscht – geschenkt. "Von Zeit zu Zeit seh' ich den Alten gern", aber einen "Faust" so querköpfig neu zu lesen, das hat auch was.

 

Faust
Nach Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Anna-Elisabeth Frick, Ausstattung: Christian Blechschmidt, Dramaturgie: André Becker.
Mit: Neele Frederike Maak, Katrin Schlomm, Meike Schmidt, Christian Hellrigl, Timon Schleheck, Nenad Subat.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.sh-landestheater.de

 

Kritikenrundschau

Die Spielszenen "eilen rasant durch das komplexe Stück, stellen in gewagten Verkürzungen spannende Textverknüpfungen her und zeigen unverhoffte Verbindungslinien auf", schreibt Sabine Tholund in den Kieler Nachrichten (online 27.10.2018). Sechs Schauspieler zeigen in knappen Szenen, beleuchten die Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven, die Bühne gleiche einer Requisitenkammer, "Garderobenständer, Globus und Skelett warten hier auf ihren Einsatz". "Intelligent, witzig und berührend ist diese Inszenierung, die den Originaltext mit Goethe-Zitaten und reiner Fiktion munter verquirlt."

 

Kommentare  
Faust, Rendsburg: ironisierter Superman
Faust I frei nach J.W. v. Goethe
Anna-Elisabeth Frick inszeniert Goethes Faust als Fausts „Little Shop of Horror“ oder nicht Shakespeares sämtliche Werke in 90 Minuten sondernd Faust I in 80 Minuten. Es ist eine Collage aus Goethes Fausttexten, die aus heutiger Sicht spielerisch assoziiert werden. So erwartet den Zuschauer*in eine Art Nummernrevue mit überwiegend originalen Fausttexten. Sechs Schauspieler*innen (Neele Frederike Maak, Katrin Schlomm, Meike Schmidt, Christian Hellrigl, Timon Schleheck und Nenad Subat) skizieren ihr heutiges Verständnis zu Goethes Faust mit unendlicher Spiellaune, Humor, Witz und Ironie. Diese 6 Akteure benennen zu Beginn des Abends ihr Interesse an Goethes Faust, wie z. B.: die Sprache, das Alter, die Gier, den Sex, die Unzulänglichkeit und die Gottesähnlichkeit. Gespielt wird auf einer Bühne in deren Mittelpunkt eine Bühne mit 6 Vorhängen steht, die die 6 Sichtweisen des Fausts repräsentieren (Bühne und Kostüme: Christian Blechschmidt). Rechts und links am Bühnenhimmel beobachten Gott und Mephisto von Monitoren aus das Bühnengeschehen mit Aufmerksamkeit oder Langeweile und Reclam Ausgaben des Fausts in Händen. An den Bühnenrändern Unmengen von Requisiten und Kostümen, die später ins Spiel einfließen. Alle Schauspieler*innen sind den gesamten Abend auf der Bühne. Sofern sie nicht direkt am Spiel beteiligt sind, sitzen sie auf Stühlen an der Bühnenrückwand. Jeder der Schauspieler*innen, der seine Sichtweise des Fausts spielerisch darstellt, kleidet sich in einen blauen Wollpullover mit den roten Initialen FST (Parallele zum Supermannkostüm) - Faust als ironisierter Supermann. Der erste Darsteller beginnt pedantisch mit der Vorbereitung seiner Szene, um dann akribisch seinen Monolog „Habe nun, ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie! Durchaus studiert, mit heißem Bemühn. …“ mit viel Empathie und reichlich Emotion - Comedy-like - zu präsentieren. Dann erscheinen zwischen den 6 Szenen jeweils Goethe und die Intellektuelle, die mit fantastischer Komödiantik „den Faust“ vom Sockel der andächtigen Erhabenheit holen, absolute schauspielerische Glanzpunkte dieser Inszenierung. In der nächsten Szene geht es ums Alter, dass man konsequent mit dem heutigen Jugend- und Schönheitswahn auflädt, einer Flucht vor dem Alter, der Zukunft, die Unbekanntes bringt. Nächste Station die Gier, perfekt verkörpert durch unersättlichen Konsumwahn. Gefolgt von Sex (and Crime): Die Faust und Gretchen-Szene als Ausübung männlicher Gewalt über die Frau und in unserer Realität leider auch die abscheuliche, sexuelle Übergriffigkeit von Erwachsenen an Kindern. Die Unzulänglichkeit, verkörpert durch den Versuch „My Way“ das Leben zu gestalten, was wenn es vom Mainstream abweicht immer stigmatisiert wird und die persönliche Entfaltung, das Bunt-Sein, verhindert. Den Schlusspunkt setzt das Streben nach Unfehlbarkeit und Gottähnlichkeit, verkörpert durch die Perfektion körperlicher Grazie einer Balletttänzerin, kommentiert mit Fausttexten aus dem Off „…. Ich, Ebenbild der Gottheit! Ich bin's, Faust, bin deinesgleichen!“ Ein bunter, fantastischer Faustabend mit Fun und Ironie, der Goethes Faust vom Sockel holt und dadurch eine aktuelle Sicht auf diesen Stoff wirft und zeigt, wie viel von diesem Stoff in unserem Heute existent ist. Hoffen wir das Mephisto recht behält - „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ - auch wenn das Bild unserer heutigen Zeit düster ist. Für diesen Faust gilt „Verweile doch! Du bist so schön!“
Faust, Rendsburg: Zustand
„...niemand braucht die x-te Regietheater-Inszenierung des deutschen Nationaldramas.“
Wenn ein Kritiker mit dieser Voreingenommenheit in eine Produktion geht, sagt das sehr viel über den Zustand des deutschen Feuilletons aus.
Das wird nicht nur in dieser Rezension kenntlich.
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